Reinhold Popp Rückansicht

Reinhold Popp beschäftigt sich mit zukunftsorientierter Forschung. Er ist Leiter des Institute for Futures Research an der Sigmund Freud Universität in Wien und lehrt am Institut Futur der Freien Universität Berlin.
Wir haben ihn gefragt, wie man wissenschaftlich in die Zukunft schauen kann.

Dieser Beitrag erschien im Zuge des alexandria-Themenschwerpunkts "Zukunft". Den ganzen April fragen wir uns: Was wird uns in der Zukunft erwarten - und welchen Beitrag kann die Wissenschaft dazu leisten?
Dieser Artikel erschien in leicht veränderter Form im Dezember 2020 in unserem Magazin "Das erste Mal". Du findest noch viele weitere spannende Artikel darin.
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alexandria: Starten wir mit einer Grundsatzfrage: Wie definieren Sie Zukunft? Handelt es sich dabei um die nächsten hundert Jahre oder um den morgigen Tag?

Reinhold Popp: Das kommt ganz auf den Forschungsgegenstand an. Natürlich ist nicht die gesamte Zukunft mein Forschungsgegenstand, so wie kein:e Historiker:in die ganze Vergangenheit erforscht. Daran erkennen Sie auch die Leute, die sich seriös mit der Zukunft beschäftigen: Sie konkretisieren ihren Forschungsgegenstand.
Ich beschäftige mich vor allem mit der Zukunft der Arbeitswelt und Lebensqualität. Auf einer theoretischen Ebene setze ich mich intensiv damit auseinander, wie wir überhaupt wissenschaftlich etwas über unsere Zukunft aussagen können.

alexandria: Sie sprechen es selbst an: Es gibt auch viele unseriöse Behauptungen über die Zukunft, die als wissenschaftlich verkauft werden. Davon möchte sich die Zukunftswissenschaft abgrenzen. Was zeichnet diese Disziplin aus?

Reinhold Popp: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob die Zukunftswissenschaft überhaupt eine eigene akademische Disziplin ist. Jede Wissenschaft beschäftigt sich gewissermaßen auch mit der Zukunft.
Historisch betrachtet haben sich Mitte des 20. Jahrhunderts einige Denker:innen in Amerika zusammengeschlossen und die Denkfabrik RAND (Research and Development) Corporation gegründet. Daran waren Denker wie Olaf Helmar beteiligt. Dort hat man versucht, verschiedene zukunftsbezogene Studien zusammenzufassen. Das wurde dann Future Research genannt.
Dieser Ansatz sollte ganz praktisch dabei helfen, zukünftige Probleme zu lösen. Finanziert wurde das von der amerikanischen Regierung und einigen großen Firmen. Diese Denkfabrik war ideologisch motiviert: Sie sollte dabei helfen, die USA mit wissenschaftlichen Erkenntnissen im Kalten Krieg zu unterstützen.
Für einige war das der Beginn der sogenannten Zukunftswissenschaften. Olaf Helmar bekam dann auch einige Jahre später an einer anderen Universität die erste Professur für Future Research.

Olaf Helmar (1910 – 2011) war ein deutsch-amerikanischer Mathematiker und Zukunftswissenschaftler. Er war Mitbegründer der RAND Corporation, einer amerikanischen Denkfabrik, die mit wissenschaftlicher Forschung die USA im Kalten Krieg unterstützen sollte. Helmar gilt außerdem als Entwickler der sogenannten DELPHI-Methode, einem Instrument, mit dem man Prognosen über die Zukunft treffen kann.

alexandria: Mit alexandria wollen wir eine breitere Leserschaft mit den Methoden der Wissenschaft vertraut machen. Welche Methoden werden in den Zukunftswissenschaften angewandt – wie kann man in die Zukunft schauen?

