Warum das wichtig ist: Im Europa des 18. Jahrhunderts nimmt Anton Wilhelm Amo als erster schwarzer Philosoph eine besondere Stellung ein. Sein Denken wendet sich gegen jede einseitige Ideologie und schafft Räume für einen Dialog zwischen Kulturen und Perspektiven. Auch im Zuge der Black Lives Matters-Bewegung wird es höchste Zeit, Denker:innen wie ihn (wiederzu-)entdecken.
Es ist bekannt, dass Immanuel Kant auf seinen Reisen über eine Entfernung von etwa dreißig Kilometern von seinem geliebten Königsberg am Pregelflusse nicht hinaus kam. Andere Philosophen der europäischen Aufklärung wie Voltaire kamen zumindest bis Potsdam oder an den Genfer See, Jean-Jacques Rousseau erreichte von seiner Geburtsstadt Genf aus Oberitalien, das Val de Travers und selbstverständlich Paris. Denis Diderot gelang gar an den russischen Hof Katharinas II. Rousseau verstand als einziger das Dilemma, in welchem die europäische Aufklärungsphilosophie mit ihrem Universalitätsanspruch steckte, und forderte in seinem zweiten Discours über die Ungleichheit unter den Menschen, es möge endlich Philosophen geben, welche die Welt auch außerhalb Europas bereisen sollten (Rosseau, 1975). Doch wo waren diese Philosoph:innen zu finden?
Der Niederländer Cornelius de Pauw schrieb in Xanten und am preußischen Hof über die Ägypter, die indigene Bevölkerung in Amerika oder die Chinesen, ohne mehr gereist zu sein als der Franzose Guillaume-Thomas Raynal, der eine Kolonialenzyklopädie der ganzen Welt verfasste, ohne doch mehr als den Süden des französischen Zentralmassivs und Paris zu kennen. Einzig in der in Europa noch immer sträflich vernachlässigten außereuropäischen Aufklärung lassen sich etwa in Neuspanien, dem heutigen Mexiko, mitunter große Philosophen finden, die wie Francisco Javier Clavijero oder Fray Servando Teresa de Mier beide Seiten des Atlantiks kannten.
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Denker zweier Welten
Nicht allein vor diesem Hintergrund ist die Aufklärungsphilosophie eines Anton Wilhelm Amo außergewöhnlich. Auch wenn sie nie zu ihrer vollen Entfaltung gelangte, weil Rassismus und universitäre Regelspiele zu ihrem unvermittelten Abbrechen beitrugen, so fasziniert sie doch durch ihre vielsprachige Anlage und ihre Weltoffenheit. Als sich der angehende Student am 9. Juni des Jahres 1727 unter der Nummer 488 in die Matrikel der damals noch preußischen Universität Halle einschrieb, trug er fein säuberlich seinen vollen Namen Anton Wilhelm Amo ein, der die Vornamen seiner “Besitzer” und Gönner, der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel, enthielt. Gegen Ende seiner Studienzeit setzte er dem latinisierten Namen Antonius Guilielmus Amo die Bezeichnungen »Afer« (Afrikaner) beziehungsweise »Guinea Afer« hinzu. Ebenso bewusst wie selbstbewusst machte der junge Schwarze auf seine afrikanische Herkunft im Preußen der Frühaufklärung aufmerksam.
Denn Amo erblickte zwischen 1700 und 1703 bei Axim im heutigen Ghana das Licht der Welt und wurde als Sklave von der niederländischen Westindischen Compagnie nach Europa verschleppt (Ette, 2020). Amos älterer Bruder scheint als Sklave in die Plantagen der niederländischen Kolonie Suriname deportiert worden zu sein, er selbst aber wurde an lukrative Geschäftspartner in Europa verschenkt, ein übliches Verfahren, da man mit derlei Geschenken die Freundschaft lukrativer Partner im Sklavenhandel zu erhalten hoffte. Denn in Europa gab es zum damaligen Zeitpunkt eine Vielzahl von Sklaven ohne Sklaverei, ein Zustand, mit dem sich Amo sehr wohl auseinandersetzen sollte (Zeuske, 2013).
