Die frühen Anbaugebiete des Roggens erstreckten sich von der Nordseeküste bis hinter den Kaukasus und umfassten damit große Teile Eurasiens. Dass sich dieses Getreide im Mittel- und Nordeuropa des Frühmittelalters sowie in Teilen Russlands als Grund- oder sogar Hauptnahrungsmittel durchgesetzt hat, war kein Zufall (Mitterauer, 2003). Vor allem in unwirtlicheren Regionen wurde das Getreide aufgrund seiner Fähigkeit, auf kargem Boden zu gedeihen, sehr beliebt. Dies führte sogar zu Beinamen wie „Weizen Allahs” in den anatolischen Hochebenen (Miedaner, 2014).
Vor allem in vorindustriellen Zeiten galten die Prozesse rund um den Roggenanbau allerdings als sehr aufwendig. Er kann nur unter besonderen Zubereitungsmethoden konsumiert werden und Boden sowie fertiges Korn müssen einer schweren Aufbereitung unterzogen werden. Laut dem Wiener Historiker Michael Mitterauer (2003) waren es aber genau diese Herausforderungen, durch welche der Roggen die Gebiete nördlich der Alpen in ihrer Entwicklung vorantrieb.
Ein Getreide beeinflusst Europa
Obwohl die vertikale Wassermühle in dieser Form auch andernorts bekannt war, fand sie außerhalb Europas kaum Verwendung im größeren Maßstab. Das lag unter anderem daran, dass es Regionen, die zur gleichen Zeit eine Agrarrevolution durchlebten, entweder an den Möglichkeiten oder am Bedarf für diese Technologie fehlte. Den arabischen Kalifaten mangelte es an genügend Fließwasser, während das klimatisch vielfältige und gebirgige China der Song-Dynastie zwar über reiche Wasserressourcen verfügte, mit Reis und Hirse als Hauptnahrungsmitteln jedoch nur einen geringen Mahlbedarf hatte und die Mühle dort entsprechend kaum Verbreitung fand.
Es gibt im heutigen China Belege von Vertikalmühlen, welche Datierungen vor den europäischen aufweisen. Da aber kein unmittelbarer Mühlzwang für Reis oder Hirse besteht wurde das technische Potential nicht erkannt und die Idee einer Vertikalmühle wieder verworfen.
Laut Michael Mitterauer (2003) war die Nutzung von Wasserkraft für andere Branchen wie die Textilherstellung oder die Metallbearbeitung nach der großflächigen Anwendung in der Getreideverarbeitung ein naheliegender Schritt. Diese mit Wasserkraft angetriebenen Geräte galten als Vorreiter für die später mit Dampfkraft betriebenen Maschinen im 18. Jahrhundert und waren somit eine maßgebliche Voraussetzung für die Industrielle Revolution.
Wenn auch genu¨gsam in Bezug auf Boden und Klima, so bedurfte es doch einiger Anstrengung um die Felder fu¨r den Anbau von Roggen vorzubereiten. Mit schweren Pflügen musste der Boden durchfurcht werden, und es waren hauptsächlich Ochsen und Pferde, die das Joch dieser Arbeit spürten. Mit der Ausbreitung der Roggenkultur nahm demnach auch die Zahl der Nutztiere im mittelalterlichen Europa zu. Da man Zugtiere nicht nur hinter Pflüge, sondern auch hinter Wagen und Karren spannen konnte, machten sie sich auch im Transportwesen bemerkbar. Diese Methode stand im starken Kontrast zum damaligen China und den Kalifaten. Während China hauptsächlich auf Kanalbau und Wassertransport setzte, ermöglichte die intensive Nutzung der sehr geländegängigen Kamele den arabischen Reichen großflächige Kommunikationsstrukturen. Das Beibehalten des Zugwesens nötigte die europäische Kultur des Mittelalters, die Weg- und Straßennetzwerke weiter auszubauen. Laut Mitterauer ist auch diese starke Verbesserung der Transportinfrastruktur unter anderem der Kultivierung von Roggen zuzuschreiben.