Reinhold Popp: Ich kann nicht für alle Bereiche der prospektiven (zukunftsbezogenen) Forschung sprechen. Aber untersucht man komplexe Phänomene – wie die Zukunft der Arbeitswelt – ist es wichtig, nicht erst in der Gegenwart zu beginnen. Man muss sich die historischen Entwicklungen genau ansehen, die zu dem geführt haben, was man als gegenwärtige Arbeitswelt bezeichnen kann. In unserem Fall beginnt das in der Epoche der Industrialisierung. Wenn man die historischen Zusammenhänge nicht versteht, dann kann man auch die Gegenwart nicht verstehen – und die Zukunft schon gar nicht.
Genau darum – weil die großen Zusammenhänge aus den Augen verloren werden – kommt es zu Aussagen wie: Digitale Revolution verändert die Arbeitswelt.
Ich würde sagen: Ja, natürlich verändert sich viel. Genauso wie die Einführung des Traktors die Landwirtschaft verändert hat. Aber ich sehe die Digitalisierung als modernste Ausprägung der Technisierung, und die gibt es schon viel länger. Es ist keine radikale Revolution. Ich würde etwa nie zu dem Schluss kommen, dass die Menschheit in 25 Jahren von den Maschinen abgelöst wird, wie das manche im Silicon Valley vielleicht glauben. Solche Revolutionsphantasien halte ich für unangemessen – egal, wie gut sie sich vermarkten lassen.

alexandria: Wenn ich das zusammenfassen darf: Sie behandeln ein konkretes Phänomen. Sie sehen sich die historische Entwicklung dieses Phänomens an und versuchen dann, mithilfe von Statistiken und Daten Aussagen zu treffen, wie sich dieses Phänomen in Zukunft entwickeln wird?

Reinhold Popp: Genau. Und hier fangen die Diskussionen an. Kann ich überhaupt wissenschaftlich etwas über die Zukunft aussagen? Es gibt gewisse Auffassungen von Wissenschaft, die so etwas komplett ablehnen – etwa das Hempel-Oppenheim-Schema.
Das ist aber eine sehr rigide Auffassung von Wissenschaft, der ich nicht zustimme.
Allerdings würde ich nie behaupten, wir könnten die eine wirkliche Zukunft voraussagen. Auch wenn Politiker:innen das immer gerne von mir wissen möchten: Wie wird die Zukunft werden? Da muss ich sie enttäuschen. Ich habe mich auch ganz bewusst dazu entschieden, mein Institut Futures Research zu nennen, also Futures im Plural. Im Deutschen klingt das schrecklich: Zukünfte. Aber es gibt immer eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie die Zukunft aussehen könnte.
Als Zukunftswissenschaftler:innen treffen wir in den meisten Fällen „Wenn-Dann-Aussagen“: Wenn ein bestimmter Politiker Präsident wird, dann wird das diese und jene Auswirkungen auf die Wirtschaft haben.
Wenn jemand behauptet, er oder sie kenne die einzig wahre Zukunft, dann ist das in höchstem Maße unseriös.

Nach den beiden Wissenschaftstheoretikern Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim, auch deduktiv-nomologisches Modell genannt. Hempel und Oppenheimer wollten eine allgemeingültige Antwort auf die Frage finden, wann man von einer echten Erklärung sprechen kann.
Das Schema sieht so aus: Man nehme zwei Aussagen. Eine davon betrifft ein Naturgesetz, die andere eine Tatsache. Sie bilden die Erklärung für eine dritte Aussage.
Beispiel:
Metalle dehnen sich aus, wenn sie erwärmt werden. (Gesetz)
Dieser Metallstab wird gerade erwärmt. (Tatsache)
Also: Dieser Metallstab dehnt sich aus.
Mit diesem Schema können wir jedoch keine Prognosen über die Zukunft abgeben.

alexandria: Wie weit kann man überhaupt seriös in die Zukunft schauen?

