Justitia, die blinde Göttin

Ob Mordanschlag, illegale Parteienfinanzierung oder Impfpass-Betrug: Immer wieder erfahren wir aus Medienberichten, dass bei Strafermittlungen Verdächtige in Untersuchungshaft genommen wurden. Ob die Verdächtigen tatsächlich schuldig sind, hat das Gericht zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht entschieden. Wie rechtfertigt unser Gesetz die Festnahme einer (noch) nicht verurteilten Person?

Die Untersuchungshaft, häufig auch als ‚U-Haft‘ bezeichnet, beschreibt die vorübergehende Gefangennahme einer verdächtigten Person während eines laufenden Ermittlungsverfahrens. Die Voraussetzungen für die U-Haft sind in der Strafprozessordnung (StPO) streng geregelt, denn die persönliche Freiheit ist ein wertvolles Grundrecht, das nicht ohne Weiteres eingeschränkt werden darf. Insbesondere wenn das Gericht die Person noch gar nicht verurteilt hat, müssen für einen derart drastischen Eingriff in das Menschenrecht dringende Gründe vorliegen. Erst wenn von dem oder der Verdächtigen eine potentielle Gefahr für andere Menschen oder die Ermittlungen ausgeht, kann ein Freiheitsentzug zum Schutz der Allgemeinheit durch das Gesetz erlaubt sein.

Der Tatverdacht

Für welche Taten kann man nun vorübergehend weggesperrt werden, obwohl die Schuld daran noch gar nicht bewiesen ist? Der Verdacht eines Ladendiebstahls wird eine Untersuchungshaft wohl nicht rechtfertigen, Mordverdacht hingegen möglicherweise schon. Tatsächlich wird die Grenze der Beachtlichkeit einer Tat bei einem Schaden von über 50.000 Euro gezogen, beziehungsweise bei der körperlichen oder seelischen Verletzung eines Menschen, wenn diese schwere andauernde Folgen nach sich zieht. Um von einem dringenden Tatverdacht sprechen zu können, müssen die Beweise, die für das Begehen der Tat sprechen, insgesamt stärker als alle entlastenden Umstände sein. Man muss also mit großer Sicherheit davon ausgehen können, dass die beschuldigte Person auch tatsächlich der oder die Täter:in ist.

Auf freiem Fuß

Aber selbst wenn ein:e Mörder:in auf frischer Tat ertappt wird, darf nicht automatisch die U-Haft über ihn oder sie verhängt werden. Immerhin könnten viele Umstände für eine Schuldminderung sprechen, wie zum Beispiel Notwehr oder mangelnde Zurechnungsfähigkeit der Täterperson. Das Inhaftieren ohne Schuldspruch ist nur zulässig, wenn ein wichtiger Haftgrund vorliegt, also von der Person nachweislich eine unmittelbare Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Ein Vorliegen dieser Haftgründe muss durch eine:n Richter:in geprüft werden. Liegt etwa die Vermutung nahe, dass die Person auf freiem Fuß jene strafbare Handlung, die man ihr unterstellt, erneut begehen könnte, wird eine U-Haft zum Schutz der Betroffenen sinnvoll sein.

Handschellen

Bei Fluchtgefahr kann ein:e Tatverdächtig:e in U-Haft genommen werden

Der rasche Gewahrsam ist insbesondere notwendig, wenn Gefahr gegen Leib und Leben anderer Menschen besteht, wie man es zum Beispiel im Fall von mutmaßlichen Anhänger:innen von Terrororganisationen annehmen kann. Das Gericht kann dann den Freiheitsentzug auch vor einer etwaigen Verurteilung mit dem Schutz des öffentlichen Interesses rechtfertigen. Hat sich etwa ein:e Verdächtige:r im Reisebüro nach billigen Fernflügen umgesehen oder ist bemüht, das Haus seines oder ihres ständigen Wohnsitzes möglichst rasch zu verkaufen, spricht das für Fluchtgefahr. In solchen Fällen kann die Polizei den oder die Fluchtverdächtige:n festnehmen, damit er oder sie sich nicht dem Strafverfahren entziehen kann. Um einem Schuldspruch zu entgehen, versuchen manche Verdächtigte auch, Beweise zu verwischen oder Zeugen zu manipulieren. Alles, was die unabhängige Ermittlungsarbeit der Behörden einschränkt, fällt unter Verdunkelungsgefahr und darf mithilfe der U-Haft unterbunden werden. Das Gericht muss jedenfalls genau argumentieren, warum die Schutzfunktion der U-Haft nicht durch mildere Mittel, wie etwa durch eine Fußfessel oder eine Geldstrafe, erreicht werden kann.

Hinter Gittern

Auf diese Weise kann es passieren, dass sich eine tatverdächtige Person auch ohne Urteil in der Justizanstalt wiederfindet. Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten im Ermittlungsverfahren zusammen und sind dazu verpflichtet, so schnell wie möglich alle notwendigen Beweise zu sammeln, sodass es zügig entweder zu einer Anklage oder einer Freilassung kommen kann. Während der U-Haft muss regelmäßig kontrolliert werden, ob weiterhin eine Gefahr von der oder dem Tatverdächtigen ausgeht, die den Freiheitsentzug rechtfertigt. Fallen die Haftvoraussetzungen weg, ist der Häftling sofort freizulassen. Die U-Haft hat schließlich keine Straf-, sondern eine Schutzfunktion. Für diese heikle Zeit des Gewahrsams muss dem Häftling zudem zwingend eine Strafverteidigung, also ein Anwalt oder eine Anwältin, zur Seite gestellt werden. So soll Missbrauch seitens des Staates verhindert werden.

Hinter Gittern

Eine U-Haft darf höchstens zwei Jahre andauern - und das nur mit guten Gründen

Menschenrechte im Gefängnis?

Die U-Haft darf höchstens zwei Jahre andauern – und das auch nur, wenn die Person unter Verdacht steht, ein schweres Verbrechen, d. h. eines, das mit über fünfjähriger Haftstrafe bedroht ist, begangen zu haben, und sich obendrein die Ermittlungen dazu erheblich in die Länge ziehen. Mithilfe der Strafverteidigung darf sich der oder die Beschuldigte jederzeit gegen die U-Haft zur Wehr setzen. Im Rahmen einer Haftverhandlung kann der U-Häftling dann die Haftvoraussetzungen erneut prüfen lassen oder eine gelindere Einschränkung – wie etwa Bewährungshilfe, Fußfessel oder Psychotherapie – beantragen. Verfassungsrechtlich problematisch ist allerdings, dass eine Beschwerde laut Gesetz automatisch einen weiteren Monat Haftzeit bis zur Haftverhandlung auslöst. Dies erscheint im Lichte der sonst so strengen Voraussetzungskontrolle nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch mit der Bedeutsamkeit der persönlichen Grund- und Freiheitsrechte unvereinbar. Eine solche kontroverse Regelung zeigt einmal mehr die heikle Gratwanderung zwischen persönlichem Grundrecht und öffentlicher Sicherheit.

Fuchs, H., & Ratz, E. (Hrsg.) (2015). Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung - StPO.
     MANZ
Bertel, C., Venier, A., & Flora, M. (Hrsg) (2022). Strafprozessordnung. 2. Auflage. Jan
     Sramek Verlag

Weiterführende Literatur:
Venier, A. (1999). Das Recht der Untersuchungshaft: Tatverdacht, Haftgründe,
     Verhältnismäßigkeit
. Verlag Österreich
Reindl, S. (1997). Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention: Der Schutz der
     persönlichen Freiheit und die Haft im Strafverfahren
. Verlag Österreich

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