Klavier

Wir hören heute oft Musik, die viele hundert Jahre alt ist - doch klingt sie auch so wie damals, als sie zum ersten Mal erklang? Dieser Frage geht das Institut für Alte Musik der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) in Wien nach. Wie hört man in die Vergangenheit?

Es ist ein kleiner gemütlicher Unterrichtsraum, in den Eugène Michelangeli führt. Hier sind jedoch keine Sesselreihen angeordnet und an der Wand hängt auch keine Tafel. Drei kuriose Tasteninstrumente, künstlerisch bemalt, nehmen den Großteil des hellen Kämmerchens ein. In diesem Raum treffen Lehre, Wissenschaft und Kunst aufeinander.

Eugène Michelangeli ist der Leiter des Instituts für Alte Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, kurz mdw.
Hier ist es seine Aufgabe, die Alte Musik – so bezeichnet man an der mdw die abendländische Musik von circa 1550 bis 1850 – zu untersuchen, zu analysieren und sie wieder hörbar zu machen. Das bedeutet auch, die Kunst der historischen Aufführungspraxis an seine Studierenden weiterzugeben.

Die Alte Musik stellt für Michelangeli ein Gegenmodell zum Kanon der klassischen Musik (circa 1720 bis 1830) dar, weil sie einer früheren Zeit zuzuordnen ist, oder sich eines besonderen Instrumentariums oder einer spezifischen Spieltechnik bedient.
„Die Grundidee ist, dass man sich nicht zufrieden gibt mit einem Kanon. Deshalb wollen wir so viele Elemente wie möglich sammeln – auch zum Kontext, in dem die Musik entstanden ist. Und aus all diesen Informationen versuchen wir, die Musik zu verstehen. Die Alte Musik ist Teil unserer Geschichte – wenn sie für Menschen damals eine Rolle gespielt hat, dann ist sie auch spannend für uns als Menschen heute.“

Den Klang dieser Zeit wiederzufinden, verlangt von Forschenden und Musizierenden mehr als nur musikalische Kenntnis. Historisches, gesellschaftliches, politisches, aber auch eine Menge naturwissenschaftliches Wissen spielen eine wichtige Rolle in der Rekonstruktion Alter Musik.

Klassenzimmer mdw

Ein typischer Unterrichtsraum in der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Das Leben eines Instruments

Das zeigt sich an der Beforschung der Instrumente. In Europa und besonders in Wien, beispielsweise in der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums, sind einige jahrhundertealte Instrumente erhalten. Man könnte meinen, man müsse eine Geige aus dem 17. Jahrhundert einfach in die Hand nehmen und spielen, um den Klang der damaligen Zeit zu erhalten.

Oftmals war das organische Baumaterial jedoch jahrelang den Elementen ausgesetzt. Barocke Geigensaiten aus Darm oder auch der hölzerne Körper fallen hoher Luftfeuchtigkeit, extremen Temperaturen oder den potenten Sonnenstrahlen zum Opfer. Bei einem Cembalo, dem damals üblichen Tasteninstrument, kann es wiederum vorkommen, dass es über die Jahrzehnte zerlegt, umgebaut oder ergänzt wurde. So finden sich in einem Instrument gleich mehrere Epochen Musikgeschichte, was die Nachverfolgung des ursprünglichen Klangs schwierig macht.

Um das Instrument zu verstehen, muss man sich also mit den damals zugänglichen Materialien und mit der für diese Zeit üblichen Bauweise auseinandersetzen. Der Institutsleiter verrät, dass neben dem historischen Instrument selbst auch vielfältig andere Quellen dabei helfen können.

Die umfänglichen Lehrschriften des Michael Praetorius, Komponist und Theoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts, liefern beispielsweise genaue Aufzeichnungen zu den Instrumenten und der Aufführungspraxis seiner Zeit. Bei der Suche nach dem historischen Klang können auch andere Formen der Kunst wie Lyrik, Gemälde oder Kupferstiche behilflich sein. Wenn sich die Künstler:innen um eine realitätsgetreue Beschreibung oder Darstellung bemüht haben, können so Bauweise, Proportionen oder auch die Art der Verwendung des Instruments nachvollzogen werden.

Bauweise und Materialien lassen ebenso Rückschlüsse über den Herstellungsort zu. Michelangeli nennt ein Beispiel: „Die Federn eines Cembalo wurden in einer bestimmten Gegend aus Wildschweinborsten gemacht. In einer anderen Gegend bestanden sie aus einer dünnen Messingplatte. Der Bau hat sich unterschiedlich entwickelt, weil in der einen Gegend die Gefahr von Motten, die die Borsten fressen, präsenter war.“

Auch die Federkiele, mit denen die Saiten des historischen Cembalo angerissen werden, wurden je nach europäischem Gebiet von unterschiedlichen Vogelarten gewonnen. Sogar das Alter des Baumes, aus dem ein Instrument geschnitzt wurde, kann mithilfe der Maserung und der Jahresringe bestimmt werden.

Wenn der 3D-Drucker Musik macht

Die moderne Technik öffnet heute weitere Tore für die Untersuchung alter Musikinstrumente. Michelangeli erinnert sich an eine bahnbrechende Studie des KHM Wien Anfang der 2000er Jahre, in der die Computertomographie in der Musikwissenschaft zum Einsatz kam. Um die 400 Jahre alte, in Leder gewickelte Zinken – historische Blasinstrumente aus der Renaissance – wurden mithilfe des CT durchleuchtet und analysiert, denn man hätte den Umschlag nicht ohne Beschädigung der Materie öffnen können.

