Tanzwut

Für viele Menschen ist die Tanzfläche ein Ort des Loslassens, der Freude und der Freiheit. Doch Tanzen kann auch lebensgefährlich sein.

Den gesamten Juli widmen wir uns dem Themenschwerpunkt "Exzess". Mehr darüber, warum gerade Exzess ein spannendes Thema für die Wissenschaft ist, erfährst du hier.

Warum das wichtig ist: Von den rasenden Tänzen der Jünger:innen des Dionysos bis zu durchgemachten Nächten im Club: Exzessives Tanzen ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Jedoch hat der Tanz in Europa seine eigentlich spirituelle Rolle eingebüßt und ist heute oft nur reines Vergnügen. Dieser Wandel vollzog sich allerdings nicht reibungslos. Eine Komplikation könnte die Tanzwut sein: Hunderte mittelalterliche Menschen tanzten scheinbar willenlos – oft bis zum Tod. Das rätselhafte Phänomen wirft neues Licht auf den Exzess.

Diesem Rhythmus kann man nicht widerstehen. Die Menge wiegt sich zu den Klängen, das Stampfen hunderter Füße lässt den Boden erzittern, als ob die Erde selbst in diesem Takt beben würde. Die Kraft der Musik reißt dich mit, du wirfst die Hände hoch, springst auf und ab, bis dein Herz im Rhythmus der Trommeln schlägt.

Du denkst an nichts, die Bewegungen kommen von selbst, die Musik fließt durch dich durch – bis du Teil der Tänzer:innen bist, Teil des Klangs. Er füllt dich aus. Du vergisst, wie spät es ist, du vergisst, wie lange du schon hier tanzt, du vergisst deine wunden, blutigen Füße, Hunger, Durst und alles um dich herum. Es gibt nur noch den Rhythmus, den unwiderstehlichen Takt, der einen Tanzschritt nach dem anderen fordert.

Wer solche Momente noch nie erlebt hat, dem entgeht etwas. Tanz ist eine der unmittelbarsten Erfahrungen des Exzessiven, die wir Menschen machen können. Wer wirklich tanzt, entgrenzt sich und geht in der Musik auf. Der Tanz trägt Menschen über sich hinaus. Dieses Gefühl der Verbundenheit im Tanz wurde seit jeher religiös aufgeladen. Man denke nur an die rasenden Bakchen, die drehenden Derwische oder die rituellen Tänze indigener Völker. Doch auch im christlich geprägten europäischen Mittelalter wurde exzessiv getanzt. Dieser Tanz allerdings verbreitete Angst und Schrecken.

Tödliches Tanzen

Im Juli 1518 bricht in Straßburg ein Tag wie jeder andere an. Langsam erwacht die Stadt, Fensterläden werden geöffnet, der Inhalt von Nachttöpfen wird in die Gosse geschüttet. Die Menschen ziehen zum Markt – so auch Frau Troffea. Doch kaum tritt sie hinaus auf die Straße, fängt sie an, die Arme zu schwingen, wiegt sich vor und zurück und beginnt zu tanzen – obwohl keine Musik zu hören ist.

Schnell bildet sich eine Menschentraube um die Frau, einige schließen sich dem Reigen an. Bald tanzt eine ganze Gruppe, und tanzt und tanzt. Nach einer Woche sind es bereits 34 Tänzer:innen, Ende August ist die Menge auf 400 Menschen angewachsen, wie zeitgenössische Quellen berichten. Die Menschen tanzen wochenlang, bis sie erschöpft oder tot zusammenbrechen. Für die Stadtoberen ist die Sache klar: Die Tanzwut war nach Straßburg gekommen.

Tanzwut Bild 1

Seit dem elften Jahrhundert traten in Europa immer wieder Gruppen von exzessiv tanzenden Menschen auf. Die Straßburger Behörden konnten also auf Erfahrungsberichte zurückgreifen, wie mit der seltsamen Seuche umzugehen ist. In der Vergangenheit vermuteten ratlose Ärzte heißes Blut oder sogar dämonische Kräfte als Ursache.

Als die Tanzwut in Italien auftrat, machte die Bevölkerung Spinnenbisse verantwortlich. Die Leute tanzten wie von der Tarantel gestochen und prägten dieses Sprichwort. Als Kur empfahlen italienische Heiler, das Spinnengift auszutanzen: Eigene Tänze sollten die Betroffen in noch größere Raserei versetzen – der Volkstanz Tarantella war geboren. Zu dieser Maßnahme griff man auch in Straßburg: Die Bürger zimmerten den Dansatores, wie die Tanzwütigen genannt wurden, eine Bühne und stellten Musiker an. Doch nichts half, im Gegenteil, die Situation verschlechterte sich. Ein Chronist berichtet von bis zu 15 Todesfällen pro Tag unter den Tänzer:innen.

Unklare Ursachen

In Straßburg endete die Tanzwut erst, als man die wild zuckenden Dansatores zu einer nahen Kapelle des Sankt Vitus führte. Der Heilige galt als Schutzpatron der Tänzer:innen. Nachdem sie sich rote Schuhe um die blutenden Füße gebunden und die Kapelle umrundet hatten, war der Spuk vorbei. Der Straßburger Ausbruch der Tanzwut sollte der letzte sein. Doch bis heute ist unklar, was die Menschen dazu brachte, zwanghaft bis zum Tod zu tanzen. Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Erklärungen versucht, von denen aber keine völlig zufriedenstellend ist. Zunächst könnte das Tanzen physiologische Ursachen haben.