Das 1707 in der Schlosskapelle von Wolfenbüttel getaufte »Geschenk« war sicherlich für die Funktion eines sogenannten »Hofmohren« (zu Amos Zeit die rassistische Bezeichnung für schwarze Menschen, die am Hofe arbeiten mussten) bestimmt, doch wagte der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel den Versuch, dem intelligenten Jungen eine sehr gute Erziehung zuteil werden zu lassen und zu schauen, wie weit er es bringen sollte. Und Anton Wilhelm Amo sollte es sehr weit bringen. Finanziell unterstützt von Herzog Anton Ulrich und dessen Sohn August Wilhelm zählte Amo rasch zu den herausragenden Studierenden in Halle und hielt zweieinhalb Jahre nach seiner Immatrikulation, im November 1729, unter dem Vorsitz des renommierten Spezialisten für Internationales Recht, dem damaligen Kanzler der Universität Johann Peter von Ludewig, seine brillante Disputatio zum Thema De iure Maurorum in Europa (deutsch: Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa).
Bereits im 16. Jahrhundert beteiligten sich deutsche Händler am transatlantischen Sklavenhandel. 1682 wurde die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie gegründet, die Sklav:innen von Westafrika nach Nordamerika brachte. Auch nachdem die Sklaverei 1815 durch den Wiener Kongress offiziell für illegal erklärt worden war, mussten Menschen aus Afrika unter sklavenähnlichen Bedingungen auf deutschen Höfen leben. Sie wurden nun nicht mehr als Sklav:innen, sondern etwa als “Hofmohren” bezeichnet. Daher spricht man von “Sklav:innen ohne Sklaverei”.
Abbildung 1: Die Westindische Compagnie mit Sitz in den Niederlanden deportierte Sklav:innen von der westafrikanischen Küste entweder in Kolonien in Suriname, der Karibik (bis heute als "West Indies" bekannt) oder nach Europa.
Jenseits nationaler Grenzen
Diese Arbeit ist bis heute (wohl absichtsvoll) verschollen (Mougnol, 2010). Doch besitzen wir auf Grund einer umfangreichen Darstellung des Abschlusses seines Studiums der Philosophie und des Rechts eine gute Vorstellung von den Inhalten, die Amo vertrat. Denn es war seine eigene Lebenserfahrung, sein eigenes Lebens- und Überlebenswissen als letztlich abhängiger und versklavter Schwarzer in Europa, das der junge Afrikaner kritisch untersuchte und dessen juristische Legitimation er hinterfragte. Es war ein erstes faszinierendes Zur-Sprache-Kommen.
Früh schon erlernte Amo neben dem Deutschen die Bildungssprachen Griechisch und Latein, dazu Französisch, Niederländisch, Englisch und Hebräisch. Diese Mehrsprachigkeit erlaubte es Amo, sich für eine Sprache zu entscheiden. In den Schriften der deutschen Frühaufklärung, etwa bei dem in Halle wirkenden Philosophen Christian Wolff, war eine Wende vom Lateinischen zum Deutschen zu erkennen. Doch diese machte Amo bewusst nicht mit. Seit dem 15. Jahrhundert war das Lateinische zu einer Weltsprache geworden und erlaubte Amo, eine internationale Leser:innenschaft zu erreichen. So widmete ihm der Franzose Abbé Grégoire 1808 eine ausführliche und positive Besprechung von Leben und Werk.