Heute kommt auch der 3D-Druck zum Einsatz, um gewisse Parameter eines Instruments zu testen. „Gerade bei sehr alten Instrumenten aus Holz haben wir Standard-Konservationsregeln. Das heißt, bei Flöten auf keinen Fall reinblasen, Feuchtigkeit ist verboten“, erläutert Michelangeli. Mithilfe des 3D-Drucks kann man das Instrument eins-zu-eins nachbauen – zwar aus einem anderem Material, doch so kann man sorglos darauf spielen und erkunden, welche Rolle Form und Proportionen für den Klang haben.

Flöten Elfenbein

Ganz unten: Elfenbeinblockflöte aus dem 18. Jhdt. (Bate Collection University of Oxford), darüber fünf 3D-Nachbildungen. (Plastic Fantastic Research Project - Pitt Rivers Museum)

Wie klang ein Konzert am kaiserlichen Hof?

Der historische Klang hängt jedoch auch vom Aufführungsraum, den Musizierenden, dem Ambiente, dem gesellschaftlichen Kontext und dem Zweck des Spiels ab. In seiner Doktorarbeit untersucht Michelangeli eine einzelne Vorführung im späten 17. Jahrhundert – ein Konzert zum Anlass des Gründonnerstages in einer Privatkapelle des kaiserlichen Hofes in Wien.

In dieses „Mikro-Ereignis“, wie Michelangeli es nennt, fließen die persönlichen Geschichten der auftraggebenden Kaiserin und des Komponisten, der Ort der Aufführung, die Einmaligkeit des Geschehens, die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten der Zeit und der Anlass – der Ausdruck der kaiserlichen Frömmigkeit – mit hinein. Musikhistoriker:innen müssen somit auch sozialwissenschaftlich und psychologisch arbeiten um ein ganzheitliches Bild einer musikalischen Epoche zu erfassen.

Um einen möglichst originalgetreuen Klang zu finden, reisen Fachkundige durch die Welt und suchen nach authentischen Materialien. Michelangeli nennt als Beispiel die Saiten von barocken Streichinstrumenten, die man aus Schafsdärmen fertigte. Um diese nachzustellen, suchen Musikforscher:innen heute nach Schafen, die sich möglichst ähnlich ernähren wie die Tiere zur damaligen Zeit.

„Irgendwer findet dann zum Beispiel Schafe in Marokko, das spricht sich herum in der Szene und man tauscht sich aus“, erklärt Michelangeli. „Aber jede Person, die seine Violine mit Darmsaiten besaitet hat, wird einfach sein ganzes Leben lang weitersuchen.“ Schließlich können sich die Wissenschaftler:innen dem ursprünglichen Klang bloß annähern – eine exakte Nachahmung wird mangels Aufnahmen aus vergangenen Zeiten selbst den ehrgeizigsten Forschenden niemals gelingen.

Cemballo

Ein-manualiges Cembalo von Gianfranco Facchini (Lugo di Romagna, 1996) nach italienischen Vorbildern der 2. Hälfte des 18. Jhdt.

Musikalische Wissenschaft

Die drei Tasteninstrumente im Unterrichtskämmerchen sind historische Nachbildungen. Hier lernen die Studierenden der mdw, den Klang der Alten Musik wiederzuerwecken.

Aber was daran ist Wissenschaft und was ist Kunst? „Im Fall der historischen Aufführungspraxis ist das dasselbe“, meint der Institutsleiter.
„Sobald wir auf der Suche sind nach dieser Musik, dann forschen wir. Und wenn man es nach gewissen Kriterien und Methoden macht, dann ist das Wissenschaft. Wir tun nichts anderes, als das Feld zu erweitern – auf vielen Ebenen. Sei es mit Werken, die man schon kennt, aber die wir dann anders zu interpretieren versuchen und die Interpretationsgeschichte in Frage zu stellen. Oder sei es überhaupt, Musik neu zu entdecken, die man bedienen könnte.“

Eine Gegenüberstellung zweier Aufführungen eines Werks von Johann Sebastian Bach - Doppelkonzert für Violine in d-Moll (BWV 1043) - und wie unterschiedlich sie ausfallen können:
Das erste Video zeigt eine "moderne" Interpretation von Yehudi Menuhin & David Oistrakh (1958)
Das zweite Video zeigt die historische Aufführungspraxis von Shunske Sato & Emily Deans (2016)

Nachbildungen wie diese drei Cembali basieren auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die relevante Zeit. Darauf zu spielen ist nicht nur Kunst, sondern kann den damaligen Klang erfahrbar machen und somit weitere Forschung befeuern. „Kunst und Wissenschaft bedingen sich gegenseitig. Beim Spielen kommen die Erkenntnisse.“

Wer neugierig auf die historische Aufführungspraxis geworden ist und den Klang der Vergangenheit selbst erleben möchte, sollte unbedingt in ein Konzert gehen. Denn während Musik heute perfekt aufgenommen werden kann und digital stets zur Verfügung steht, war sie damals etwas Flüchtiges, Einmaliges. Die Studienkonzerte des mdw „Baroque on Stage“ finden regelmäßig in Wien statt – der Eintritt ist kostenlos.

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