Intergeschlechtlichkeit erklärt

Bei der Eintragung des Geschlechts in die Geburtsurkunde sind in Österreich seit 2018 neben „männlich“ und „weiblich“ auch „inter“, „divers“ und „offen“ möglich. Will eine Person ihren Geschlechtseintrag von „weiblich“ oder „männlich“ später auf „inter“ ändern lassen, bringt das einige Hürden mit sich. Erst müssen Gutachten von medizinischen oder psychologischen Expert:innen eine Intergeschlechtlichkeit bestätigen. Wissenschaftliche Schätzungen gehen davon aus, dass 0,2 Prozent aller Menschen intergeschlechtlich geboren werden
(Blackless et al.,  2000). Aber wie wird Intergeschlechtlichkeit medizinisch definiert und welche Ausprägungen gibt es? Das wollen wir in diesem alexandria erklärt genauer erörtern.

Wer versucht, sich über Intergeschlechtlichkeit zu informieren, wird hierbei schnell auf den oft synonym verwendeten Begriff Intersexualität stoßen. Dieser Begriff ist zwar gleichbedeutend, kann aber durchaus irreführend sein, da Sexualität beschreibt, zu welchen Menschen sich die beschriebenen Personen sexuell hingezogen fühlen, wie es etwa die Bezeichnungen Homo-, Hetero-, Pan-, oder Sapiosexualität ausdrücken. Deshalb werden wir in diesem Artikel die Bezeichnung Intergeschlechtlichkeit verwenden, da sich diese explizit auf das biologische Geschlecht bezieht.

Wenn Personen in Österreich ihren Geschlechtseintrag nachträglich auf „inter“ ändern wollen, muss durch ein Fachgutachten dargelegt werden, „dass das Geschlecht der antragstellenden Person auf Grund ihrer chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen Entwicklung weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann“ (aus: Änderung der Geschlechtszugehörigkeit auf oesterreich.gv.at, Stand 08.06.2022).

Die Genderidentität (also das Zugehörigkeitsempfinden zu einem sozialen Geschlecht) wird somit als Grund für die Eintragsänderung auf „inter“ ausgeschlossen. Aus dieser offiziellen Information über die Änderung des Geschlechtseintrags geht bereits hervor, dass die Geschlechtszuordnung auf mehreren Ebenen erfolgen kann. Betrachten wir diese Ebenen genauer und schauen uns zunächst an, wie es in der Embryonalentwicklung überhaupt zu unterschiedlichen Geschlechtern kommt.

Chromosomen: Zwei Buchstaben, viele Variationen

Wie viele Menschen vermutlich wissen, gibt es Geschlechtschromosomen (auch Gonosomen), durch die häufig eine vermeintlich „eindeutige“ Geschlechtszuordnung getroffen wird. Chromosomen sind die zusammengefaltete DNA, also Strukturen, auf denen unsere Gene liegen. Frauen haben zwei X-Chromosomen (46,XX) und Männer ein X- und ein Y-Chromosom (46,XY). Die Zahl 46 steht dabei für die Anzahl der anderen, nicht-geschlechtsspezifischen Chromosomen.

Es scheint naheliegend, dass Wissenschaftler:innen bei Untersuchungen von Zellen durch die Auswertung des Karyogramms (Darstellung der Chromosomen) eindeutig bestimmen können, ob es sich bei einer Person um einen Mann oder eine Frau handelt. Doch es gibt Ausnahmen bei bis zu einem von 20.000 phänotypischen Männern (Wang et al., 2000): Dann besitzt diese Person zwar alle Merkmale eines biologischen Mannes, aber chromosomal würden Wissenschaftler:innen eine Frau vermuten. Dies nennt sich dann XX-Mann oder auch de Chapelle-Syndrom.

Diese Umkehr kommt nicht nur bei phänotypischen Männern vor, es gibt auch 46,XY-Frauen (diese verbreitete Bezeichnung meint eine phänotypische Frau mit XY-Chromosomen), Menschen mit 46,XXY- oder X0-Genotyp. Genauso ist eine Zusammensetzung aus XY- und XX-Zellen in einem Körper möglich. Dieses Phänomen kommt daher, dass nicht allein das Y-Chromosom für einen biologisch männlich oder weiblichen Mensch entscheidend ist. Denn auch weitere Ebenen spielen bei der Entwicklung des biologischen Geschlechts eine Rolle, etwa die Gene.

die Symbole für männlich, weiblich und divers

Symbole für das Geschlecht: männlich, inter, weiblich

Gene: Alles eine Frage der Gene?

