Bei unserem Schwerpunkt "Kampf ums Überleben" setzt sich die alexandria-Redaktion mit dem Tod, dem Vergessen und dessen Überwindung auseinander.
Der Tod ist seit jeher fremd und zugleich faszinierend für den Menschen – grausam, erschreckend, friedlich, der Tod ist vielseitig. Er trennt uns Lebende unwiderruflich von den Verstorbenen. Mit der Zeit müssen wir akzeptieren, dass geliebte Menschen uns im Laufe des Lebens verlassen. Besonders schwierig wird das, wenn der Tod nicht auf natürliche Weise eintritt. Wenn er etwa unvorhergesehen oder zu früh ins Leben hereinbricht. Oder wenn er von einem anderen Menschen herbeigeführt wird.
Zum Aufklären von Gewaltverbrechen ist neben der Polizeiarbeit die Gerichtsmedizin wesentlich. Sich selbst bezeichnen die Expert:innen als Anwält:innen der Opfer – „der lebenden und der toten“, wie es auf der Website der Gerichtsmedizin Wien heißt. Für diesen Werkstattbericht haben wir die Sensengasse in Wien besucht, um nicht nur den Arbeitsalltag der Gerichtsmediziner:innen, sondern auch die Wissenschaft dahinter zu beleuchten.
Ein natürlicher Tod? Wann die Gerichtsmedizin eingeschaltet wird
Sobald eine Person an einem öffentlichen Ort oder zu Hause verstirbt, ohne dass ärztliche Dokumente zur Erläuterung der Todesursache vorliegen, muss evaluiert werden, ob ein Gewaltverbrechen vorliegen könnte. Sobald Zweifel an einem natürlichen Tod bestehen, wird die Gerichtsmedizin von der Staatsanwaltschaft hinzugezogen. Im Schnitt werden an der Gerichtsmedizin 350 bis 500 Obduktionen pro Jahr durchgeführt, meist zwei pro Tag, eine vormittags und eine nachmittags. Der Großteil dieser Obduktionen schließt ein Fremdverschulden eher aus.
In Österreich werden etwa dreißig bis vierzig Morde pro Jahr begangen, die Hälfte davon in Wien, erklärt uns der Institutsleiter Professor Nikolaus Klupp in seinem Büro. Für diesen Fall gibt es auch eine Rufbereitschaft, die rund um die Uhr erreichbar ist. So können die Staatsanwaltschaft oder die Polizei Mitarbeiter:innen der Gerichtsmedizin verständigen, um eine Dokumentation der Leiche und Spurensicherung noch am Tatort zu ermöglichen.
Die Gerichtsmedizin in Wien. (Quelle: Youtube/@Med Uni Graz)
Ihre Arbeit gilt jedoch nicht nur den Toten, die Obduktionen machen nur einen Teil der Gerichtsmedizin aus, betont Professor Klupp. In der Gerichtsmedizin Wien werden auch lebende Gewaltopfer untersucht. Hierbei geht es um die Einschätzung und Dokumentation von Verletzungen sowie deren Schweregrad, die eine Rolle für Schmerzensgeld oder eine Berufsunfähigkeit spielen. Auch der Rausch eines Alkoholikers wird medizinisch eingeschätzt, denn aufgrund der strafmildernden Umstände im Vollrausch versuchen viele Täter:innen ein geringeres Strafmaß zu erwirken. Also obliegt auch die Einschätzung der Haftfähigkeit eines Verbrechens den Gerichtsmediziner:innen.
Die Arbeit mit lebenden Opfern ist dem Institutsleiter ein besonderes Anliegen. So soll es mit Jahresbeginn eine neue Anlaufstelle für Gewaltopfer geben. Nach häuslicher Gewalt oder Vergewaltigungen können Opfer die Spuren sichern und ihre Verletzungen dokumentieren lassen, kostenfrei und ohne die Polizei einschalten zu müssen. Oftmals ist das Verständigen der Polizei, gerade wenn der Täter einem bekannt ist, das Schwerste für die Opfer. Sie besitzen manchmal nicht die Kraft, den bekannten, vielleicht sogar geliebten Täter anzuzeigen. Werden die Gewalttaten jedoch dokumentiert, so können auch Jahre später noch Beweise genutzt werden, um Straftaten vor Gericht zu bringen. Ausgewählte Allgemeinmediziner:innen werden diese Anlaufstellen betreuen.
