Indigener Totenritus

Kolonisation endet nicht mit dem Tod der Kolonisierten: Die letzte Ruhe wurde und wird bis heute nicht respektiert. Was das für die Betroffenen bedeutet. 

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des alexandria-Themenschwerpunkts Leben nach dem Tod, in dem wir uns diesem Thema aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven nähern.

Warum das wichtig ist: Weltweit warten indigene Gemeinschaften noch immer auf die Rückkehr zigtausender menschlicher Überreste, die durch Grabraub an Museen, Institute und private Sammlungen kamen. Die Repatriierung des Gestohlenen ist für die Betroffenen von großer Bedeutung, und ein wichtiges Zeichen, dass ihre Traditionen nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Verfolgung respektiert werden.

1620. Eine Gruppe englischer Protestant:innen sucht nach Maisvorräten. Dabei stoßen sie auf die Überreste eines indigenen Kindes, ein kleines Mädchen, das mit Perlenketten begraben wurde. Die englischen Siedler:innen begraben das Kind erneut, diesmal ohne ihre Ketten, die sie ihr ab- und mitnehmen.

Diese Geschichte, die unmittelbar nach der europäischen Besiedlung Nordamerikas stattfand, ist nur eine von vielen. Als wäre die Unterdrückung ihres Glaubens, ihrer Kultur und ihrer Sprache nicht genug, waren die europäischen Kolonisten gleichzeitig gefesselt von der Kultur und den Bräuchen, die sie verboten hatten.
Mit den gestohlenen heiligen Artefakten war man aber nicht zufrieden, menschliche Überreste wurden ebenso mitgenommen. Die Faszination für die Einheimischen Amerikas und miteinhergehende Verletzung ihrer Rechte und Totenruhe hat eine lange, dunkle Tradition in den Vereinigten Staaten. (Daehnke & Lonetree 2011)

Bestattungsrituale sind ein integraler Bestandteil der indigenen Kulturen. Kontakt mit einem toten Körper als auch Autopsien sind bei vielen Stämmen verboten, einige raten auch von Organspenden ab.

Die hunderten Stämme auf dem nordamerikanischen Kontinent haben alle ihre eigene Kultur, einen tief verwurzelten Widerstand gegenüber dem Ausgraben von Toten ist jedoch eine Gemeinsamkeit. Aus der Sicht der Indigenen finden Persönlichkeitsrechte mit dem Tod kein Ende.

Die Körper der Verstorbenen wurden auf eine bestimmte Weise beigesetzt, die für sie persönlich und kulturell wichtig war. Die Störung von Gräbern ist daher ein Akt von Respektlosigkeit. Das Leben nach dem Tod wurde für viele Hinterbliebene dadurch zu einem Kampf nach Gerechtigkeit. (Cacciatore 2007; Colby 2016; Echo-Hawk 1989)

Schattenseite der Aufklärung

Der wohl bekannteste Grabräuber Nordamerikas ist der dritte Präsident der USA und Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson (1743-1826). Jefferson war stark beeinflusst von den Ideen der europäischen Aufklärung und der Forderung nach empirischen Daten und vernunftbasierter Forschung. Aber auch Vorstellungen von Rassen und Hierarchien basierend auf Hautfarbe und Herkunft waren ein Resultat der Aufklärung.
Der Präsident schrieb über Schwarze und Indigene und wollte die von ihm vermeintlich festgestellten Unterschiede zwischen den Rassen wissenschaftlich untersuchen und verstehen.

Dies war auch seine Motivation, als er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen indigenen Grabhügel in der Nähe seines Anwesens ausgraben ließ. Jefferson wollte mehr über die Ausgrabungspraktiken wissen, etwa ob die Vergrabenen bei Gefechten fielen oder eines natürlichen Todes starben.

