Warum das wichtig ist: Yoga erobert weltweit die Herzen der Menschen: Mehr als 300 Millionen Menschen suchen in den Übungen und der Lehre nach sportlicher Betätigung oder philosophischer Einsicht –Tendenz klar steigend. Während Yoga im Westen vor allem unter dem Zeichen eines ganzheitlichen Wohlbefindens steht, ist es in Indien Teil eines politischen Erdbebens. Dort arbeitet die Regierung von Narendra Modi daran, Yoga weltweit unter ihre Kontrolle zu bekommen. Sind die Tage der freien Yoga-Studios gezählt?
Die indische Regierung hat die Mittel, ihre Deutung von Yoga zu forcieren. Neben Ausweisungen von Kritiker:innen, kann auch ein Visumsantrag nach Indien verwehrt werden. Deshalb wird dieser Artikel anonym veröffentlicht.
Wer an Yoga denkt, hört zunächst regelmäßige Atemgeräusche, spürt vielleicht die weiche Yogamatte unter sich, sieht womöglich eine Gruppe von Menschen in pastellfarbener Kleidung vor sich, die gleichzeitig fließende Bewegungen ausführen.
Dieses Bild von Yoga ist im Westen weit verbreitet und soll psychisches sowie körperliches Wohlbefinden vermitteln. Yoga als die ersehnte Auszeit nach einem hektischen Arbeitstag oder aber: Die Übungen als Vorbereitung für die oft überfordernde Arbeitswelt.
Diese Art von Yoga steht also scheinbar unter den Vorzeichen von Wellness und Selbstoptimierung und ist damit längst in den Kapitalismus eingegliedert – ein Widerspruch zur ursprünglich gesellschaftskritischen Funktion der Praxis.
„Yogis waren extreme Menschen, die aus der Gesellschaft ausgestiegen sind und sich auf extreme Wege einließen“, sagt Arno Böhler, Professor für Philosophie an der Universität Wien, der unter anderem zur Philosophie des Yoga forscht, im alexandria-Gespräch. „Und das hat Yoga im Westen völlig verloren.“
Böhler, der selbst Yoga praktiziert und die Kunst vor Jahren in Indien erlernte, steht dem Wandel von Yoga im Westen also skeptisch gegenüber. Wenn Bieryoga und After-Work-Sessions im Yogastudio nicht mehr viel mit der ursprünglichen Tradition zu tun haben, sind dann nicht jene Kräfte innerhalb Indiens im Recht, die mit aller Kraft die Deutungshoheit über Yoga zurück in den Subkontinent holen wollen?
Es sind namentlich der indische Premierminister Narendra Modi und seine Partei BJP (Bharatiya Janata Party, übersetzt: Indische Volkspartei), die Yoga als gefährdetes Kulturgut für sich entdeckt haben und aus Sonnengruß, Herabschauendem Hund und Co. politisches Kapital schlagen wollen. Im Westen verkannt und in Indien benutzt, ist Yoga so in den Brennpunkt eines globalen Kulturkampfes geraten – der weit vom historischen Kern der Lehre entfernt ist.
Der globale Markt um Yoga erreichte 2022 einen Wert von fast 105,9 Milliarden US-Dollar und soll bis 2028 um schätzungsweise 9 Prozent steigen. Neben der Industrie um Yoga-Kleidung trägt vor allem der Yoga-Unterricht zu diesem Marktwert bei. Yoga kann dadurch auf eine Erwerbstätigkeit reduziert werden und seine ursprüngliche Bedeutung als spiritueller Lebensweg gerät so zunehmend in den Hintergrund. (Expert Market Research, 2022)
Die Yoga-Praxis erfreut sich im Westen großer Beliebtheit - der Lotussitz ist eine der Grundpositionen.
Der Beginn von Yoga
Wollen wir die Veränderungen von Yoga verstehen, müssen wir von vorne beginnen: Der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Yoga ist in den Yoga-Sutren von Patanjali zu suchen. Der indische Gelehrte hat diese Schriften wohl zwischen dem zweiten Jahrhundert vor und dem vierten Jahrhundert nach Beginn unserer Zeitrechnung verfasst, obwohl ihr genauer Entstehungszeitraum ungewiss ist.
