Titelbild Essay Apokalypse

In seinem Essay, der den 3. Platz beim Essaywettbewerb "Das erste Mal" belegte, zeigt Stephan Gräfe, dass Denken über das Ende immer schon eine wichtige Rolle für die Gegenwart gehabt hat - und das wir besonders heute davor nicht zurückschrecken dürfen.

Im Zuge der ersten alexandria-Printausgabe "Das erste Mal" haben wir gemeinsam mit dem Blog Future Potentialis einen Essaywettbewerb ins Leben gerufen.
Es liegt in der Natur eines Essays, mitunter von den Regeln und Methoden strengen wissenschaftlichen Arbeitens abzuweichen und Raum zu bieten für Spekulation und literarische Formulierungen. Obwohl das nicht der Arbeitsweise von alexandria entspricht, haben wir uns entschieden, die Essays mit so wenig Eingriffen wie möglich zu publizieren. Entscheidend für die Wahl der Texte durch die unabhängige Jury waren Einfallsreichtum, Innovation und Stilistik der Beiträge. Diesen Eigenschaften möchten wir mit der Veröffentlichung Rechnung tragen.
Die Positionen der Essays entsprechen demnach nicht zwingend der Auffassung der alexandria-Redaktion.

In der Wissenschaft der Logik schreibt Hegel „alles Vernünftige ist ein Schluß“ (Hegel, 1979, S. 351). Ein Schluss ergibt sich für ihn, wenn Anfang und Ende als Elemente eines Prozesses wie Zahnräder ineinander greifen, also eine einander bedingende, sinnvolle Einheit bilden. Darum kommunizieren wir Informationen als Erzählungen. Erst das Ende der Narration bringt ihren Sinn zum Vorschein - weshalb das in die Umgangssprache eingegangene Und die Moral von der Geschicht’ auch beispielhaft das Ende von Wilhelm Buchs Bildergeschichte Das Bad am Samstagabend beschließt.
Nun gibt es den Schluss im Kleinen, den der Rituale und Zeremonien, das immer wieder praktizierte Ende, das einen Rhythmus wie Takt schafft und es gibt das große, fulminante, das finale Ende: die Apokalypse. Letztere genießt mittlerweile einen zweifelhaften Ruhm - als Kapitulation vor katastrophalen Zuständen, Angst schürende Rhetorik eines politischen Totalitarismus oder religiöser und popkultureller Eskapismus. Die Medien der letzten hundert Jahre waren und sind immer noch durchsetzt von apokalyptischer Metaphorik. Schon die Literatur der mittleren achtziger Jahre wurde von Paul Konrad Kurz in seinem Überblick unter dem Titel Apokalyptische Zeit veröffentlicht. Comics, Filme, Romane, Theaterstücke und Videospiele mit dem Leitmotiv des Weltuntergangs und der Postapokalypse erscheinen in Massen und generieren reißenden Absatz.

Doch das Weltende immerzu als hohles Entertainment oder einen Sackgassen-Pessimismus auszuweisen tut ihm Unrecht. Es ist zwar eine pessimistische Denkfigur, aber eben auch eine produktive und für das analytische Denken unentbehrliche. Schließlich bedeutet Apokalypsis zunächst nicht Katastrophe, Untergang, Weltuntergang, sondern Offenbarung, Enthüllung, Aufdeckung der Wahrheit (Derrida, 2000, S.12). Das impliziert: Die Wahrheit existiert, aber sie liegt im Verborgenen, ihr Modus ist das Geheimnis. Als Begriff zur Bezeichnung einer Literaturgattung existiert die Apokalyptik, die sich vor allem zwischen dem zweiten vorchristlichen und zweiten nachchristlichen Jahrhundert in der Überschneidung von isrealitischen, frühchristlichen und antiken Traditionen gebildet hat, erst seit rund 200 Jahren (Roloff, 1984, S. 11). Wesentlichsten Bezugspunkt dieser Literaturgattung bildete dabei die Offenbarung des Johannes. Bei allen Unklarheiten über den Verfasser und die Textentstehung lässt sich die Überlieferung abseits des genauen historischen Befundes immer noch mit einem Erkenntnisgewinn hinsichtlich dessen auslesen, was Bazon Brock apokalyptisches Denken nennt.

Vorwegnahme des Endes

Der römische Kaiser Domitian wollte damals um die Bedeutung einer aufgekommenen Prophetie wissen, die besagte, dass menschliche Beziehungen auf der enigmatischen Struktur der Kommunikation ohne Verstehen basieren - letztlich ein Machtgewinn im Angesicht des Scheiterns (Brock, 2012, S. 29). Eine Antwort auf diese Frage vermutete er bei einer damals neuen Sekte: den Christen. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht, den Geltungsanspruch des etruskischen Reichs zu unterwandern, und das eben nicht durch eine Art Belagerung, eine zu Bauwerken geronnene Kulturprägung und einen starken Erziehungsanspruch (ganz so wie die Etrusker das römische Reich begründet hatte), sondern durch die Behauptung, gerade eine Kluft bestehen lassen zu wollen, auf einen Machtwillen, eine Durchsetzung und Übernahme von Führungsoptionen zu verzichten. Die Christen wollten keine Festungsanlagen errichten, keine Stadtmauern und keine militärischen Formationen (oder sonstige Machtformationen) bilden.