Anstatt das Grab zu zerstören, hätte Jefferson die Einheimischen selbst fragen können, es war bekannt, dass sie den Hügel immer wieder besuchten. Ein schwacher Trost: Jefferson nahm die Überreste nicht mit. Das Stehlen von Knochen, um die Überlegenheit der „weißen Rasse“ zu beweisen, sollte erst im 19. Jahrhunderts Mode werden. (Daehnke & Lonetree 2011)

Grabhügel

Der Grabhügel Mound B in Etowah, Mississippi; die Muscogee Creek und die Cherokee betrachten diesen Ort als heilig (© Kåre Thor Olsen)

Ausgebeutete Überreste

Das Sammeln menschlicher Skelette wurde im 19. Jahrhundert populär: Man verwendete sie, um die physischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern zu erklären. Anthropologen sammelten aktiv menschliche Überreste für ihre Forschung. Schädel waren die beliebtesten Objekte, von ihrer Größe wollte man auf Intelligenz und Charakter schließen. Keine große Überraschung: Samuel Morton (1799-1851), Begründer des wissenschaftlichen Rassismus, war der Meinung, dass der weiße Mann den größten Schädel hätte und daher am intelligentesten wäre.

Tatsächlich ist der Diskurs um Schädelgrößen ein Spiegel politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Im 19. Jahrhundert repräsentierte der angeblich größere Schädel weißer Menschen die europäische Expansion.
Im 20. Jahrhundert gewann die Behauptung, dass Ostasiat:innen den größten Schädel haben, an Bedeutung, gleichzeitig mit dem wachsenden wirtschaftlichen Erfolg Japans in den 1970er Jahren. (Lieberman 2001)

Ob die Größe des Gehirns tatsächlich mit Intelligenz korreliert, ist ein kontroverses und komplexes Thema. Eine größere Masse des Gehirns ist kein Indikator für höhere Intelligenz.
Das zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Spezies – ein Elefant verfügt über ein viel größeres Hirn als der Mensch, hat aber nicht die gleichen kognitiven Fähigkeiten. Größere Hirne bieten potenziell mehr Platz für neuronale Verbindungen, die kognitive Leistungsfähigkeiten unterstützen können, sind aber kein Garant für fortgeschrittene Intelligenz.
Ein größeres Gehirn kann vorteilhaft sein, ist es aber nicht zwingend. Keinesfalls kann die Schädelgröße von Bevölkerungsgruppen also als Indikator ihrer Intelligenz herangezogen werden – dieser Irrglaube ist wissenschaftlich längst widerlegt.

Morton warb dafür, dass Soldaten und Siedler Überreste der Einheimischen einsammelten, damit er mehr Material für seine Forschung hatte. Aufgrund der massiven Todesfälle bei den indigenen Völkern war es nicht schwer, genügend Skelette zu finden. Die Knochen und spirituellen Artefakte wurden an Museen verkauft, einige Knochen fanden sich in Kollektionen in Europa wieder. 2016 wurde die Zahl von Überresten amerikanischer Einheimischer in Museen auf etwa 500.000 geschätzt.

Untersuchungen an indigenen Überresten

Zwei Mitglieder der Ogiala Sioux untersuchen indigenes Kulturgut, das repatriiert werden soll (© AP Photo/Philip Marcelo)

Folgen der Kolonisation

Die Definition von Kolonialismus wird seit Jahrzehnten, insbesondere seit den Dekolonisationen afrikanischer und asiatischer Länder in den 1950er und 1960er Jahren diskutiert.
Der „alte Kolonialismus“ der europäischen Expansion im 15. bis zum 17. Jahrhundert ist etwas einfacher zu erklären als moderne Ausprägungen des Kolonialismus und beschreibt die Eroberung eines Gebietes außerhalb des eigenen Landes und der dort lebenden Menschen sowie die wirtschaftliche, kulturelle und politische Kontrolle über jenes Gebiet.

Kolonialismus wird oft auch mit der Ausbeutung der Einheimischen verbunden. Kolonisierung war insbesondere während des Zeitalters der europäischen Expansion im 15. bis 17. Jahrhundert weit verbreitet und führte zur Gründung zahlreicher europäischer Kolonien in Afrika, Amerika, Asien und Australien. Mit der Kolonisierung verknüpft war die Christianisierung, die als Instrument der Eroberung und kulturellen Umgestaltung eingesetzt wurde. (Horvath 1972; Bhardwaj 2023)

Die Motive für Kolonisierung waren vielfältig: die Erschließung neuer Handelsmöglichkeiten, Suche nach Rohstoffen, Sklavenarbeit und Ausbeutung, Ausdehnung der Macht sowie Verbreitung der eigenen Kultur und Religion, aber auch Flucht und Vertreibung, wie im Fall der englischen Protestant:innen, die im 17. Jahrhundert auf den Nordamerikanischen Kontinent flüchteten, um religiöser Verfolgung zu entgehen.