Reinhold Popp: Das hängt ganz vom Gegenstand ab. Über die Zukunft der Planeten können Sie Aussagen treffen, die auch in tausend Jahren noch gelten werden. Warum? Weil alle Faktoren und Wechselwirkungen bekannt sind.
In den meisten Fällen sind Faktoren und Wechselwirkungen jedoch nicht bekannt. Gesellschaften etwa sind lebende und lernende Systeme, anders als Planeten. Es gibt so viele Teilsysteme, die ineinandergreifen – Wirtschaft, Kultur, Politik. Daher sind Voraussagen so schwierig.

Reinhold Popp vor der SFU

Foto von Paul Vincent Schütz

alexandria: Und warum glauben Sie dann, dass ein wissenschaftlicher Umgang mit der Zukunft trotzdem möglich ist?

Reinhold Popp: Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Was machen wir, wenn wir wissenschaftlich arbeiten? Nichts anderes als gewöhnliche Alltagsoperationen verfeinern. Beobachten und Befragen tut jedes Kind. Aber tun wir es nach einer bestimmten Methodik, dann wird daraus Wissenschaft.
Genau wie Fragen und Beobachten ist auch das Nachdenken über die Zukunft ein Grundbestandteil des menschlichen Lebens. Der amerikanische Psychologe Roy Baumeister hat herausgefunden, dass Menschen viel mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit nachdenken. Das kann den nächsten Einkauf betreffen, aber auch so tiefgreifende Entscheidungen wie: Möchte ich eine Partnerschaft eingehen? Möchte ich Kinder haben? Welchen Beruf möchte ich erlernen? Allein aus diesem menschlichen Grundbedürfnis heraus sollten wir uns wissenschaftlich mit der Zukunft beschäftigen. Wir können sie zwar nicht mit Sicherheit vorhersagen – aber wir können wohlüberlegte, plausible Annahmen über sie machen. Und das unterscheidet seriöse Zukunftswissenschaftler:innen von unseriösen Meinungsmacher:innen.

alexandria: Nachdem wir jetzt lange über die Zukunft gesprochen haben, möchte ich zu unserem Hauptthema kommen: Bedeutende erste Male, die erst noch auf uns zukommen werden.

Reinhold Popp: Ich will Ihnen drei nennen. Zwei davon sind eher komplexere Zusammenhänge, die bereits stattfinden oder kurz bevorstehen. Das dritte ist dann tatsächlich ein Ereignis.
Zum ersten Mal in der Erdgeschichte haben wir den Fall, dass unser Klima überwiegend vom Menschen beeinflusst wird. Dafür haben Geologen den Begriff des Anthropozän entwickelt. Klimawandel gab es immer schon, aber seit den letzten hundert Jahren wird er direkt vom Menschen beeinflusst.
Ein anderes bedeutendes erstes Mal, das uns noch bevorsteht, hat mit der Alterung der Bevölkerung zu tun. Es hat noch nie eine Phase in der Menschheitsgeschichte gegeben, in der eine so große Masse an Menschen ein so hohes Alter erreicht hat. In westlichen Ländern liegt die Lebenserwartung bei 80 Jahren und jedes Jahr kommen etwa zweieinhalb Monate dazu. Biolog:innen meinen, 120 Jahre ist das Alter, das der menschliche Körper biologisch erreichen kann. Was wird passieren, wenn wir mit einer so alten Gesellschaft konfrontiert sind?
Und damit ich auch noch etwas nenne, das man von einem Zukunftswissenschaftler erwartet: Das erste Mal, dass Menschen einen erdnahen Planeten dauerhaft bewohnen. Ich glaube, dass es in den nächsten hundert Jahren so weit sein wird. Ich glaube allerdings nicht, dass die gesamte Menschheit auf einen anderen Planeten übersiedeln wird, wie sich das manche Leute vorstellen.

alexandria: Wir müssen natürlich noch auf ein Thema eingehen, das für viele Menschen ein erstes Mal dargestellt hat: Corona. Wie wird sich dadurch unsere Zukunft verändern?

