Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts "Wie die Zeit vergeht", in dem sich die alexandria-Redaktion aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven mit der Wahrnehmung und dem Verständnis von Zeit auseinandersetzt.
In Österreich leidet fast ein Drittel der Bevölkerung an Schlafstörungen. Dass man (im Idealfall) die ganze Nacht durchschläft, war aber nicht immer die Norm und ist in Anbetracht der Menschheitsgeschichte ein relativ junges Phänomen.
Tatsächlich erfuhr die Art und Weise, wie Zeit für uns vergeht, und damit auch unser Schlafverhalten in den letzten Jahrhunderten radikale Veränderungen – vor allem durch die Industrialisierung. alexandria erklärt, wie sich unser Schlaf durch die Jahrhunderte verändert hat und was die Ursachen dafür waren.
Industrialisierter Schlaf
Die Industrielle Revolution nahm ihren Lauf im späten 18. Jahrhundert und ersetze Menschen, die Ware herstellten, mit Maschinen. Die Industrialisierung verändert mit der Arbeitsweise auch das Zeitverständnis tiefgreifend. Handwerker teilten sich zuvor ihre Arbeit selbst ein, die Landwirtschaft war abhängig von den Jahreszeiten. Die aufkommenden Fabriken hingegen waren geprägt von einer strengen Regelmäßigkeit, bezahlt wurde man nach Stunden, die man gearbeitet hatte.
Die Anpassung an den neuen Arbeitsmarkt erforderte auch eine Anpassung des Schlafrhythmus. Sonne und Mond wurden ersetzt durch das Ein- und Ausstempeln. Besonders in Wien ist heute noch das Phänomen der „Bettgeher“ bekannt – Fabriksarbeiter, die für wenige Stunden ein Bett zum Schlafen mieteten und jenes Bett in verschiedenen Schichten mit anderen Arbeitern teilten. Der Schlaf wurde zu einer unbequemen Notwendigkeit, Zeitverschwendung, während der man kein Geld verdienen und produktiv sein konnte.
Zwei Arbeiter in Paris, die während einem Streik in der Fabrik schlafen, 1936 (The Robert Capa and Cornell Capa Archive, Gift of Cornell and Edith Capa, 1992).
Dass man bis in die Nacht arbeitete und wach blieb, war nur möglich durch eine großflächige Einführung des elektrischen Lichts. Es wurde später schlafen gegangen, weil das Licht die Menschen länger wach hielt. Dafür wurde länger in einem Stück durchgeschlafen. Der Schlaf, wie wir ihn kennen, entwickelte sich. Lichtquellen wie Kerzen und Lampen sorgten nur für mäßig viel Licht. Elektrisches Licht beeinflusst unsere innere Uhr , in der Fachsprache „circadiane Rhythmik“, und damit unseren Schlaf bedeutend (Andersen et al., 2024). Aber wie schliefen wir vor dem Industriezeitalter?
Einen Versuch wert?
Nun aufgepasst alle, die ein Selbstexperiment durchführen wollen. Der Schlaf unserer Vorfahren im Mittelalter sah so aus: Etwa zwei Stunden nach Sonnenuntergang begann der erste Schlaf und dauerte vier bis sechs Stunden. Es folgten ein bis zwei Stunden, in denen unsere Vorfahren wach waren. Diese Zeit wurde genutzt, um zu plaudern, Nachbarn zu besuchen, zu beten und, wenn es die Umstände erlaubten, einander biblisch kennenzulernen (Familien mussten sich oft ein großes Bett teilen). Manch anderer hatte weniger Glück und musste sich in der Zeit um die Nutztiere kümmern oder Hausarbeiten erledigen. Danach ging es wieder ins Bett, bis Sonnenaufgang. Auch in der berühmten Biographie über Karl den Großen, „Vita Karoli Magni“ wird beschrieben, dass sich der Kaiser für zwei bis drei Stunden hinlegte, bevor er wieder aufwachte.
