Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts "Wie die Zeit vergeht", in dem sich die alexandria-Redaktion aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven mit der Wahrnehmung und dem Verständnis von Zeit auseinandersetzt.
Wie Zeitgefühl entsteht
Zeit vergeht unaufhaltsam. Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde. Bereits als Kleinkinder lernen wir die Uhrzeiten und die Vergänglichkeit unseres Alltags kennen. Wir lernen, was es bedeutet, einige Sekunden, Minuten oder gar Stunden auf etwas zu warten. Doch woher wissen wir, wie viel Zeit in der Zwischenzeit vergangen ist? Wie entwickeln wir ein Gefühl für die Zeit?
Die Psychologie und Neurowissenschaften beschäftigen sich bereits seit Jahrzehnten mit dieser Thematik. Kann Zeitgefühl erlernt werden? Vermutlich, denn Kinder wissen noch nicht, wie lange eine Sekunde oder eine Stunde dauert. Doch handelt es sich bei unserer Zeitmessung um ein künstliches Konstrukt, etwas, das die Zivilisation hervorgebracht hat. Trotz der allgemeingültigen Zeitmessung haben wir dennoch manchmal das Gefühl, die Zeit ist stehen geblieben oder vergeht viel zu schnell, unabhängig von ihrer Messung. Wie kommt das?
Der Versuch, die Zeitwahrnehmung mit Modellen zu erklären
Es gab in der Vergangenheit verschiedene Modelle zur Zeitwahrnehmung. Diese können in zwei Arten unterteilt werden. Bei der ersten Variante geht man davon aus, dass es im Gehirn oder in der Psyche des Menschen einen eigenen Zeitmechanismus gibt, der Zeitspannen misst.
Manche Forscher:innen gehen davon aus, dass es einen inneren Schrittmacher beziehungsweise Impulsgeber gibt, der ähnlich einem Metronom oder einem Ticken der Uhr bestimmte Pulse vorgibt. Die in einer bestimmten Zeitspanne vorgegebenen Pulse stellen dann die vorangegangene Zeitspanne dar.
Andere Modelle gehen davon aus, dass sensorische und kognitive Abläufe im Gehirn helfen, die Zeit zu messen, auch wenn diese nicht direkt dafür vorgesehen sind. So gehen Vertreter:innen dieser Richtung davon aus, dass je nach emotionaler oder kognitiver Anstrengung, die für eine Aufgabe verwendet wird, die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Verwendet ein Mensch viel kognitive Anstrengung, scheint die Zeit schnell zu vergehen. Wartet er hingegen gelangweilt auf das Läuten der Pausenglocke, die das ersehnten Unterrichtsende herbeiführt, scheint die Zeit stillzustehen.
Es gibt nicht das Zeitorgan
Für die Verarbeitung aller sensorischer Eindrücke ist unser Gehirn verantwortlich. Doch trotz einiger theoretischer Modelle ist nicht klar, welcher Abschnitt des Gehirns die Zeit messen könnte. Es ist jedoch mittlerweile bekannt, dass viele neuronale Prozesse, die nicht per se für die Zeitmessung zuständig sind, an der Zeitwahrnehmung beteiligt sind.
Wir wissen, dass eventuell viele Prozesse die Wahrnehmung von Zeit beeinflussen, auch wenn sie nicht direkt an der Wahrnehmung bzw. Verarbeitung teilhaben. Doch welche Hirnareale sind daran beteiligt? Können darüber Rückschlüsse auf den genauen Verarbeitungsprozess erfolgen?
In einigen Studien wurden in verschiedenen MRTs bestimmte Areale als für die Verarbeitung von Zeit verantwortlich ausgemacht, allen voran der insuläre Cortex. Doch wo genau liegt dieser insuläre Cortex?
Das Großhirn besteht aus Falten (Gyrus) und Furchen (Sulci), die gemeinsam die Rinde des Großhirns bilden. Diese Rinden liegen für den Betrachter außen und enthalten die meisten Nervenzellen des Gehirns. In der Tiefe liegen dann die Nervenfasern, die miteinander kommunizieren und so das komplexe System Gehirn bilden.