Der Roggen im Volksmund
Durch die Allgegenwart von Roggen und Roggenfeldern entstanden zahlreiche Märchen und Geschichten rund um das Getreide. So fand unter anderem die Kornmutter, auch Roggenmutter oder Roggenmuhme, Einzug in die europäische Sagenwelt des Mittelalters. Dieser Korngeist bewache die Felder, und sehe es sich zur Aufgabe Kinder zu rauben oder gar zu t¨oten, sollten sich diese unbeaufsichtigt ins Korn hineinwagen, so ein M¨archen der Bru¨der Grimm (Grimm & Grimm, 1818). Auch ein Gedicht von Jacob Loewenberg handelt vom Tod eines im Feld spielenden Kindes durch die Roggenmuhme (Loewenberg, 1916). Einen markanten Einfluss auf die Gesellschaft und deren Aberglauben übte das Korn jedoch auf eine ganz andere Art und Weise aus, nämlich durch die Präsenz des Mutterkorns.
Das Mutterkorn: Medizin und Gift
Nicht nur für Menschen war die Roggenpflanze von großer Bedeutung: Auch dem unter dem lateinischen Namen Secale cornutum bekannten Pilz diente sie als Hauptwirt. Seinen landläufig benutzten Namen „Mutterkorn” verdankt der Pilz seiner medizinischen Verwendung. In geringen Dosen wurde er seit dem späten 15. Jahrhundert in der Frauenheilkunde und als Geburtshilfe eingesetzt. Bereits 1582 wurden Menstruationsbeschwerden mit dem Pilz behandelt und Hebammen führten Mutterkorn in Notfallbeuteln mit, um es Kreißenden bei Wehenschwächen schnell verabreichen zu können. Aufgrund seiner wehenfördernden Wirkung wurde die Pflanze gelegentlich für Abtreibungen herangezogen. Mutterkornalkaloide sind auch heute noch als Wirkstoff in vielen Pharmazeutika enthalten, beispielsweise in Medikamenten zur Behandlung von Parkinson oder von Wochenbettbeschwerden (Bayerischer Rundfunk, 2020; Desgranges, 1818; Lonitzer, 1582).
Ein im Jahr 1986 gefälltes Urteil der Kommission E - einer Sachverständigenkommission für pflanzliche Arzneimittel des deutschen Bundesgesundheitsamts - stellte sich aufgrund der hohen Giftigkeit gegen die weitere Nutzung der unverarbeiteten Pflanze (Bundesanzeiger, 1986). Bereits in geringen Mengen können intensives Hautkribbeln, Krämpfe und starke Durchblutungsstörungen auftreten. Ab einer Menge von 5 Gramm frischem Mutterkorn können die hervorgerufenen Atemlähmungen und Kreislaufversagen tödlich sein und zu Absterben von Fingern und Zehen führen. Da der Pilz am besten in feuchten und kalten, und demnach auch ernteschwachen Jahren gedieh, wurden in diesen Zeiten vor allem von der ärmeren Bevölkerung größere Mengen Mutterkorn verbacken und gegessen. Demzufolge sorgte das als Ergotismus bekannte Krankheitsbild für Massensterben und Epidemien, im schlimmsten Fall mit bis zu 40.000 Toten pro Jahr3 (Gänzle, 2011).
Auch wenn solche Massenvergiftungen seit dem 19. Jahrhundert großteils der Ver-gangenheit angehören, kam es dennoch zu Einzelfällen wie etwa in der Sowjetunion, wo zwischen 1926 und 1927 über 11.000 Menschen infolge einer Mutterkornvergiftung verstarben (Brockhaus, 2017).
Wie viele andere Unglücke fiel auch dieses in den Zuständigkeitsbereich eines christlichen Heiligen, in diesem Fall in den von Sankt Antonius. Ihm verdankt die Krankheit den damals gebräuchlichen Namen „Antoniusfeuer”, ebenso wie das Engagement des Antoniter-Ordens, der sich auf die Heilung der Krankheit spezialisierte (Dettelbacher, 2003). Lange wurde Ergotismus nicht auf eine Mutterkornvergiftung zurückgeführt, stattdessen sah man Hexerei oder Besitzergreifung durch den Teufel als Ursache für die Seuche. Eine Mutterkornvergiftung kann auch Halluzinationen und Wahnvorstellungen hervorrufen, was den mittelalterlichen Trend, große Übel auf Heidentum und Teufelswerk zu schieben, noch verstärkte. Einige Historiker:innen bringen sogar Hexenverfolgungen und deren Hinrichtungen mit vorangehenden Mutterkornvergiftungen in Verbindung, wie etwa die Hexenverfolgung in der norwegischen Finnmark im 17. Jahrhundert. (Mitterauer, 2003; Flamm, 2022).
