Feiernde Menschen

Es ist ein Exzess, den jeder kennt: der Alkoholkonsum. Auf keinem Dorffest, auf keiner Party darf er fehlen. Besonders in Österreich ist Alkohol Kulturgut. Warum macht uns Alkohol kurzfristig glücklich und langfristig krank? Warum trinken so viele Menschen? Und ist Österreich wirklich ein Land der Trinker:innen? 

Den gesamten Juli widmen wir uns dem Themenschwerpunkt "Exzess". Mehr darüber, warum gerade Exzess ein spannendes Thema für die Wissenschaft ist, erfährst du hier.

Warum das wichtig ist: Kein Exzess ist gesellschaftlich so akzeptiert wie jener des Alkoholkonsums. Da Alkohol ein soziales Phänomen ist, müssen wir nicht nur danach fragen, was es mit unserer Gesundheit macht, sondern auch, warum wir überhaupt trinken. 

Es ist nicht einfach, die ganze Welt toll zu finden. Mit seinem Leben völlig zufrieden zu sein, mit dem frühen Aufstehen, dem langen Weg zur Arbeit, dem schwer einzuschätzenden Chef, mit den drohenden Deadlines und den vielen Projekten. Oder die positiven Seiten schlimmer Ereignisse zu sehen, wie einem immer geraten wird, nach einer Trennung oder einem Verlust. Es ist nicht einfach, mit neuen Leuten ins Gespräch zu kommen, wenn man eher ein stiller Typ ist, oder lustig zu sein, wenn man den anderen gerne gefallen würde. Es ist nicht einfach, zu vergessen, zu ignorieren, loszulassen.

Das alles ist nicht einfach. Aber mit der richtigen Menge Alkohol wird es möglich. Dann schenkt einem der nebelverhangene Verstand ein kleines Zeitfenster, in dem man alles und jeden umarmen könnte. Und erst viele Stunden später, die einem jetzt noch so fern scheinen wie ein anderes Leben, wird man erkennen, dass man das besser nicht getan hätte.

Einen Rausch zu planen erfordert Präzisionsarbeit. Man muss effizient und geldsparend vorgehen. Wenig essen, aber einen leeren Magen sollte man vermeiden. Mit den billigen Weinen aus den Supermarktregalen, falls man langsam in das tiefe Gewässer der Trunkenheit eintauchen will, oder mit Vodka, falls man kopfüber hineinspringen möchte, wird „vorgeglüht“ – eine österreichische Tradition, die sicher geht, dass die Leute zumindest beschwipst sind, noch bevor sie überhaupt aus dem Haus gehen. „Beschwipst“ ist auf den zahlreichen Stufen der Betrunkenheit, für die man im österreichischen Deutsch feine Nuancen kennt, zwischen „angeheitert“ und „lustig“ anzusiedeln.

Wenn man an dem Ort ankommt, an dem man seine Nüchternheit auf dem Altar der Billigspirituosen opfern will, braucht man nicht mehr viel, um richtig blau zu werden. Trifft man in die goldene Mitte, wird man mutiger, lustiger, sozialer, man tanzt besser und die anderen Menschen werden plötzlich alle schöner, als sie um drei Uhr früh unter den flackernden Blitzen der Lichtanlage eigentlich sein dürften. Die Welt ist gut. Der Mensch ist frei.

Dann wird es hell und die Leichtigkeit des Seins tatsächlich unerträglich. Der Kopf beginnt zu dröhnen, der Kreislauf fährt Achterbahn, der Magen probiert sich in akrobatischen Verrenkungen. Je älter man wird, desto länger braucht man, um aus diesem Loch herauszukommen. Natürlich fragt man sich: Warum? Man wird sich das bis zum nächsten Mal fragen, und während einen die wohlige Trunkenheit erneut Willkommen heißt, wird man eine Antwort darauf finden. Zumindest für einige Stunden.

Wer will schon nüchtern sein?