Auf dieser weiteren Ebene ist das SRY-Gen entscheidend für die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale. SRY steht für sex determining region of Y. Dieses Gen befindet sich meistens auf dem Y-Chromosom, weshalb dieses Gonosom oft für die Geschlechtszuordnung verwendet wird.

Wenn das SRY-Gen vorhanden ist, handelt es sich in den meisten Fällen um eine phänotypisch männliche Person – also eine Person, die vom Erscheinungsbild eine männliche ist. Das bedeutet, sie bildet einen männlichen Phänotyp aus – sie hat also Penis und Hoden, eine tiefere Stimme und stärkere Körperbehaarung. Sobald dieses Gen nicht vorhanden ist, bildet sich automatisch ein weiblicher Phänotyp – die Person hat also eine Vulva, Eierstöcke und Busen.


Das SRY-Gen codiert für den Hoden-determinierenden Faktor TDF (testis determining factor). Dieser Transkriptionsfaktor kontrolliert die Expression – also den Bau – unterschiedlicher Proteine, die zum Beispiel die Entwicklung Testosteron-produzierender Zellen initiieren. Die Vorläufer dieser Zellen sitzen in den Geschlechtsdrüsen (Gonaden) und entwickeln sich erst im Laufe ihrer Entstehung im Embryonalstadium entweder in Hoden oder Eierstöcke. Wenn TDF aktiv ist, entwickeln sich Hoden, beim Fehlen von TDF werden die paarigen Eierstöcke angelegt, in denen später die Hormone Östrogen und Progesteron gebildet werden.

Hormone: Die Menge macht's

In den Hoden befinden sich die Leydig-Zellen, deren Entwicklung im Embryonalstadium durch den TDF aktiviert wurde. Sie sind der Hauptproduktionsort des bekannten Sexualhormons Testosteron. Hormone sind Botenstoffe, die Informationen in unserem Körper von einer zur anderen Stelle überbringen. Obwohl Testosteron als „das“ Hormon für eine männliche Entwicklung gilt, ist es nur ein Vertreter der Androgene, die für die Entwicklung und Erhaltung der männlichen Geschlechtsmerkmale verantwortlich sind. Sexualhormone sind in ihrer Anwesenheit grundsätzlich nicht geschlechtsspezifisch. Es kommt vielmehr auf die Menge und das Gleichgewicht zwischen Androgenen und den „weiblichen“ Hormonen Östrogen und Gestagen an.

Hormonrezeptoren: Das Schloss muss passen

Bei hohem Hormonspiegel der Androgene, aktivieren diese die Bildung männlicher Geschlechtsorgane. Das passiert über die Wirkung der Androgene an den Androgen-Rezeptoren. Androgen-Rezeptoren sind spezifisch für Androgene und sind sozusagen das Schloss, an dem der richtige Schlüssel (in diesem Fall Androgene) eine Funktion auslöst.

Bei richtiger Bindung kommt es so zur Aktivierung unterschiedlicher Prozesse, die die Entwicklung verschiedener Geschlechtsmerkmale beeinflussen. Wirkt Testosteron im sich entwickelnden Fötus, aktiviert es die Bildung von Penis und Skrotum, Harn- und Samenleiter sowie Samenbläschen (dort wird ein großer Teil des männlichen Ejakulats produziert). Testosteron verhindert über das Anti-Müller-Hormon (AHM) außerdem die Anlage von Eileitern. Der Name AHM geht auf den Müller-Gang zurück. Dieser embryonale Gang entwickelt sich bei der weiblichen Geschlechtsentwicklung im Embryo in Eileiter, Gebärmutter und oberen Teil der Vagina. Durch das AHM wird der Gang zurückgebildet.

Wie sich Geschlecht entwickelt

Auch auf dieser Ebene kann es zu ambivalenten Entwicklungen in der Geschlechtsentwicklung kommen. Es gibt zum Beispiel Androgen-Resistenz-Syndrome. Bei dieser Resistenz sind die Androgene zwar vorhanden, können aber nicht wie vorgesehen wirken. Die Auswirkungen davon können trotz des 46,XY-Karyotyps zum Beispiel nur geringe Defizite in der Androgen-Wirkung, ambivalente Genitalentwicklung und sogar ein äußerlich weiblicher Phänotyp sein.