So ließ Domitian sich einen der hochrangigsten ehemaligen Jünger von Christi bringen, eben Johannes, den Evangelisten. Da dieser bei der Befragung aber schwieg, verbannte ihn der Kaiser auf die Insel Patmos.
In diesem Exil entdeckte Johannes gewissermaßen seine Bestimmung, die sich in der Offenbarung des Johannes bis heute, wenn auch in zwei falsch redigierten Fassungen, tradiert hat und in folgender Beobachtung seine Essenz finden könnte: Wenn ein Tischler einen Tisch anfertigen will, muss er das Ende seiner Arbeit vorweg nehmen - also gewissermaßen mit dem fertigen Tisch beginnen. Um Arbeitsschritte zu planen, braucht es schließlich vorab eine Vorstellung des Möbelstücks wie es später sein soll. In diesem Sinne bedeutet apokalyptisches Denken die Vorwegnahme des Endes. Die Offenbarung des Johannes weitet diese Beobachtung nun auf die Verfasstheit des ganzen Weltreichs aus; die Apokalypse zeigt sich als Modell einer der wesentlichsten Techniken des menschlichen Verstandes: der Antizipation. Hier läuft der alte Wortgehalt von Apokalypsis als Offenbarung einer Wahrheit mit dem Ende zusammen. Diese Fähigkeit zur Vorwegnahme hat der Menschheit die Möglichkeit ihrer Evolution gesichert. Um sich vor Dürren, Fluten, Bränden, Raubtieren und Krankheiten zu schützen, mussten die mitunter tödlichen Auswirkungen dieser Bedrohungen in verschiedenen Szenarios durchgespielt werden, während sie sich noch im Bereich des Möglichen befanden.
Diesem geistigen Vermögen verlieh das christliche Weltende seine umfassendste Form. Seither wurde die Apokalypse religiös-erzieherisch instrumentalisiert und auch die Unterhaltungsindustrie hat das bildmächtige Spiel mit dem Ende aufgegriffen. Schon in den Anfängen des populären Kinos bemerkte Adorno, dass der Kult um Monster in Filmen wie King Kong als „Kollektivprojektionen des monströsen totalen Staates“ (Adorno, 2001, S. 210) agieren, an dessen Schrecken sich die Menschen über diese Kulturprodukte vorauseilend gewöhnen.

Der Sport hat diese Art des Denkens sogar systematisiert - Profisportlerinnen und -sportler sind gewissermaßen Experten der Antizipation. Das geht beim Tennis so weit, den Return eines Balles zu antizipieren, dessen Schlag noch gar nicht ausgeführt wurde. Ohne diese Fähigkeiten kann niemand im Hochleistungssport auftreten. Für Rennfahrerinnen und Rennfahrer ist das Ausmalen des Erwarteten wie Unerwarteten sogar überlebenswichtig, denn fingen sie erst an zu lernen, eine Rennstrecke mit Höchstgeschwindigkeit zu befahren, indem sie es einfach täten, würden sie schon beim Training hundert Tode sterben. Sie müssen also vorab theoretisch jeden Meter einer Rennstrecke etliche Male durchfahren.
Letztlich ist es bei diesen Beispielen ganz egal, ob die Antizipation gegen den Menschen ausgespielt wird oder nicht, sie illustrieren jedenfalls, dass sie ein essenzieller Teil von ihm ist und als solcher sollte sie als Methode für das kritische Denken zurückerobert werden.