Bereits am Beginn dieses Grundlagentexts wird Yoga als „jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen“ ausgewiesen, denn „dann ruht der Sehende in seiner Wesensidentät". (Patanjali, 2010)
Was bedeutet das? Im Alltag sind wir oft mit unseren Sorgen und Gedanken beschäftigt, müssen Rollen ausfüllen und uns Meinungen bilden. Dabei, so lehrt Yoga, laufen wir aber Gefahr, uns zu sehr mit diesen Bildern, die wir von uns machen, zu identifizieren: Ich als Student:in, ich als Österreicher:in. Doch auch über den Lauf der Welt machen wir uns Bilder, denen wir zu viel Glauben schenken, etwa über die Bedeutung von Geld, Macht – oder Hautfarbe.
Yoga als Lebensweg anzunehmen, bedeutet nach Patanjali das Loslassen all dieser Bilder, die wir von uns selbst und der Welt haben, ein Loslösen von Konzepten, an denen wir hängen, eine Befreiung von Vorstellungen, mit denen wir uns fälschlicherweise identifizieren.
Das mag vage klingen, doch legt man die Ziele des Yoga genauer fest, geht man bereits an der Sache vorbei, wie Böhler weiß: „Ich komme nicht mit einem fertigen Verständnis in die Yogapraxis hinein, sondern ich folge in gewisser Weise meinem Herzen, das irgendwohin will - wohin genau, weiß es vorher nicht. Das macht die Sache auch so schwierig.“
Ein Zitat aus dem Yoga-Sutra von Patanjali, dem Grundlagentext des Yoga, in Sanskrit und der deutschen Übersetzung
Der achtfache Weg
Um die Loslösung von den inneren Bildern zu erreichen, haben Yogi:nis Körper- und Atemübungen erdacht – auf die Yoga im Westen oft reduziert wird. Doch so geraten zentrale Gedanken der Yoga-Philosophie aus dem Blick, wie sie im achtfachen Pfad dargelegt werden. Dabei handelt es sich um einen Leitfaden für eine yogische Lebensweise, der über acht aufeinander aufbauenden Schritten zur Erleuchtung führt.
Während die ersten beiden Glieder den richtigen Umgang mit der unmittelbaren Umwelt, der Welt und letztlich mit sich selbst vermitteln und daher für alle Menschen gelten, richtet sich der Pfad ab dem dritten Glied speziell an Yoga-Praktizierende.
Die erste dieser Etappen ist wohl allen bekannt, die sich schon einmal mit Yoga beschäftigt haben: asana.
Während asana im Westen oft als Körperübung verstanden wird, meint es vielmehr die Einübung einer Sitz- oder Körperhaltung, in der man ohne Anstrengung und in völliger Gelassenheit verharren kann. Es geht also nicht um Sport, sondern um die körperliche Voraussetzung für den nächsten Aspekt: pranayama, das Atemübungen meint.
Was muss am Atmen geübt werden, ist man versucht zu sagen. Doch die Atmung ist im Yoga besonders wichtig, da sie eine Schnittstelle zwischen dem Bewusstsein und dem Unterbewusstsein bildet.
„Sie vollzieht sich einerseits automatisch und unterbewusst, andererseits kann sie mit dem Willen bewusst gestaltet werden“, meint Arno Böhler. So äußern sich Emotionen, wie Angst oder Freude, auch über bestimmte Atemmuster, die mit Atemtechniken kontrolliert werden können.
Die Atemübungen werden vom fünften Glied, pratjahara, ergänzt, was das langsame Nach-Innen-Wenden der Sinne bedeutet: Erst indem die natürliche Neigung der Menschen, sich auf äußerliche Dinge zu konzentrieren – das neue Handy, das Traumauto, der nächste Partner – durchschaut wird, kann sich laut Yoga die Fixierung auf innere und äußere Gegebenheiten auflösen.
In der Yoga-Praxis finden demnach Körper, Atmung und Geist zusammen, wodurch das Tor zu den letzten drei Gliedern und damit zur Erkundung eines allmählich eintretenden Zustands der Leerheit eröffnet wird. Letztlich kann dies im yogischen Erleuchtungszustand, dem samadhi, münden. (Patanjali, 2010)
Der Weg in den Westen
Wenn Yoga nun mitunter all diese Aspekte umfasst, drängt sich die Frage auf, weshalb ausgerechnet die Körperübungen die allgemeine Wahrnehmung von Yoga derart prägen? Die Antwort darauf fällt nicht leicht, denn die Entwicklung des Yoga im 20. Jahrhundert ist eine komplexe.