In all diesen Entwicklungsstufen gibt es durch SRY-Gen, Testosteron, AHM und weitere Aktivatoren also den „Befehl“, männliche Merkmale zu bilden. Fehlt dieser Befehl, werden weibliche Merkmale gebildet. Auf allen Ebenen der Gene, Chromosomen, Hormone, inneren und äußeren Geschlechtsorgane und der sekundären Geschlechtsmerkmale kann es während der Entwicklung aber zur Inaktivität oder Fehlfunktion kommen. Deshalb kann das medizinische Geschlecht mancher Menschen nicht immer auf allen Ebenen eindeutig den Kategorien „weiblich“ oder „männlich“ zugeordnet werden. Dann ist von Intergeschlechtlichkeit die Rede.

Wer über das Geschlecht entscheidet

Bei einer Intergeschlechtlichkeit sind also ambivalente Geschlechtsmerkmale vorhanden. Bei intergeschlechtlichen Menschen wird im medizinischen Kontext von DSD (disorders of sex development) gesprochen. Da diese Begrifflichkeit jedoch diskriminierend und pathologisierend ist, wird die Verwendung des Begriffs „Variationen der Geschlechtsmerkmale“ (VdG) empfohlen.

Intergeschlechtlichkeit ist oft nicht direkt erkennbar, fällt manchmal erst im Erwachsenenalter auf und wird häufig auch gar nicht bemerkt. Es gibt also sehr viele unterschiedliche Ausprägungen. Kommen Kinder mit ambivalenten äußeren Geschlechtsorganen zur Welt, wurden früher standardmäßig geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen. Bei der Durchführung der Operationen an Kindern und unzureichender Aufklärung der Eltern können diese Eingriffe als Körperverletzung eingeordnet werden. Diese Praxis ist inzwischen in einigen Ländern wie Deutschland verboten. In Österreich liegen keine Zahlen zur sogenannten Intersex-Genital-Verstümmelung (IGM) vor, an einem Gesetz zum „Schutz intergeschlechtlicher Kinder vor medizinisch nicht notwendigen Behandlungen“ wird gerade gearbeitet.

Der Entwurf sieht vor, dass die medizinischen Eingriffe der geschlechtsangleichenden Operationen keine medizinische Notwendigkeit darstellen und deshalb auch nicht ohne die Einwilligung der betroffenen Personen (also der Kinder) erfolgen dürfen. „Im Sinne des persönlichen Selbstbestimmungsrechts müssen geschlechtsverändernde Maßnahmen, die inhärent die höchstpersönliche Sphäre eines Menschen betreffen, auch immer die persönliche Entscheidung der betroffenen Person sein“, heißt es in der Begründung des Entschließungsantrags.

Nicht alle intergeschlechtlichen Menschen ordnen sich auch der Inter-Geschlechtsidentität zu. Denn das medizinische Geschlecht ist nicht gleichbedeutend mit der sozialen Geschlechtsidentität (gender identity). Dennoch ist es wichtig, dass jeder Mensch die für sich richtige Geschlechtseintragung beantragen kann. Für die breite Gesellschaft ist die Aufklärung über dieses Thema wesentlich, denn vielen ist zu wenig über Intergeschlechtlichkeit bekannt. Und Akzeptanz und Enttabuisierung können nur durch Information und Austausch erreicht werden.

Priska Wörl studierte zunächst Biologie und molekulare Biologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, wo sie am Cannabinoid-System forschte. Inzwischen absolviert sie das Masterstudium Molekulare Medizin an der Medizinischen Universität Innsbruck.
Priska schreibt für verschiedene Magazine zu Themen der Wissenschaft, Kultur und Gesellschaftspolitik. 

Ainsworth, C. (2015). Sex redefined. Nature, 518. 288-291.
Blackless, M., Charuvastra, A., Derryck, A., Fausto-Sterling, A., Lauzanne, K., Lee, E.
     (2000). How sexually dimorphic are we? Review and synthesis. American Journal of
    
Human Biology.
Intersexualität. Spektrum. Lexikon der Biologie. abgerufen am 14. Juni 2022.
Remus, J. Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland. Stellungnahme.
     Deutscher Ethikrat.
Wang, T., Jihong, L., Yang, J., Chen, J., & Ye, Z. (2009). 46, XX male sex reversal syndrome:
     A case report and review of the genetic basis. Andrologia. 41. 59-62.

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