Eine Szene aus dem französischen Versroman, „Le Roman de la Rose“ aus dem 13. Jahrhundert. Der Roman erzählt von einem 22 Tausend Vers langem Traum (Roman de la Rose, Digital Bodleian, Bodleian Libraries, University of Oxford.)
Diese Praxis des „segmentierten“ Schlafs war Anfang des 20. Jahrhunderts bereits in Vergessenheit geraten. Aus dem Dornröschenschlaf erwachte sie durch den amerikanischen Historiker Roger Ekirch , der sich als Pionier der Schlafforschung einen Namen machte. Ekirch präsentierte seine These Anfang der 2000er Jahre in seinem Buch „At Day’s Close: Night in Times Past“. Er stützt sich dabei auf hunderte literarische Quellen, in denen von einem „ersten“ und „zweiten“ Schlaf die Rede ist.
Ekirchs historische Forschung deckt sich mit anthropologischer und biologischer. Lange wurde angenommen, dass die Schlafgewohnheit des Menschen eine Anomalität ist, da in der restlichen Tierwelt segmentierter Schlaf die Norm ist. Der Mensch ist jedoch das einzige Tier, das künstliches Licht nutzt, um einen längeren Tag zu schaffen. Eine klinische Studie aus den 1990ern, durchgeführt von dem Psychiater und Leiter der Abteilung für klinische Psychobiologie des National Institute of Mental Health, Thomas Wehr, umfasste fünfzehn Männer, denen nachts die künstliche Beleuchtung entzogen wurde. Die sonst für uns üblichen circa 16 Stunden Licht wurden damit auf zehn beschränkt. Innerhalb von vier Wochen hatte sich das Schlafverhalten der Probanden verändert: sie schliefen nicht mehr einmal am Stück, sondern in zwei etwa gleich langen Hälften. Dazwischen waren sie für einen Zeitraum von ein bis drei Stunden wach (Wehr, 1992).
Zu ähnlichen Resultaten kam der Anthropologe David R. Samson (2015), als er mit seinem Team das Schlafverhalten eines abgelegenen Dorfes im Nordosten Madagaskars untersuchte. Der Ortschaft fehlte es an Infrastruktur für Elektrizität, sodass die Einwohner ihre Tage nicht verlängern konnten. Die Teilnehmer, größtenteils Landwirte, wurden mit Aktivitätserkennungsgeräten ausgestattet, die ihr Schlafmuster verfolgten. Dabei kam heraus, dass es zwischen ein und zwei Uhr in der Nacht eine aktive Phase gab, bis man wieder bis zum Sonnenaufgang einschlief.
Zurück ins Mittelalter?
„Don Quijote gab der Natur nach und schlief den ersten Schlaf, ohne dem zweiten Raum zu geben“, heißt es in dem vierhundert Jahre alten Roman. Tatsächlich finden sich in Don Quijotes Heimat Spanien Überreste des westeuropäischen biphasischen Schlafs in Form der Siesta. Heißt das nun, um guten Schlaf zu bekommen, müssen wir es unseren Vorfahren gleichtun?
Nein, sagt Russell Foster, Neurowissenschafter der Universität Oxford. Experimente in Schlaflaboren haben zwar gezeigt, dass, wenn Menschen die Möglichkeit erhalten, länger zu schlafen, ihr Schlaf biphasisch oder sogar polyphasisch werden kann, dies ist jedoch nicht zwingend bei jedem Individuum der Fall. Foster und Ekirch stimmen überein, dass Ekirchs Forschung dabei helfen kann, aufzuzeigen, dass es nicht „den“ natürlichen oder idealen Schlaf gibt und dass selbst ein Mitten-in-der-Nacht-Aufwachen kein Grund zur Panik ist. Foster betont: „Schlafen ist wie Schuhgröße: Eine Größe passt nicht für alle.“