Die globale Popularität von Yoga wird oft auf eine Rede vom hinduistischen Mönch Swami Vivekananda aus dem Jahr 1893 zurückgeführt. Dieser sprach vor dem Weltparlament der Religionen in Chicago über die Philosophie von Yoga und brachte es damit in den interreligiösen Diskurs - Körperübung spielten dabei aber noch keine Rolle. Durch die starke mediale Rezeption dieser Rede und einigen weiteren Vorträgen in den USA, trat Yoga also zum ersten Mal auf die westliche Bühne.
War Yoga noch während der britischen Herrschaft in Indien verpönt – ähnlich der Hexerei – machte sich der Yogi Krishnamacharya in den 20er und 30er Jahren einen Namen. Er gilt als einer der zentralen Figuren in der Entwicklung des modernen Yoga und seine auf Körperübungen fokussierte Art des Yoga wurde von seinen Schülern in Indien als auch im Westen verbreitet. Seine Schülerin Indra Devi wurde beispielsweise bekannt dafür, Körper- und Atemübungen Hollywood-Stars näherzubringen. Eine andere populäre Strömung wurde durch den Yoga-Lehrer Iyengar begründet, der einen besonderen Wert auf die präzise und langsame Ausführung der Körperübungen legte.
„Der britische Yoga-Gelehrte Mark Singleton vertritt die Theorie, dass die Body-Building Kultur des Westens einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Yoga hatte. Das heißt, dass Körperübungen stark gemacht wurden und eigentlich eine Reflexion von Yoga auf westliche Strukturen stattfand“, erläutert Arno Böhler.
Einerseits geht es also auf berühmte Figuren wie Krishnamacharya zurück, dass wir Yoga hauptsächlich als Körperübungen kennen. Andererseits wurde in den 20er und 30er Jahren in den USA Yoga auch von indischen Migrant:innen verbreitet, die von Vorträgen und Yoga-Unterricht lebten. In den 1960er wurden in den USA Yoga-Übungen auch per Fernseher übertragen, um ein breiteres Publikum zu erreichen und später mit dem Aufstieg der Fitnessindustrie per Kassette und DVD vermarktet. Natürlich ging Yoga nicht an der Hippie- und New Age-Bewegung vorbei. (Deslippe, 2019)
Yoga erlangte in Indien sowie im Westen also eine stetig wachsende Popularität. Da mittlerweile Millionen Menschen auf der ganzen Welt täglich Yoga praktizieren, lässt sich daraus sehr gut Kapital schlagen, im wirtschaftlichen, aber auch im politischen Sinne.
Modis Welt
Am 27. September 2014 trat Narendra Modi vor die Generalversammlung der Vereinten Nationen und präsentierte Yoga als ein Geschenk Indiens an die Welt. Danach ging es Schlag auf Schlag: Noch im selben Jahr wurde der 21. Juni zum Weltyogatag erklärt, 2016 Yoga in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen. (United Nations, 2023)
Seit 2015 synchronisieren jährlich am 21. Juni eine Heerschaar an Yoga-Praktizierenden ihre Körperhaltungen. Obwohl die spirituelle Relevanz des Yoga in Modis Ansprachen immer deutlich im Vordergrund steht, wird Yoga zum Massenphänomen: In Videoübertragungen zeichnen sich auf riesigen Plätzen zehntausende Silhouetten ab, die sich gleichförmig auf der Stelle bewegen. Die Botschaft ist klar: Indien ist das Land des Yoga und des spirituellen Erwachens.
Um besser zu verstehen, wie Yoga in das politische Programm der BJP passt, sollte man sich dessen Grundzüge vor Augen halten: Es orientiert sich primär an den Ideen des hindu-nationalistischen Schriftstellers und Aktivisten Vinayak Damodar Savarkar. Dabei tritt insbesondere seine Geschichtserzählung hervor, in der Indien vor allem als Opfer äußerer Mächte dargestellt wird. So entsteht das Idealbild einer Blütezeit vor der muslimischen und britischen Kolonialisierung. Um Indien wieder zu einer Blüte zu führen, müssen nach dieser Logik äußere Einflüsse beseitigt werden. (Savarkar, 1969)
Die Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) ist mit 180 Millionen Mitgliedern die größte politische Bewegung der Erde und steht der militärischen Freiwilligenorganisation RSS, die selbst fünf Millionen Mitglieder zählt, äußerst nahe. Beide Organisationen sind Teil der Hindutva-Bewegung, dessen hindu-nationalistisches Programm insbesondere durch Savarkars Schrift „Hindutva: Who is a Hindu?“ artikuliert wurde.