1734 promovierte er in Wittenberg mit einer Arbeit über die Leib-Seele-Problematik mit dem Titel De humanae mentis apatheia (deutsch: Über die Apathie des menschlichen Geistes), womit er ein in der Frühaufklärung gängiges Thema aufgriff und seine eigenen Studien um anthropologische wie medizinische Aspekte erweiterte. Die hier vertretene starke Trennung zwischen Leib und Seele lässt sich bei Amo sehr wohl in eine Beziehung zur Autonomie des Geistes, der Bildung und des Philosophierens unabhängig von allen körperlichen Eigenschaften bringen. Sein philosophisches Hauptwerk aber war – wie wir heute sagen würden – sein second book oder die wenig später in Preußen eingeführte Habilitationsschrift: sein 1738 vorgelegter Tractatus de arte sobrie et accurate philosophandi (deutsch: Traktat über die Kunst, kontrolliert und akkurat zu philosophieren), in dem er erkenntnisphilosophische und ethische Probleme erörterte. Nach einer juristischen Abschlussarbeit und einer anthropologisch-medizinischen Dissertation bewies er in diesem Hauptwerk seiner Philosophie eine erkenntnistheoretisch fundierte Eigenständigkeit, die alle Versuche, ihn der Wolff'schen Aufklärungsphilosophie zuzuschlagen, als zu kurz greifend erscheinen lassen. Denn immer stärker entwickelte Amo seinen eigenen Weg des Philosophierens.
Überaus einflussreicher Philosoph der deutschen Aufklärung (geboren 1679, gestorben 1754). Viele wichtige philosophischen Begriffe der deutschen Sprache wie Bewusstsein oder Bedeutung wurden von ihm geprägt. Sein rationalistischer Ansatz versuchte, philosophische Wahrheiten mit mathematischer Präzision auszudrücken. Heute steht er meist im Schatten von Immanuel Kant, den er beeinflusste, doch zu seiner Zeit fanden sich an jeder deutschen Universität “Wolffianer”.
Eine Philosophie des Dazwischen
Amo entfaltete im Tractatus eine an internationalen Maßstäben sich messende Aufklärungsphilosophie, welche die Existenz unterschiedlicher – und nicht nur christlicher – Theologien betonte und gegen Ende seiner Überlegungen zu grundlegenden Fragen vorstieß: „Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen, wenn nicht auch die Ursache der Unwahrheit bestimmt wird.“ Bezeichnend sind seine Überlegungen zum Prinzip der Äquipollenz, das Amo aus der traditionellen Logik herleitete und das gleichmächtige, gleichermaßen gültige, aber keineswegs gleichgültige Argumente und Perspektiven meint. Seiner Philosophie wohnt damit ein polylogisches Prinzip inne, insofern die Gegenstände nicht aus einem einzigen, sondern gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden. Wir erkennen hierin die Entwicklung einer Sichtweise, die verschiedenartige Logiken zugleich zulässt und versucht, ein viellogisches Denken zwischen unterschiedlichen Blickrichtungen einzuführen.
Er schuf damit die Grundlagen für eine Philosophie des Dazwischen, welche unterschiedliche philosophische und kulturelle Traditionen zugleich gelten lässt. Dass diese vielversprechende Tradition auf Grund rassistischer Anfeindungen, aber auch auf Grund des Totschweigens durch einen Immanuel Kant, der im Übrigen vor rassistischen Ausfällen nicht zurückschreckte, abgebrochen wurde, ist aus heutiger Sicht nicht entscheidend. Anton Wilhelm Amo steht für eine Traditionslinie, die zeitweise verschüttet war, die aber fundamental zu Preußen und Deutschland gehört: Er ist Teil jenes Mobile Preußen, das viel diverser war als heute gemeinhin angenommen wird und in dem die unterschiedlichsten Menschen miteinander in Dialog traten (Ette, 2019). Erst durch die verschiedenen Nationalismen und Rassismen des 19. wie des 20. Jahrhunderts nachträglich rassistisch und antisemitisch »germanisiert« wurde. Black Lives Matter – diese eigentlich selbstverständliche Forderung gilt auch für Amo, der ein genuiner Teil unserer europäischen Geschichte ist und sein sollte. Gewiss: Amo kam nicht freiwillig nach Deutschland, aber er machte dieses Land zu seinem Lebens- und Denkraum.