Reinhold Popp: Viele Leute waren zum ersten Mal in so einer Situation, das stimmt. Wir wissen aber, dass es in der Geschichte schon einige Pandemien gegeben hat.
Aus meiner Sicht zeigt uns so eine Krise vor allem, wie sinnvoll die Strukturen eines Sozialstaates sind. Während Corona haben Medien immer wieder Bilder gezeigt, die Nächstenliebe individualisieren: Das liebe Enkerl, das für die Oma einkaufen geht. Doch das Enkerl ist nicht Grund für die gute Lebensqualität der Oma, sondern die Strukturen des Sozialstaates. Das war für mich die wesentliche Lernerfahrung aus Corona: Wir sollten nicht auf die sozialstaatlichen Strukturen verzichten.
Sehen Sie sich etwa die Vereinigten Staaten an. Die haben wahrscheinlich das beste Gesundheitssystem der Welt, nur leider bloß für das obere Drittel der Bevölkerung.

Buch von Reinhold Popp

Foto von Paul Vincent Schütz

alexandria: Und welche Auswirkungen wird Corona auf die Zukunft der Arbeit haben?

Reinhold Popp: Was die Zukunft der Arbeit angeht, glaube ich nicht, dass sich durch Corona so viel verändern wird. Den Trend zum Home-Office gab es in einigen Berufen ja schon vorher. Ich glaube aber nicht, dass wir bald alle von zuhause aus arbeiten. Ich sehe drei Gründe, die dagegen sprechen.
Erstens benötigen viele Berufe einen bestimmten Ort. Köch:innen, Tischler:innen oder Installateur:innen können nicht so leicht von zuhause arbeiten wie Professor:innen oder Journalist:innen.
Das zweite Problem ist der Arbeitsbereich in der eigenen Wohnung. Seit dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Verdoppelung der Wohnungsfläche. Aber selbst die Verdoppelung reicht kaum für ein seriöses Büro daheim. Gleichzeitig steigen die Wohnungspreise. Wie sollen das Paare mit Kindern machen?
Das dritte Problem ist ein rechtliches. Wie genau messe ich die Arbeitszeit daheim? Wer kommt für den Verbrauch von Strom und Wasser auf, den ich zuhause für die Arbeit aufwende? Wie verrechnet man den entfallenden Anfahrtsweg? Hier fehlen uns einfach passende Gesetze. In der Coronakrise ging das ja eher anarchistisch zu.
Ich glaube, es wird zu einer Flexibilisierung der Arbeit kommen. Aber ich glaube nicht, dass wir bald alle nur noch in unseren eigenen vier Wänden arbeiten werden.

alexandria: Zum Schluss möchte ich noch den berühmten Spruch von Karl Valentin zitieren: Früher war alles besser. Was sagen Sie als Zukunftswissenschaftler dazu?

Reinhold Popp: Der Valentin hat ja zu fast allen Sachen was Kluges zu sagen gehabt. Es gibt immer die zwei Extreme. Entweder eine Verklärung im Sinne von: Früher war alles besser. Oder ein blinder Fortschrittsglaube: Heute haben wir den Gipfel der Zivilisation erreicht und es wird immer besser. Beides halte ich für übertrieben und falsch.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Geschichte bereits viele Großreiche zerfallen und verschwunden sind. Andrerseits sind bestimmte Faktoren – Lebenserwartung, Freiheitsrechte, Bildung – heute schlicht besser als noch vor fünfzig Jahren.
Es gibt natürlich noch immer einen Teil der Gesellschaft, der weniger Chancen hat als der Rest. Nur wird dieser Teil immer kleiner.
Junge Menschen von heute werden vielleicht nicht mehr, wie noch ihre Großeltern, einen Job bis an ihr Lebensende ausüben. Aber ist das unbedingt schlechter? Unsere heutige Gesellschaft ist pluraler und flexibler als jemals zu vor – das kann uns überfordern, aber es bietet auch unzählige Möglichkeiten.
Unsere Zeit ist nicht schlechter. Sie ist einfach anders.

Reinhold Popp ist Leiter des Institute for Futures Research an der Sigmund Freud Universität in Wien und lehrt am Institut Futur der Freien Universität Berlin.

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