Die Inselrinde ist ein gut versteckter Teil des Gehirns, der unter den anderen Hirnlappen liegt. Welche Aufgaben die Inselrinde genau übernimmt, ist bis heute nur teilweise geklärt. Sie verbindet auf jeden Fall andere Hirnareale miteinander und ist vermutlich für die Verarbeitung verschiedener Sinneswahrnehmungen zuständig. Sie ist jedoch auch dem limbischen System zuzuordnen. Dieses System besteht aus verschiedenen Gehirnanteilen, die alle gemeinsam für unsere Emotionen und unser Triebverhalten zuständig sind.
In verschiedenen Studien konnte mittels MRT gezeigt werden, dass diese Areale bei der Abschätzung von Zeitspannen oder Aufgaben, die das Abwarten einer bestimmten Dauer vorsehen, sehr aktiv sind. Daher wird vermutet, dass am ehesten dieses Areal für unsere Zeitwahrnehmung zuständig ist.
In anderen Studien wird jedoch auch eine Vielzahl von anderen neuronalen Zentren als wesentlich für die Verarbeitung von Zeit eingeschätzt. So sollen auch andere Anteile des Großhirns (parietaler Lappen, frontaler Lappen) und auch das Kleinhirn eine wesentliche Rolle dabei spielen.
Ein einzelner Locus, also Ort für diese Verarbeitung, wurde noch nicht entdeckt. Am ehesten handelt es sich bei der Zeitwahrnehmung um ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Gehirnregionen. Die Zentren für Emotionen und die Verarbeitung bestimmter Signale des Körpers scheinen jedoch mit Sicherheit eine Rolle zu spielen. Hierfür gibt es auch Hinweise in einigen Testungen.
Der Einfluss von Körperfunktionen
Manche Wissenschaftler: innen gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der eigenen Herzschläge die Bestimmung einer Zeitspanne ermöglicht. Dann könnte eine höhere Herz- und Atemfrequenz zu einer erhöhten Aufmerksamkeit führen und den inneren Schrittmacher, wie in manchen Modellen vermutet, zu einer höheren Frequenz steigern, angepasst an die Schläge des Herzens. Dann würden wir die Zeit, sobald unser Puls steigt, anders wahrnehmen.
Meissner und Wittmann, zwei Psychologen, die sich intensiv mit der Zeitwahrnehmung beschäftigen, vermuten auch, dass Leute, die manche Signale ihres Körpers wie ihre Atmung und ihren Herzfrequenz besser wahrnehmen, eventuell auch zeitliche Veränderungen besser differenzieren können.
In ihrer 2011 erschienenen Studie konnten Meissner und Wittmann zeigen, dass jene Proband:innen, die ihre eigenen Herzschläge besser fühlen konnten, auch Zeitspannen besser einschätzen konnten. Die Region, die für die Verarbeitung physischer Reize des gesamten Körpers zuständig ist, ist der oben genannte hintere insuläre Cortex. Hier werden auch Erfahrungen wie Jucken, Schmerz, Berührungen und organische Reize verarbeitet. Dies würde die Theorie unterstützen, dass der hintere insuläre Cortex für die Verarbeitung der Zeitwahrnehmung verantwortlich ist.
Der Einfluss von Emotionen
In einigen Studien konnte gezeigt werden, dass Emotionen einen Einfluss auf unsere Zeitwahrnehmung haben. Dabei spielen sowohl die Dauer der Emotionen als auch der Typ der Emotion wesentliche Rollen.
In einer Studie von Pollatos und Kolleg:innen (2014) wurden 254 Proband:innen kurze Filmsequenzen gezeigt. Diese zeigten entweder etwas Neutrales (Dokumentation über eine Stadt), etwas Erschreckendes (Filmausschnitt aus einem Horrorfilm) oder etwas Lustiges (Ice Age Part III). Jeder dieser Clips dauerte vierzig Sekunden. Es zeigte sich anschließend, dass die erheiternden Szenen als wesentlich kürzer (im Schnitt 29.1 Sekunden) eingeschätzt wurden als die neutralen (34.2s) oder gar erschreckenden Szenen (41,5 s).
Zusätzlich wurden die Proband:innen dazu angehalten, ihren Fokus entweder auf die Handlungen der Filmsequenzen zu legen (n=106) oder darauf zu achten, welche Emotionen und körperliche Reaktionen während des Sehens der Filmabschnitte sie wahrnehmen (n=105). Hier zeigte sich, dass der Fokus auf den eigenen Körper bzw. die ausgelösten Emotionen (interozeptiver Fokus) diese Phänomene noch verstärkte.