Tanz Bild 2

Plausibel erscheint eine Vergiftung mit Mutterkorn. Dieser Pilz befällt vor allem Roggen und löst, in großen Mengen verzehrt, Muskelkrämpfe, Juckreiz, Bauchschmerzen, aber auch Halluzinationen aus. Diese Symptome könnten von außen als närrischer Tanz missverstanden worden sein.

Diese Erklärung ist insofern naheliegend, als die Tanzwut vor allem Frauen und Arme betroffen hat, deren Ernährung in mageren Jahren zum Großteil aus Roggen bestand. So könnten sie eine ausreichende Menge des Pilzes zu sich genommen haben. Doch die Mutterkornvergiftung führt auch zu Nekrosen: Extremitäten wie Finger, Zehen, aber auch Arme und Beine sterben ab und verfärben sich schwarz. Diese Symptome wären den mittelalterlichen Quellen nicht verborgen geblieben – dennoch gibt es keine Berichte über schwarze Gliedmaßen.

Das Mutterkorn war also wohl nicht der Übeltäter. Auch die Spinnenbisse scheiden aus: Zwar leben in Italien Spinnen, deren Gift Zuckungen hervorruft. Doch es ist undenkbar, dass so viele Menschen gleichzeitig gebissen wurden. Das beste Argument gegen physiologische Ursachen lieferte Paracelsus. Der Universalgelehrte und Arzt beschrieb, dass es schon ausreichte, die Tanzwut nur zu erwähnen, um sie zu übertragen. Diese Beobachtungen legen psychologische Gründe nahe.

Zwang und Befreiung

Oft wird die Tanzwut mit der Pest in Verbindung gebracht: Die Seuche soll das Tanzen als Massenhysterie erklären. Dafür fehlt aber jede Grundlage, da Pest und Tanzwut weder zeitlich noch räumlich in Verbindung stehen. Freilich könnte das hemmungslose Tanzen als Eskapismus erklärt werden: Die Dansatores setzen sich über die strikten Regeln der mittelalterlichen Gesellschaft hinweg und unterbrechen ihr eintöniges Leben. So nachvollziehbar diese Erklärung ist, als Ursache für die Tanzwut erscheint sie nicht hinreichend.

Tanzwut Bild 3

Die vielleicht beste Erklärung für das Phänomen liefert der Historiker Gregor Rohmann. (Rohmann, 2012) Sein Argument ist kulturanthropologisch: Ekstatischer Tanz ist in vielen Kulturen ein Weg, mit höheren Wesen in Verbindung zu treten und eins mit der Welt zu werden. So war es auch in den Kulturen der germanischen Stämme Europas. Tanz galt als direkte Verbindung zu den Göttern.

Als sich das Christentum in Zentraleuropa ausbreitete, konnte es diese paganistischen Traditionen nicht einfach unterdrücken – es assimilierte sie. Christliche Feiertage wurden auf heidnische Feste gelegt, die Götterschar in Dämonen oder Heilige verwandelt und der Tanz blieb.

Rohmann zeigt, dass im frühen Christentum Tanz ein von der Kirche gebilligter Weg war, wie die Gläubigen mit Gott in Verbindung treten konnten. Tanzten die Menschen auf der Erde, so vollzogen sie einen himmlischen Reigen. Erst später verbreitet sich unter dem Klerus die Auffassung, der irdische Tanz sei zu lustvoll und wurde deshalb zu Teufelszeug erklärt.

Dem Drang der Menschen, sich im Tanz zu entgrenzen und so direkt bei Gott zu sein, wurden Riegeln vorgeschoben. Nur zu bestimmten Anlässen, wie Fasching, wurde das Tanzen gebilligt. Ansonsten beanspruchte die Kirche das alleinige Recht, die Gläubigen mit Gott verbinden zu dürfen. Tanz als Gotteskontakt am Klerus vorbei bekam den Beigeschmack der Sünde.

Den Menschen wurde also ihr direkter Draht zu Gott genommen und eine Tradition unterbrochen, die Jahrtausende Bestand hatte. Das geht nicht ohne kulturellen Narben vonstatten. Rohmanns durchaus umstrittene These ist, dass die Tanzwut von diesem Wandel ausgelöst wurde.

Die Menschen begehrten bewusst oder unbewusst gegen das Monopol der Kirche auf, die sich als einzige Verbindung zu Gott sah. Durch das ekstatische Tanzen fühlten sich die tief gläubigen Menschen ihrem Erlöser verbunden. Kein Wunder, dass das Tanzen ansteckend war, die Freiheit ist es ja auch. Kein Wunder auch, dass die Dansatores zwanghaft tanzten, sie mussten ja zu Gott zurückfinden. Ihr Tanz war beides: Befreiung und Zwang. Vielleicht schwebt Exzess stets zwischen diesen beiden Polen.

Bock, F. (2018). Als die Tanzwut Straßburg heimsuchte. ORF.at. Zuletzt abgerufen am 27.
     Juli 2022.
Donaldson Liam J., Cavanagh J., Rankin J. (1997). The dancing plague: a public health
     conundrum. Public Health.
Rohmann, G. (2012). Tanzwut: Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte
     eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts. Vandenhoeck und Ruprecht.
Welle, F. (2018). Der unheimliche Drehwurm. Mysteriöse Tanzwut 1518. Süddeutsche
     Zeitung. Zuletzt abgerufen am 27. Juli 2022.


Enthält eine These, die ich nicht aufgreife :
Waller, J. (2018). Keep on moving: the bizarre dance epidemic of summer 1518. The
     Guardian. Zuletzt abgerufen am 27. Juli 2022.

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