Für die Einheimischen ging Kolonisierung mit massivem Leid und Ausbeutung einher. Den Waffen waren sie genauso unterlegen wie den Krankheiten, die die Europäer:innen in die für sie unbekannten Länder brachten.
Um nur ein Beispiel zu geben: 1520 lebten auf dem Gebiet des heutigen Floridas 700.000 Indigene, bis zum Jahr 1700 sank diese Zahl aufgrund von weitverbreiteten Krankheiten auf 2000.
Die ankommenden Europäer:innen waren meist asymptomatisch und verbreiteten unbewusst Krankheiten – wobei Zweifel bestehen, ob dies tatsächlich immer unbewusst geschah. Der britische Offizier Jeffrey Amherst etwa soll der indigenen Bevölkerung im heutigen Pittsburgh absichtlich infizierte Decken und Tücher gegeben haben.

Widerstand

In den 1960er Jahren organisierten indigene Einwohner:innen Demonstrationen, um für ihre Bürgerrechte einzustehen und begründeten 1968 die Aktivist:innengruppe „United Native Americans“ (dt. Vereinigte Indigene Amerikaner).

Höhepunkte dieser Demonstrationen waren die Besetzung der Insel Alcatraz durch die Gruppe „Indianer aller Stämme“ von 1969 bis 1971 und die Besatzung des Mount Rushmore 1970, als Mitglieder:innen der United Native Americans auf den Berg kletterten. Der Mount Rushmore, in der Sprache der Lakota, einer der ursprünglichen Stämme des Gebietes, „Sechs Großväter“ genannt, ist eine heilige Stätte.

Nach Jahrzehnten von Protesten kam es 1990 zu der Verabschiedung des Native American Graves Protection and Repatriation Act (dt. Gesetz zum Schutz und zur Rückführung von Gräbern der amerikanischen Ureinwohner).
Das Gesetz verpflichtet Museen, wissenschaftliche Institutionen und Bundesbehörden, menschliche Überreste und kulturelle Gegenstände, die in ihren Sammlungen gehalten werden, an die entsprechenden nordamerikanischen und hawaiianischen Stämme zurückzugeben. Zusätzlich dazu legt der NAGPRA Bestimmungen fest, die die Zusammenarbeit und Konsultation zwischen den Sammlungseinrichtungen und den betroffenen indigenen Gemeinschaften fördern.

Es herrscht aber auch Kritik an dem Gesetz: An einer Stelle des Gesetzes ist festgelegt, dass ein Museum Überreste behalten darf, die für ihre Forschung unabdingbar sind. Dies ist ein eklatanter Widerspruch zu dem Glauben der Indigenen, dass ein Körper, der ausgegraben wurde, so schnell wie möglich wieder begraben werden muss, damit der Geist ruhen kann.

Ein Beamter, der für die Rückführung von Überresten verantwortlich ist und selbst den Lakota angehört, beschreibt es folgendermaßen: „Meine Vorfahren sind kein Buch. Wenn ich sterbe und begraben werde, möchte ich nicht ausgegraben und für ein Buch gehalten werden. Wir denken, dass es sehr arrogant oder ignorant ist. Wie kommt ihr dazu zu sagen, dass ihr wisst, wer wir sind? Wir wissen, wer wir sind. Wir wissen, wo wir herkommen.“ (Pensley 2005)

Ein Vorgänger dieses Gesetzes ist der National Museum of the American Indian Act (dt. Gesetz für das Nationalmuseum des Amerikanischen Indianer), welches 1989 zur Gründung des „Nationalmuseums der Indianer“ in Washington D.C. führte. (Daehnke& Lonetree 2011)

Besetzung Alcatraz

Indigene besetzen Alcatraz, um auf die Verletzung ihrer Rechte aufmerksam zu machen Associated Press)

Der Kampf der Indigenen dauert bis heute an

Der Native American Graves Protection and Repatriation Act ist ein Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Würde der indigenen Völker Amerikas, vor allem ist es aber als Gesetz heute noch von großer Relevanz.