Dies alles macht den Arbeitsalltag der Gerichtsmediziner:innen in der Sensengasse aus. Doch obwohl Obduktionen seit 1804 auf dieselbe Art und Weise durchgeführt werden, gibt es zahlreiche Forschungsprojekte, die die Spurensicherung und die Todeszeitpunktbestimmung verbessern sollen. Zwei dieser Fachbereiche wollen wir uns näher ansehen: die Forensische Entomologie (Insektenkunde) und die Forensische Anthropologie.
Die Bestimmung von Insektenlarven ermöglicht die Einschätzung der postmortalen Liegezeit (Liegedauer der Leiche seit dem Tod) und damit den ungefähren Todeszeitraum, jedoch nicht auf die Stunde genau, wie es in manchen Serien falsch dargestellt wird, betont Nikolaus Klupp.
Forensische Entomologie: Insektenlarven ermöglichen die Bestimmung des Todeszeitpunktes
Um uns dies genauer anzusehen, werden wir in das Labor von Dominik Javorski geführt. Hier summen in zahlreichen Brutkästen Hunderte von Fliegen, der perfekte Ort zum Studieren der Larvenentwicklung verschiedener Fliegenarten. Besonders drei Arten der Schmeißfliege werden hier gezüchtet und beobachtet.
Calliphora vicina ist die kälteresistenteste Art, welche bis in den Winter hinein fliegt und einen bläulich-schwarzen Körperbau aufweist. Lucilia sericata oder auch Goldfliege genannt, ist grünlich und vor allem in warmen Monaten bei uns nachweisbar. Und die dritte Art, Chrysomya albiceps, ist aus dem Süden, aus nordafrikanischen Ländern
, aufgrund der Klimaerwärmung in den letzten Jahrzehnten erst eingewandert.
Hier sieht man die Unterschiede zwischen den drei Fliegenarten Calliphora vicina, Lucilia sericata und Chrysomya albiceps. Copyright: Dominik Javorski
Diese drei Schmeißfliegenarten legen ihre Eier in verwesenden Körpern ab, wo dann die Maden schlüpfen, wachsen und gedeihen, bis sie groß genug sind, um sich zu verpuppen. Aufgrund der Größe und Bestimmung der Madenart und des Larvenstadiums können Rückschlüsse auf die ersten Eiablagen und damit auf die Leichenliegedauer gezogen werden. So ist bekannt, dass bereits einige Minuten nach dem Versterben einer Person die ersten Fliegen zu sehen sind und innerhalb einer Stunde oftmals die ersten Eier abgelegt werden.
In diesem Brutschrank werden die perfekten Bedingungen für die Fliegenarten geschaffen, um sich zu vermehren. So kann Dominik Javorski zahlreiche Larven, Puppen und adulte Tiere vermessen, um seine Daten zu aktualisieren. Copyright: Veronika Sperl
Zur Bestimmung der Leichenliegedauer gibt es Tabellen. An dieser kann man aufgrund der Größe der Larve Rückschlüsse ziehen, wie lange eine Person bereits verstorben sein muss. Jedoch stammen diese aus den 80ern und sind heutzutage nicht mehr gültig. Schuld daran ist die Klimaerwärmung. Denn durch die höheren Temperaturen wandern nicht nur neue Arten ein, sondern auch die hier heimischen Fliegenarten gedeihen schneller. Daher müssen neue Daten generiert werden, um die Tabellen zu erneuern, damit diese auch in den nächsten Jahrzehnten noch verlässlich genutzt werden können.
In diesem Bild sieht man die Vermessung einiger Larven der L. sericata.
Durch neue Daten werden derzeit genutzte Tabellen zur Bestimmung der Leichenliegedauer von Dominik Javorski aktualisiert. (Copyright: Dominik Javorski)
Als einziger Forensischer Entomologe in Österreich und einer von vieren im deutschsprachigen Raum, erhält Dominik Larven von zahlreichen Fundorten in Österreich. Die Larven werden dann von ihm direkt an der Leiche oder im Labor bestimmt und auch ihr Alter eingeschätzt. Gelingt die Artenbestimmung nicht sofort, werden diese weiter gezüchtet, bis sie sich verpuppen und schlüpfen. Spätestens dann ist klar, um welche Art es sich handelt. Zur Bestimmung werden Merkmale wie die Atemschlitze der Made, ihre Kauwerkzeuge oder auch Flügelvenen der adulten Tiere herangezogen.
Anhand der Atemöffnung können die Larven unterschieden werden, aber auch ihr Larvenstadium genauer bestimmt werden.
Dank dieser genauen Arbeit kann der Todeszeitpunkt einer frisch verstorbenen Person besser eingeschätzt werden.