Helikopter fliegen an der Sonne vorbei

Optimismus im Angesicht des Scheiterns

Dem Bewohner des 21. Jahrhunderts ist die Fähigkeit ein klares Ende zu imaginieren und einen Schluss zu finden, ganz zu schweigen von der endgültigen Apokalypse, abseits popkultureller Phänomene abhanden gekommen. Apokalyptik ist zur Schwarzmalerei reaktionärer Vertreter eines Konservativismus im Angesicht gesellschaftlicher Veränderungen verkommen. Eventuell mag die Depression deshalb die vorherrschende Erkrankung der Zeit darstellen, da man durch sie die Fähigkeit zum Schließen und Abschließen verliert. Es ist sicher kein Zufall, dass die Unentschlossenheit, die Unfähigkeit zum Ent-Schluss, zur Symptomatik der Depression zählt. Wie bei einer Geschichte ohne Ende beginnt dadurch alles zu verschwimmen. Das Denken setzt die Fähigkeit zum Innehalten voraus, dem Beenden und Einordnen eines Vorgangs. Darin unterscheidet es sich vom Rechnen, das sich pausenlos und (theoretisch) un-endlich beschleunigen lässt. Zur Symptomatik des Information Fatigue Syndrom (IFS), also der Informationsmüdigkeit, gehört deshalb die Unfähigkeit, analytisch zu denken. Es bezeichnet das Unvermögen, zu schließen und zu schlussfolgern. Das Denken bedarf immer einer Stille, weshalb das bloße Leistungssubjekt unfähig zum Schluss ist. Es zerbricht unter dem Zwang, immerzu mehr Leistungen hervorbringen zu müssen. Und gerade das führt zum Burnout. Die Menschheit rast an jedem Endpunkt vorbei, wobei es scheint, als hätten die Individuen der Postmoderne auch die Apokalypse schon hinter sich gelassen. In der Postapokalypse lebt dieser Zustand fort. Es ist, wie Susan Sontag bemerkte, „not ‚Apocalypse Now‘ but ‚Apocalypse From Now On‘“ (Sontag, 1989, S. 88). Dabei hatte das apokalyptische Denken unter kritischen Denkerinnen und Denkern einmal Hochkonjunktur gehabt.

Für das 1918 erschienene Geist der Utopie von Ernst Bloch war ursprünglich der Titel Musik und Apokalypse vorgesehen. Darin bekennt sich der Philosoph zum apokalyptischen Denken: „Die Apokalypse ist das Apriori aller Politik und Kultur, die sich lohnt, so zu heißen. Nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirkliches, tief in sich hineinhörend, bis der Blick gelungen ist“ (Bloch, 1985, S. 341). Allein die radikale Zerstörung der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse kann, Bloch zufolge, den Geist der Utopie zur Realisierung verhelfen. Diese Zerstörung kann in Gedanken stattfinden oder eine sein, mit der wir uns unvermeidlich praktisch auseinandersetzen müssen. Ein Beispiel für den letzteren Typus wäre der Klimawandel, dessen Folgen die Gesellschaft vor sich her schiebt; die Ablauffrist bis zur unumkehrbaren Katastrophe wird seit den späten 1980er Jahren regelmäßig in die Zukunft ausgelagert. Faktisch leben wir schon in ihr, ob die Klimaziele erreicht werden, hat auf diesen Umstand keine gravierende Auswirkung mehr und es wäre jetzt daran, sich mit den Folgen auseinander zu setzen, statt den Klimawandel politisch weiterhin als ein Szenario zu behandeln, das noch abzuwenden wäre. Die Menschheit hat die Gabe nicht jeden Schrecken praktizieren zu müssen, es ist möglich über die List der Spiegelung in Medusas Antlitz zu schauen, um nicht von ihr getötet zu werden. Darum geht es beim apokalyptischen Denken: Um die Möglichkeit, sich auf die Fähigkeit zu besinnen, sich in konkreten Situationen seinem Pessimismus zu stellen. Um eine ständige Kritik, die besagt: Am Ende scheitert das Unterfangen. Irgendwann sind wir alle Sternenstaub und nach weiteren 4,7 Millionen Jahren ist dieses Sonnensystem sowieso erloschen. Es geht darum, dass man sich dieser begründeten und unvermeidbaren Aussage in aller Radikalität stellt und dann tatsächlich optimistisch werden kann. Diese Position ist heute intellektuell unterbesetzt, wird aber dringend benötigt. Nur wer sich den schlimmsten Folgen aussetzt, kann erfolgreich auf die kommenden Krisen reagieren. Es ist eben nicht die Unterwerfung unter die Katastrophendrohungen, sondern eine notwendige Denkbewegung, um überhaupt die Kraft des Beginnens entwickeln zu können.

Stephan Gräfe, 1990 in Leer (Ostfriesland) geboren, studiert aktuell Philosophie, Künste, Medien (BA) an der Stiftung Universität Hildesheim. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt im Bereich der Ästhetik, dem Zusammenwirken von High und Low Culture. Als Künstler und Schriftsteller lebt und arbeitet er in Hannover und Austin (Texas). Seine Arbeiten wurden in verschiedenen Magazinen, Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht.

Adorno, Theodor W. (2001). Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Verlag.

Bloch, Ernst (1985). Geist der Utopie. Erste Fassung. Faksimile der Ausgabe von 1918. Band 16 der Gesamtausgabe. Suhrkamp Verlag.

Brock, Bazon (2012). Anthropologie des apokalyptischen Denkens. In: Ein optimistischer Blick auf den Pessimismus. Wieser Verlag.

Derrida, Jaques (2000) Apokalypse: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie - No Apocalypse, not now. Passagen Verlag.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979). Werke - Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Suhrkamp Verlag.

Roloff, Jürgen (1982). Die Offenbarung des Johannes. TVZ Theologischer Verlag.

Sontag, Susan (1989). Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors. Farrar Straus And Giroux.

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