Staatlich finanzierte Universitäten und Museen stellen sich bei der Repatriierung der Überreste und Grabbeigaben miserabel an, schrieben die Investigativjournalist:innen von ProPublica 2023.
Zehn Einrichtungen bewahren etwa die Hälfte aller Überreste amerikanischer Einheimischer auf. In vielen Fällen sprechen die Universitäten von Überresten, die kulturell nicht einem Stamm zugeordnet werden können.
Einheimische Stämme widersprechen dem aber immer wieder: Durch die mündlichen Überlieferungen ihrer Ahnen ist ihnen die Zuordnung bekannt, den Universitäten ist dies aber kein ausreichender Beweis. Wie schon im Fall der „wissenschaftlich unabdingbaren“ Überreste, steht hier die Einordnung der Nicht-Indigenen über dem Wort und der Kultur der Indigenen.

Einheimische Stämme kämpfen auch heute noch mit Grabräubereien durch Amateurarchäolog:innen. Der Markt für Objekte der Indigenen ist weiterhin vorhanden, eBay und Auktionsseiten werden regelmäßig nach Grabbeigaben und Überresten gescannt, berichtet Kevin Daugherty, ein Mitglied der Potawatomi-Indigenen. Nicht selten werden Grabstätten umgebettet, um Grabräuber:innen zu entgehen.

Seit 2004 gibt es in den USA eine FBI-Einheit, das Art Crime Team, die aus speziell ausgebildeten Agent:innen besteht. Ihre Aufgabe ist es, Kulturgüter zu retten. Das Team hat unter anderem von den Nazis gestohlene Kunst repatriiert.
Tim Carter, Teil des Teams, berichtet davon, dass vor allem unter der jüngeren Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Immer öfter werden Artefakte freiwillig zurückgegeben, wenn auch nur, weil jene, die sie ausgegraben haben, befürchten, dass sie sich mit dem Grabraub einen Fluch zugezogen haben.

Die Rückführung von menschlichen Überresten und Artefakten ist für viele indigene Gemeinschaften weltweit ein wichtiger Akt der kulturellen Wiederbelebung und fördert die Stärkung indigener Identitäten. Außerdem ist es ein notwendiges Zeichen des Respekts und der Anerkennung der Rechte einheimischer Völker.

Die UNESCO beschloss bereits 1970 ein „Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“. Die Rückgabe von Kulturgütern und die Unterstützung der indigenen Völker steht im Mittelpunkt der Konvention.
Anfang Oktober 2023 wurden von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Überreste von sechs Aborigines aus Wien zurück nach Australien gebracht. Gestohlen wurden sie 1905 von dem österreichischen Anthropologen und Mediziner Rudolf Pöch.

Die Repatriierung geht langsam voran, Institutionen wollen menschliche Überreste weiterhin für ihre Forschung verwenden, anstatt sie zurückzugeben.
Chip Colwell-Chanthaphonh, Anthropologe mit einer Spezialisierung in dem Thema Repatriierung und Gründer des online Anthropologiemagazins Sapiens, fragt: „Wie können Wissenschaftler ihr ganzes Leben damit verbringen, tote Indianer zu studieren, ohne sich um die lebenden zu kümmern?“

Bhardwaj, S. (2023). Three meanings of colonialism: Nehru, Sukarno, and Kotelawala
     debate the future of the Third World Movement (1954-61). Cambridge University Press.
Cacciatore, J. (2009). Appropriate Bereavement Practice after the Death of a Native
     American Child. Families in Society, 90(1), 46-50.
Colby, P. W. (2016). Remains of the Day: A Native American Burial Discovered in San
     Francisco Is Shrouded in a Fog of Acrimony. Anthropology Now, 8(1), 14-24.
Daehnke, J., Lonetree, A. (2011). Repatriation in the United States: The Current State of
     the Native American Graves Protection and Repatriation Act. American Indian Culture
     and Research Journal 35(1), 87-97.
Pensley, D. S. (1990). The Native American Graves Protection and Repatriation Act
     (1990): Where the Native Voice Is Missing. Wicazo Sa Review, 20(2), 37-64. University
     of Minnesota Press.
Echo-Haw, W. R. (1989). Tribal Efforts to Protect Against Mistreatment of Indian Dead:
     The Quest for Equal Protection of the Laws. Native American Rights Fund, Legal
     Review
.
Horvath, R. J. (1972). A Definiton of Colonialism. Current Anthropology, 13(1), 45-57.
     University of Chicago Press.
Lieberman, L. (2001). How „Caucasoids“ Got Such Big Crania and Why They Shrank:
     From Morton to Rushton. Current Anthropology, 42(1), 69-95. University of Chicago
     Press.

Neue Beiträge