Forensische Anthropologie: Die Geheimnisse der Knochen freilegen
Für Funde von bereits seit Längerem, teilweise seit Jahrhunderten verstorbenen Personen, dient die Forensische Anthropologie. Auch diese ist in der Sensengasse vertreten. Hier lernen wir Professor Fabian Kanz kennen, den Leiter des Forensischen Forschungslabors. Dieses Teilgebiet der Gerichtsmedizin hat sich auf das Todesalter von Knochen (das sogenannte Individualalter der Leichen) und auf das postmortale Intervall der Knochen spezialisiert (wie lange die Leiche bereits verstorben ist). Hierfür gibt es verschiedene Methoden, zum Beispiel kann man DNA oder geschlechtsspezifische Proteine in den Knochen analysieren.
Während früher vor allem der Oberschenkelknochen zur Probengewinnung diente, hat man mittlerweile erkannt, dass im Felsenbein des Schädels bzw. auch in den Gehörknöchelchen sehr viel DNA der Verstorbenen gefunden werden kann.
Jedoch findet man nicht nur die DNA der Menschen in ihren Knochen, sondern teilweise auch pathogene DNA, also jene von Krankheitserregern. Vor Kurzem wurden in St. Pölten und Nürnberg Massengräber entdeckt, welche mit Opfern der Pestwellen gefüllt waren. Die DNA der Pesterreger findet man bis heute in diesen Leichen, vor allem in den Pulpahöhlen (weicher Innenteil) von unbeschädigten Zähnen. Denn, wie Professor Kanz uns heute erklärt, hat jede:r von uns pathogene Keime in der Pulpa gespeichert. Stirbt man rasch an solchen Keimen (wie etwa bei Pesterregern), dann können diese auch Jahrhunderte später noch nachgewiesen werden. So kann man aufgrund der Mutationen, die in einem Erreger vorkommen, Rückschlüsse zur entsprechenden Pestwelle und damit auf den ungefähren Todeszeitraum ziehen.
Um das Individualalter der Opfer zu bestimmt, werden ebenfalls die Zähne benötigt. Denn wenn man die Wurzeln der Zähne im Querschnitt betrachtet, kann man unter dem Mikroskop im Zahnzement „Ringe“ zählen und so das Alter der verstorbenen Person bestimmen. Ähnlich wie bei Bäumen.
Der Zahn im Querschnitt auf einem Objektträger. Unter dem Mikroskop können die Schichten des Zahnzementes gezählt und so das Alter der verstorbenen Person bestimmt werden - auch mehrere hundert Jahre später
Aus den Zähnen verstorbener Personen kann man noch wesentlich mehr Informationen gewinnen. So gibt es derzeit Forschungsprojekte, die versuchen, aus dem Dentin (Zahnbein) der Zähne Rückschlüsse auf Stresserlebnisse in der Kindheit zu ziehen.
Die Gerichtsmedizin ist vielseitig und herausfordernd
Mit Hilfe sterblicher Überreste können zahlreiche Aussagen über die Vergangenheit getroffen und auch in Zukunft noch viele Forschungsprojekte belebt werden.
Es ist wenig überraschend, dass Professor Klupp auch nach 31 Jahren in seinem Beruf die Vielseitigkeit des Faches noch immer zu schätzen weiß. Die Zusammenarbeit mit vielen anderen Bereichen wie der Toxikologie, der Spurensicherung und auch die Arbeit mit überlebenden Opfern von Gewaltverbrechen macht diesen Fachbereich so spannend. Die Arbeit mit Randgruppen der Gesellschaft sowie die Brutalität in manchen Fällen darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden. So hat er bereits einige Kolleg:innen den Beruf wechseln gesehen, da diese den Belastungen nicht standhielten. Nicht jede:r ist für diesen Job gemacht, betont der Institutsleiter.
Ob ihm ein Fall in seiner Karriere besonders im Gedächtnis geblieben ist? Professor Klupp muss nicht lange nachdenken. 2015 starben 71 Menschen, die aus dem Irak, Syrien oder dem Iran nach Österreich flüchteten, in der Nähe von Parndorf. Sie erstickten in einem LKW. Nikolaus Klupp war damals vor Ort und kann sich noch an manche Familien erinnern. Diese Bilder nicht mit nach Hause zu nehmen, ist eine Herausforderung, die Gerichtsmediziner:innen meistern müssen.
Schlechter denkt er über die Menschen nicht, trotz seines Berufes und der Gewalt, die er manchmal sieht. Und den perfekten Mord, nach dem er oft gefragt wird? Natürlich gibt es den, doch mehr werden wir darüber nicht erfahren.