Die erste Wirkung von Alkohol ist Beruhigung. Die Angst wird reduziert, die Hemmschwelle sinkt, das Selbstvertrauen und die Selbstüberschätzung steigen. Die Euphorie und Angstlosigkeit während eines Rausches sind auf den Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure) zurückzuführen, der auf das zentrale Nervensystem wirkt. Er wird durch Alkohol gesteigert, gleichzeitig wird der erregende Neurotransmitter Glutamat unterdrückt. Das hebt die Stimmung und erklärt, wieso man sich unter Alkoholeinfluss viel mehr zutraut.
Ist der Konsum allerdings vorbei und versucht der Körper sich zu erholen und in den Normalzustand zurückzukehren, überschießt die Produktion von Glutamat kurzzeitig. Das Ergebnis: Man fühlt sich ängstlicher und depressiv.
In manchen Nächten schießt man über das Ziel hinaus. Man verfehlt die Goldene Mitte, kippt aus ihr hinaus wie aus einer Hängematte bei Sturm. Dann tanzt, schmust, kotzt man, allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Nach dem neunten Aperol-Spritz sagt man Arrivederci, steigt aufs Fahrrad und tritt den Heimweg an. Später wird man sich nicht erinnern, auf welchem Weg man nach Hause gekommen ist. Das nichts passiert ist, hat man wohl dem Zufall zu verdanken. Der Zufall ist der Freund der Betrunkenen, oder zumindest möchte man das in seinem Rausch gerne glauben.

Filmriss ab

Manchmal kann man sich an den letzten Abend gar nicht mehr erinnern. Wir sagen dazu „Filmriss“, oder medizinisch: eine temporäre anterograde Amnesie. Das Gehirn kann neue Erinnerungen in diesem Zeitraum nicht speichern. Und das liegt nicht daran, dass Gehirnzellen abgetötet werden, sondern dass gewisse Glutamatrezeptoren die Produktion von Steroidhormonen ankurbeln, die das Speichern der Erinnerung verhindern.

Die Forschung ist gerade dabei, diese Zusammenhänge besser zu verstehen. Wovon allerdings ausgegangen wird: Je schneller größere Mengen Alkohol konsumiert werden, umso schneller steigt der Blutalkohol. Das führt schließlich zum Blackout. Ein Blackout tritt ungefähr bei einem Blutalkoholwert von zirka 1,5 bis zwei Promille ein. Ab zwei Promille ist das Reaktionsvermögen fast nicht mehr vorhanden. Ab drei Promille können erwachsene Menschen ins Koma fallen.

Formel für Betrunkenheit

Für viele die Formel zum Glück: Wie man sich die Promille ausrechnet (Quelle: Sucht Schweiz, 2011)

Alkohol wirkt auf jedes Organ im Körper. Da Alkohol fettlöslich ist, wird er zuerst im Mund, danach im Magen und schließlich im Dünndarm aufgenommen und gelangt so in den Blutkreislauf. Über die Pfortader gelangt das Blut samt Alkohol in die Leber, die Alkohol nur über sehr lange Zeit abbauen kann. Unabhängig von der Trinkmenge baut die Leber zirka 0,1 Gramm Alkohol pro Kilogramm Köpergewicht in einer Stunde ab. Das entspricht ungefähr 0,13 Promille pro Stunde.

Der überschüssige Alkohol zirkuliert weiterhin im Blutkreislauf. Bis zu zehn Prozent des konsumierten Alkohols wird über Lungen, Nieren und Haut ausgeschieden. Wie stark sich Alkohol also auf den Körper auswirkt, wie toxisch er ist, hängt von der getrunkenen Menge und dem Zeitraum des Konsums ab.

Wer verträgt mehr?

In der Leber sind Enzyme für den Alkoholabbau verantwortlich. Eines davon ist die Alkohol-Dehydrogenase (ADH). Sie katalysiert, also unterstützt, die Umwandlung von Ethanol zu Acetaldehyd. Für die weitere Umwandlung zur unschädlichen Essigsäure (Acetat) braucht es ein weiteres Enzym: die Aldehyd-Dehydrogenase (ALDH). Erfolgt der zweite Schritt zu langsam, wird also der giftige Acetaldehyd zu langsam abgebaut, spüren wir das als Kater.