Die Entdeckung des LSD
Ein Zufall war es, welcher der psychoaktiven Wirkung des Pilzes zu weiterer Bekanntheit verhelfen sollte. Um 1938 synthetisierte der Schweizer Chemiker Albert Hofmann aus Mutterkornalkaloiden Lysergsäurediethylamid (LSD), in der Hoffnung, ein Atem- und Kreislaufstimulans zu entwickeln. Nach anfänglichen Misserfolgen legte er das Projekt auf Eis, stellte die Verbindung aber 1943 einer Eingebung folgend erneut her (Petersen, 2023).
Unbeabsichtigt gelangte damals eine geringe Menge der Substanz in seinen Körper. Die Auswirkungen auf seinen Körper weckten seine Neugier, und er führte kurz darauf einen größeren Selbstversuch durch. Die psychischen Auswirkungen auf Hofmann waren derart ausgeprägt, dass er sich von seiner Assistentin, die wenige Wochen später die erste Frau war, die LSD zu sich nehmen sollte, nach Hause begleiten lassen musste. Diese Heimfahrt mit dem Fahrrad wurde zum Namensgeber des in der Popkultur bekannten Bicycle Day.
Ab 1947 sollte LSD unter dem Namen Delysid von der Firma Sandoz in der Psychotherapie eingesetzt werden. Aufgrund zahlreicher Missbrauchsfälle und Unfälle, auch während der Hippie-Ära in Amerika, wurde LSD 1966 in den USA verboten, in Österreich fünf Jahre später. Diese Verbote brachten die Forschungsarbeiten an therapeutischem LSD nahezu vollständig zum Erliegen – ein Zustand, von dem sie sich erst in den frühen 1990er Jahren wieder erholen sollten. Einen großen Durchbruch verzeichnete das Lysergsäurediethylamid dennoch, ”[stieß sie doch] mit Lithium, 5-HT und Chlorpromazin [...] das Fenster zur Psychopharmakologie auf” (Petersen, 2023).
Gut fürs Klima, gut für uns!
Mit seiner vielfältigen Vergangenheit scheint der Roggen heute nicht mehr mithalten zu können. Die Beliebtheit des Getreides sinkt – nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland und Bulgarien. Es bleibt fraglich, ob Roggengebäck wieder zum täglichen Brot aufsteigen wird (Bulgarischer Nationalrundfunk, 2020; Greenpeace, 2018; Österreichischer Rundfunk, 2013).
Dabei wäre Roggen nicht nur aufgrund seiner Geschichte interessant. Warum dieses Korn für uns als Gesellschaft (wieder) mehr Beachtung verdienen würde, liegt an seinem Einfluss auf die Gesundheit der Menschen und nicht zuletzt an seinen Auswirkungen auf das Klima. Während die Anteile von Kohlenhydraten, Eiweißen und Fetten mit denen von Weizen oder Dinkel vergleichbar sind, weist Roggen ein deutliches Plus im Hinblick auf Ballaststoffe (über 6 %) und Pentosane auf. Letztere gehören zur Familie der Schleimstoffe, denen wichtige Vitalfunktionen wie Sekretbildung oder der Erhalt der Darmflora innewohnen.
Laut einer Schwedischen Studie (Isaksson, 2014) kann eine auf Roggen basierende Mahlzeit im Vergleich zu anderen Getreidesorten für ein erhöhtes Sättigungsgefühl sorgen, das bis zu acht Stunden anhalten kann. Außerdem besitzt das Getreide einen sehr niedrigen glykämischen Index, wodurch die Anfälligkeit für Heißhungerattacken nach dem Verzehr noch weiter reduziert wird. Der gesundheitsförderliche Aspekt ist jedoch nicht das Einzige, mit dem Roggen überzeugen kann. Roggen ist ein sehr anspruchsloses und genügsames Getreide, was Bodenqualität und Witterungsschwankungen betrifft, weshalb ein Anbau in den meisten Regionen Mittel- und Nordeuropas sehr gut möglich ist. Durch den regionalen Bezug werden Transportwege verringert und somit die Freisetzung von Treibhausgasen reduziert.