Dass Emotionen einen Einfluss auf unsere Zeitwahrnehmung haben, kennen wir alle aus unserem Alltag. Lustige Gespräche mit Freunden, Zeit mit unseren Liebsten und spannende Erlebnisse lassen die Zeit schneller vergehen. Währenddessen sorgen Langeweile oder gar erschreckende Momente eher für ein Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben. Dies kann mit dieser Studie nun auch objektiviert werden.
Interessant ist, dass der Fokus auf körperliche Wahrnehmungen diese subjektiven Zeitspannen noch verstärkt. Somit würden Körperwahrnehmungen die Zeitwahrnehmung beeinflussen. Damit würde erneut die Theorie unterstützt, dass die Verarbeitung von Körpersignalen mit der Zeitwahrnehmung zusammenhängt. Dies würde die Theorie, dass der insuläre Cortex hauptverantwortlich für diese Phänomene ist, noch weiter unterstützen.
Pathologien beeinflussen die Zeitwahrnehmung
Bei manchen psychiatrischen Krankheitsbildern spielen auch Emotionen eine große Rolle und die Verarbeitung der Emotionen ist pathologisch. Daher ist es nicht überraschend, dass es Hinweise darauf gibt, die Zeitwahrnehmung bei psychiatrischen Erkrankungen könnte von der Norm abweichen.
Defizite in der Zeitwahrnehmung konnten bei Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder auch Stimulanzien-abhängigen Patient:innen nachgewiesen werden. Kinder mit ADHS können Zeitspannen nicht so korrekt einschätzen wie gesunde Kinder. Und schizophrene Patient:innen haben Schwierigkeiten, verschiedene Zeitintervalle zu unterscheiden. Für Menschen, die an einer Depression leiden, vergeht die Zeit subjektiv meist langsamer als für gesunde Personen.
Es gibt im Bereich der Psychologie und Neurowissenschaften zahlreiche Bestrebungen, das Zeitgefühl und die Verarbeitung von Zeit besser zu verstehen. Trotz zahlreicher Studien, die versuchen, die Zeitverarbeitung zu messen oder einer bestimmten Hirnregion zuzuordnen, konnte noch kein eindeutiges Verarbeitungszentrum identifiziert werden. Eventuell gibt es dieses auch nicht und die Verarbeitung von Emotionen spielt die Hauptrolle bei unserer Zeitwahrnehmung. Vor allem Teile der Inselrinde, die hierfür zuständig sind, nehmen eine wesentliche Rolle in der Wahrnehmung von Zeit ein.
Bisher konnte jedoch eindeutig bewiesen werden, dass die subjektive Veränderung der Zeitwahrnehmung durch unsere Emotionen und erlebte Erinnerungen eindeutig beeinflussbar sind. Diese Phänomene, die wir alle aus unserem Alltag kennen, sind somit in einigen Studien objektivierbar.
Letztendlich bleiben noch zahlreiche Fragen offen, die eventuell mit neuen Forschungsmethoden beantwortet werden können. Wie sagte bereits der Philosoph Augustinus: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es. Wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“
Craig, A. D. (2009). Emotional moments across time: a possible neural basis for time perception in the anterior insula. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 364(1525), 1933-1942.
Hashiguchi, M., Koike, T., Morita, T., Harada, T., Le Bihan, D., & Sadato, N. (2022). Neural substrates of accurate perception of time duration: A functional magnetic resonance imaging study. Neuropsychologia, 166, 108145.
Meissner, K., Wittmann, M. (2011).Body Signals, Cardiac Awareness, and the Perception of Time. Biological Psychology 86, S. 289 – 297
Pollatos, O., Laubrock, J., & Wittmann, M. (2014). Interoceptive focus shapes the experience of time. PloS one, 9(1), e86934.
Wittmann, M. (2013) The Inner Sense of Time: How the Brain Creates a Representation of Duration. Nature Reviews Neuroscience 14, S. 217 – 223
Wittmann, M., Simmons, A. N., Aron, J. L., & Paulus, M. P. (2010). Accumulation of neural activity in the posterior insula encodes the passage of time. Neuropsychologia, 48(10), 3110-3120.