Die unschädliche Essigsäure (Acetat) wird weiter umgewandelt in Acetyl-Coenzym A, ein Ausgangsstoff für einige Stoffwechselzyklen. Acetyl-Coenzym A steigert die Herstellung von Fettsäuren in der Leber. Die Folge kann eine Fettleber sein.

Apropos fett. Ja, Alkohol macht dick. Denn pro Gramm enthält Alkohol 7,1 Kilokalorien, die aber keine Nährstoffe enthalten. Süße alkoholische Getränke enthalten durch den Zuckergehalt deutlich mehr Kilokalorien.

Chemische Formel für Alkohol

Das ist Alkohol chemisch betrachtet:
Ethanol ist ein Alkohol. Alkohole sind Varianten von Kohlenwasserstoffen (CnHn), bei denen ein Wasserstoff-Atom (H) durch eine Hydroxy-Gruppe – das typische -OH, ersetzt wird. Die -OH Gruppe ist für die charakteristischen chemischen und physikalischen Eigenschaften von Alkohol verantwortlich. (Quelle: Wiley-VCH)

Für gewöhnlich werden Frauen und Menschen aus Asien häufig und schneller betrunken. Der Grund: die Aktivität ihres Enzyms Alkohol-Dehydrogenase ist geringer, bei Frauen sogar um bis zu 60 Prozent geringer.

Es gibt Menschen, für die übermäßiger Alkoholkonsum zu ihrem Leben gehört. Für sie ist es Routine, sich wöchentlich zumindest einmal „aus dem Leben zu schießen“. Und an einem Wochenende kann schnell einmal eine Kiste Bier versoffen werden – pro Person! Oder auch 24 Bier in 24 Stunden. „Ois ka Problem“, hört man in den Dorfdiscos dieses Landes. Echt?

Bei regelmäßigem Konsum einer größeren Menge Alkohol wird ein weiteres Enzym, die Mischfunktionelle Oxidase (MEOS), aktiviert. Sie könnte der Grund sein, warum Menschen, die öfter Alkohol trinken, weniger davon spüren. Diese Personen bilden mehr von MEOS, was sie aber keinesfalls vor den gesundheitlichen Schäden ihres übermäßigen Konsums schützt, denn der giftige Acetaldehyd wird deshalb nicht schneller von der Aldehyd-Dehydrogenase (ALDH) abgebaut. Sie „vertragen“ also nicht mehr als andere – es ist für sie nur leichter, sich das einzureden.

Und trotzdem tun wir es

Dass Alkohol schädlich ist, wissen mittlerweile die meisten. Und doch trinken wir ihn nicht heimlich. Vielmehr ist er in Österreich ein Kulturgut. Unsere hochwertige Weinproduktion trägt zum Nationalstolz bei, unser Bier kann sich auch schmecken lassen. Dazu gibt es Schnaps, Most, Punsch – und genug Orte, wo ausgeschenkt wird. Menschen pilgern zu Heurigen und Gasthäuser wie zu religiösen Stätten. Gesellschaftstrinken ist ein weit verbreitetes soziales Phänomen, und Alkoholismus wird als Krankheit von vielen Menschen abgetan.