In puncto Emissionen gelingt dem Roggen aber noch ein weiteres Kunststück: Im direkten Vergleich mit dem Hauptkonkurrenten Weizen hebt er sich auch durch seine Klimafreundlichkeit im Anbau hervor. Forschungsergebnisse, die im Jahr 2022 veröffentlicht wurden, belegen, dass der Produktionszyklus bestimmter Roggensorten bis zu 20 Prozent weniger CO₂-Äquivalente emittiert als der gleiche Prozess für den gängigen Winterweizen (Riedesel, 2022).
Abschließend lässt sich sagen: Die Kultivierung des Roggens hat nicht nur geschichtlich tiefe Wurzeln, sondern könnte auch eine klima- und umweltfreundlichere Zukunft der (nicht nur) europäischen Ernährung ermöglichen. Gerade unter den Bedingungen des Klimawandels mit zunehmenden Wetterextremen, degradierten Böden und wachsenden Anforderungen an regionale Ernährungssysteme besitzt Roggen das Potenzial, seine Vielseitigkeit erneut unter Beweis zu stellen. Angesichts des sinkenden Konsums des Getreides bleibt jedoch fraglich, ob Roggengebäck wieder zum täglichen Brot aufsteigen wird.
Bayerischer Rundfunk. (2020). Mutterkorn im Getreide: Einst gefürchtet, heute unter Kontrolle. Verfügbar 10. September 2025 unter https://www.br.de/nachrichten/wissen/ mutterkorn-im-getreide-einst-gefuerchtet-heute-unter-kontrolle,Sed6JrE
Brockhaus. (2017). Ergotismus. In Abenteuer Geschichte.
Bulgarischer Nationalrundfunk. (2020). Bulgaren essen immer weniger Brot. Verfügbar 10. September 2025 unter https://bnr.bg/de/post/101258811/bulgaren-essen-immer-weniger-brot?page14=1
Bundesanzeiger. (1986, 18. September). Negativ-Monographie für Secale cornutum.
Desgranges, J.B. (1818). Sur la propri´et´e qu’a le Seigle ergot´e d‘acc´el´erer la marche de l’accouchement, et de hˆater sa terminaison. Nouveau Journal de M´edecine, 1, 54–61.
Dettelbacher, W. (2003). Vom Wirken der Antoniter in Würzburg. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, 22, 81–88.
Flamm H. Der Ergotismus – ein Ackerunkraut aus Mesopotamien wurde in Europa zum noch immer aktuellen Epidemie-Erreger [Ergotism-a weed from Mesopotamia became an epidemic pathogen in Europe]. Wien Med Wochenschr. 2023 Nov;173(15-16):374-392. German. doi: 10.1007/s10354-022-00960-z. Epub 2022 Aug 31. PMID: 36045264. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10632199/
Gänzle, M. (2011). Eintrag zu Ergot-Alkaloide [Abgerufen am 9. November 2011].
Greenpeace. (2018). Nachhaltigkeit im Test. Zahlen & Fakten rund um Brot. Verfu¨gbar 10. September 2025 unter https://greenpeace.at/uploads/ 2022/07/greenpeacemarktcheck testmischbrot zahlenfakten mai2018. pdf
Grimm, W., & Grimm, J. (1818). Deutsche Sagen [Band 2]. Nicolai’sche Verlagsbuchhandlung.
Isaksson, H. (2011). Satiating effects of rye foods (No. 2011: 99).
Langlitz, N. (2007). The Revival of Hallucinogen Research since the Decade of the Brain. BioSocieties. 1, 2006, S. 2.
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Lonitzer, A. (1582). Kreuterbuch [Blatt CCLXXXVr]. Egenolff.
Miedaner, T. (2014). Kulturpflanzen. Botanik – Geschichte – Perspektiven.
Springer.
Mitterauer, M. (2003). Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs [Erstes Kapitel]. C.H.Beck.
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September 2025 unter https://noe.orf.at/v2/tv/stories/2577771/
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kulturhistorische Spurensuche [Siebtes Kapitel]. Springer.
Riedesel, L. e. a. (2022). Breeding progress reduces carbon footprints of wheat and rye. Journal of Cleaner Production, 377. https://doi.org/10.1016/ j.jclepro.2022.134326