Die logische Gleichwertigkeit von Urteilen. Vereinfacht ausgedrückt: Verschiedene Wörter oder Sätze beschreiben das Gleiche oder führen zum selben Ergebnis. Äquipollente Begriffe sind etwa “Abendstern” und “Morgenstern”, weil sie sich auf denselben Planeten (meist die Venus) beziehen. Äquipollente Aussagen sind etwa “alexandria-Leser:innen sind interessierte Menschen” und “interessierte Menschen lesen alexandria”.
Abbildung 2: Anton Wilhelm Amo war der erste schwarze Professor in Deutschland. Doch wie er aussah, gibt bis heute Rätsel auf.
Der Fremde, der zu unserem Eigenen geworden ist
Nun, da Anton Wilhelm Amo endlich seine nach ihm benannte Straße im Herzen Berlins besitzt, gilt es diesen Philosophen zwischen Afrika und Europa zum einen vor einseitigen Vereinnahmungen zu schützen. Amo gehöre Afrika und sei ein afrikanischer Philosoph, so tönt es einerseits unter Verweis auf seine Geburt in Ghana. Andere wieder behaupten, Amo sei ein deutscher Philosoph, denn seine Bildung und Ausbildung, seine disziplinäre Zuordnung und sein philosophisches Selbstverständnis seien allein den Universitäten von Halle, Wittenberg und Jena geschuldet. Weder das eine noch das andere sind alleine zutreffend: Denn wenn die philosophischen Diskurse und Diskussionen, in die er sich einschrieb, auch in Deutschland beheimatet waren, so warf er doch von Beginn an Fragen auf, die (sich) ein deutscher Philosoph niemals gestellt hätte. Amo ist ohne Zweifel ein Philosoph der Aufklärung; doch sorgt er auch heute noch für Aufklärung mit seiner Philosophie ohne festen Wohnsitz zwischen Afrika und Europa.
Zum anderen gilt es das Schweigen Kants und so vieler, die ihm bis heute folgten, zu durchbrechen. Anton Wilhelm Amo war zu seiner Zeit eine Berühmtheit: Selbst der mexikanische Philosoph Clavijero spielte auf ihn an (Clavijero, 1982). Es ist an der Zeit, endlich auch in der deutschsprachigen Philosophie zu den vielen noch dunklen Stellen in Amos Leben und Wirken zu forschen und die absichtsvoll verschüttete Tradition seines Denkens freizulegen. Denn Anton Wilhelm Amo ist aus unserer Geschichte nicht mehr wegzudenken: Er ist der Fremde, der zu unserem Eigenen geworden ist und uns befremdet, befragt und befruchtet.
Ottmar Ette ist Professor für Romanistik an der Universität Potsdam. Er erforscht spanisch- und französischsprachige Literaturen inner- und außerhalb Europas und setzt sie in einen transdisziplinären und interkulturellen Dialog. Er publizierte zahlreiche Bücher, darunter Monographien zu Roland Barthes, Alexander von Humboldt und Anton Wilhelm Amo. Seit 2013 ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft.
- In dieser Podcast-Serie findet sich ein großer Überblick schwarzer Geistesgeschichte - ein Podcast ist auch Amo gewidmet (englisch):
"Africana Philosophy" (History of Philosophy without any gaps)
Clavijero, F.J. (1982). Historia Antigua de México. Prólogo de Mariano Cuevas. Edición del original escrito en castellano por el autor.
Editorial Porrúa.
Ette, O. (2019). Mobile Preußen. Ansichten jenseits des Nationalen. J.B. Metzler.
Ette, O. (2020). Anton Wilhelm Amo: Philosophieren ohne festen Wohnsitz. Eine Philosophie der Aufklärung zwischen Europa und
Afrika. kadmos.
Mougnol, S. (2010). Amo Afer: un Noir, professeur d'université en Allemagne au XVIIIe siècle. Editions L'Harmattan.
Rousseau, J.J. (1975) Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. In : Oeuvres complètes, 3. Gallimard, 213.
Zeuske, M. (2013). Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. De Gruyter.