Österreich hat den Ruf eines Landes der Trinker:innen. Aber stimmt das? Statistisch liegt Österreich weltweit auf Platz 17 was den Alkoholkonsum anbelangt. Vor uns sind unsere Nachbarländer Tschechien (billiges Bier!), Deutschland und Slowenien, aber auch die Rotwein-Genussnation Frankreich, Portugal und Russland. Fast 12 Liter reinen Alkohol konsumiert ein:e durchschnittliche:r Österreicher:in im Jahr – das sind etwa zweieinhalb Flaschen Wein oder 4,6 Liter Bier pro Woche. Männer trinken im Durchschnitt mehr als doppelt so viel wie Frauen, und nach eigenen Angaben konsumieren 15 Prozent der Österreicher:innen Alkohol in ungesunden Mengen – 6 Prozent sind gar alkoholabhängig. (Statista, 2022)

Des ewige Sollen

Wir sind also nicht an der einsamen Spitze, doch liegen wir mit unserem Alkoholkonsum über dem OECD-Durchschnitt. Ein Erfolg, auf den man kaum stolz sein kann. Moderne Präventionsmaßnahmen wollen Menschen nicht mehr völlig von Alkohol fernhalten, sondern ihnen einen maßvollen und reflektierten Umgang damit ermöglichen. Doch letztlich ist das Thema Alkohol ein gesellschaftliches. Alkohol zerstört jährlich zahlreiche Menschenleben; Menschen verlieren durch ihn ihren Job, ihre Familie und Freunde, landen manchmal sogar auf der Straße. Andere Drogen, die nicht schädlicher sind als Alkohol, bleiben weiterhin verboten, während der Rausch unter Freund:innen zum guten Ton gehört.

Und genau hier liegt die große Gefahr, die große Anziehung des Alkohols: Er ist ein Instrument des sozialen Miteinanders. Es ist Fakt, dass seit frühesten Zeiten Menschen gemeinsam getrunken haben und sich so besser kennenlernten. Wer schon einmal auf einem Dorffest den mutigen Versuch unternommen hat, nüchtern zu bleiben und an der Bar nichts anderes als eine Cola zu bestellen, weiß, wie viel Verachtung einem entgegenschlagen kann (außer, man ist Autofahrer; in dieser Funktion können sich Krypto-Abstinenzler sogar eine geachtete Position erarbeiten).

Wer nicht trinkt, ist nicht Teil des kollektiven Freudentaumels, verdient keinen Einlass in die geteilte Glückseligkeit der Trunkenheit. In einer Nacht, in der sich die Betrunkenen selbst vergessen, sind Nüchterne die Erinnerung daran, wie es sein sollte, wie man zu sein hätte. Und wie wir bereits am Anfang festgestellt haben: Sich dem Sollen zu entziehen ist das größte Versprechen des Alkohols.

Wollen wir Alkohol in den Griff bekommen, müssen wir seine sozialen Funktionen ersetzen. Wir müssen es schaffen, anders Spaß haben zu können, uns über andere Wege besser kennenzulernen, mit unseren Sorgen nüchtern umgehen lernen. Das Thema Alkoholismus nicht als kulturelle Bedingung abzutun, sondern ernstzunehmen, ist ein erster Schritt dahin.

Links:
Center for Disease Control and Prevention: Alcohol Frequently Ask Questions
Chemgapedia: Alkohol und Alkohol-Dehydrogenase
TÜV Süd: Alkoholabbau
Spektrum: Warum löst zu viel Alkohol einen Blackout aus?
Quarsk: Alkohol: Das macht er in deinem Körper
Statista: Alkoholkonsum der Österreicher
Standard: Österreich, das Land der Trinker
ORF.at: Zwischen Genuss und Gefahr

Literatur:
Mortimer, E. C., & Müller, U. (2014). Chemie. Thieme.
Palmer, E., Tyacke, R., Sastre, M., Lingford-Hughes, A., Nutt, D., & Ward, R. J. (2019).
     Alcohol Hangover: Underlying Biochemical, Inflammatory and Neurochemical
     Mechanisms. Alcohol and Alcoholism, 54(3), 196–203.
     https://doi.org/10.1093/alcalc/agz016
Sucht Schweiz. (2011). Alkohol im Körper - Wirkung und Abbau. Jugendliche Und
     Alkohol
, 2, 1–12.
Trotora, G. J., & Derrickson, B. (2017). Principles of Anatomy & Physiology (15th ed.).
     John Wiley & Sons, Inc.

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