Hier setzte die BJP an, als sie 2019 ein neues Gesetz einführte, laut dem alle indischen Staatsbürger:innen bestätigen mussten, dass sie oder ihre Vorfahren seit 1971 in Indien lebten. Im Zuge dessen verloren vier Millionen Menschen, insbesondere Muslime, die indische Staatsbürgerschaft. Modi verkündete daraufhin über Twitter: “A landmark day for India and our nation’s ethos of compassion and brotherhood!” (Times of India, 2019)
Indien soll also ein Land für Hindus sein. Doch was ist ein Hindu? Savakar nennt unter anderem auch ein geographisches Merkmal: Ein Hindu lebt im Bereich der sieben Flüsse, die in den ältesten überlieferten hinduistischen Schriften, den Veden, von großer Relevanz sind. Nun fließt jedoch beispielsweise der Indus größtenteils durch Pakistan, was diese Definition in Frage stellt.
Das Unterfangen der BJP, einen hinduistischen Nationalstaat zu schaffen, scheint zudem inhärent widersprüchlich.
„Ein hinduistischer Nationalstaat ist eine völlig koloniale, europäische Idee und hat überhaupt keine Wurzeln in den Texten der indischen Kultur“, sagt Arno Böhler. „Das ist keine Dekolonialisierung, sondern eine Rekolonialisierung Indiens von innen.“
Der Fluss Indus fließt größenteils durch Pakistan - woran sich politische Konflikte entzünden
Die neue Uniform
In diesen Erzählungen findet auch Yoga seinen Platz. Bedenkt man, dass 2007 der damals in den USA aktive Yoga-Lehrer Bikram Choudhury versucht hat, seine Yogaübungen patentieren zu lassen, scheint es einleuchtend, Yoga als Kulturgut zu schützen. (Hartenstein, 2019)
Doch wenn nun zehntausende Menschen am Weltyogatag zusammen mit Modi die gleichen Körperübungen ausführen, zeichnet sich ab, dass dieser Schutz im Zeichen des Hindunationalismus steht und die klassische Yoga-Lehre weit verfehlt.
Einerseits verkennt Yoga als Massenphänomen den Einzelnen und dessen individuelle Position auf dem Yoga-Weg. Andererseits widerspricht eine Universalisierung der Yoga-Technik der klassischen Yoga-Lehre.
„Nach dieser endet die Übbarkeit nach dem fünften Glied, also das, was wir mit unserem Willen machen können. Die drei inneren Glieder haben wesentlich mehr mit dem Prinzip der Gnade zu tun“, sagt Arno Böhler.
Während die indische Deutungshoheit über Yoga bereits ausgestrahlt wird, könnte sie durch verpflichtende Richtlinien für Yoga-Studios auf der ganzen Welt forciert werden. So gliedert sich auch Yoga in den Diskurs der kulturellen Aneignung ein, denn wer hat das Recht, sich über Yoga zu äußern? Durch die politische Instrumentalisierung der BJP wird die Deutungshoheit über Yoga an die indische Staatbürgerschaft gekoppelt. Doch handeln die Yoga-Sutren von der Sinneswahrnehmung, von der Atmung und allgemein von menschlichen und kosmischen Prinzipien. Diese auf die nationale Ebene zu reduzieren, kommt einem sonderbaren Kurzschluss gleich.
Arno Böhler ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und unterrichtet mit einem Schwerpunkt auf indische Philosophie. Er erhielt bei Desikachar, einem Sohn Krishnamacharyas, Yogaunterricht und praktiziert Yoga bis heute.
Expert Market Research. (2022). Global Yoga Market Outlook. Zuletzt abgerufen am 22.
Juni 2023.
Patanjali. (2010). Die Wurzeln des Yoga: Die klassischen Lehrsprüche des Patanjali. Hrsg. P.
Y. Deshpande. Übers. von Bettina Bäumer. O.W. Barth.
Deslippe, P. (2019). Yoga Landed in the U.S. Way Earlier Than You’d Think – And Fitness
Was Not the Point. History. Zuletzt aufgerufen am 22. Juni 2023.
United Nations. (2022). 9th International Day of Yoga. Zuletzt aufgerufen am 22. Juni
2023.
Savarkar, V. D. (1969). Hindutva. Who is a Hindu? Savarkar Sadan.
Times of India. (2019). Landmark day for India, says PM Modi. Zuletzt aufgerufen am 22.
Juni 2023.
Hartenstein, M. (2007). Indian Government in Knots Over U.S. Yoga Patents. ABC News.
Zuletzt aufgerufen am 22. Juni 2023.