Lotus Effekt

Ein Nanometer ist so klein, dass gewisse physikalische Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Nano-Technologie fordert eine neue Denkweise. Die Natur kann hierfür als Inspiration dienen.

Was bedeutet Nano?

Einer der Mitbegründer der Nano-Wissenschaft war Richard Feynman, ein renommierter Physiker (1965 erhielt er den Physik-Nobelpreis). Obwohl die Forschungsrichtung noch relativ jung ist, gab er schon 1959 eine Vorlesung mit dem Thema: „There is plenty of room at the bottom.“ – „Viel Spielraum nach unten“. (Toumey, 2009)

Die Größenordnung Nano bezeichnet das Millionstel eines Meters. Aber dahinter steckt so viel mehr. Ein Nanopartikel ist größer als ein Atom, aber weder mit freiem Auge noch einem konventionellen Lichtmikroskop sichtbar. Als Nano werden alle Objekte bezeichnet, die sich in der Dimension von 1 bis 100 Nanometern befinden.

Die DNA ist ein gutes Beispiel: Wenn man die DNA aus einer einzigen menschlichen Zelle ausrollen könnte, wäre sie fast zwei Meter lang. (Piovesan et al., 2019) Aber die Dicke dieses ultradünnen ‚Seils‘ beträgt gerade einmal 2 Nanometer, es handelt sich also um ein Nano-Objekt. (Kominami et al., 2019) Wenn man diesen Wert mit einer Million multipliziert, dann hat man ungefähr den Durchmesser eines großen Wassertropfens.

Laut der Physik befinden wir uns mit Nano-Objekten in jenem Bereich, in dem sich Quanteneffekte zu manifestieren beginnen. Man kann sich die Nano-Technologie also nicht vollständig als eine kleinere Version der Mikrotechnologie vorstellen. Letzteres verfolgt die Miniaturisierung von bestehenden Systemen, während im Nano-Bereich neue Modelle etabliert werden müssen.

Das Engineering muss diesem Umstand angepasst werden. Beispielsweise arbeitet die Nano-Biotechnologie mit molekulare Selbstorganisation (Pochan & Scherman, 2021) oder die Nanoelektronik mit quantenmechanischen Eigenschaften. (Beaumont, 1996)

Welche Kräfte wirken im Nano-Bereich?

Im Allgemeinen gibt es vier physikalische Kräfte, denen jede Kraft untergeordnet werden kann. Die starke und schwache Wechselwirkungen sind verhältnismäßig leistungsfähig, aber da sie nur innerhalb sehr kurzer Distanzen wirken, nämlich in den Kernen der Atomen, kann man diese im Alltagsleben ignorieren.

Die zwei für uns relevanten Kräfte sind die elektromagnetische Kraft und die Gravitation. Letztere ist relativ gesehen sehr schwach und skaliert mit der Masse der zwei Objekte, zwischen denen sie wirkt. Das heißt, je höher die Masse, umso stärker die Anziehungskraft.
Doch was bedeutet das für den Nano-Bereich, wo die Massen so gering sind? Gravitation ist vernachlässigbar! Daher bleibt nur noch die elektromagnetische Kraft übrig, die im Nano-Bereich zwischen den geladenen oder polarisierten Molekülen wechselwirkt und das System steuert.

Warum dieser physikalische Hintergrund wichtig ist? Der Schlüsselpunkt ist die Oberfläche eines Nano-Objektes, auf der alle Reaktionen mit der „Außenwelt“ stattfinden. Es zählt also das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen.

Maßstab nanometer

Die Größe eines Nanometers in Relation zu anderen Größeneinheiten

Nano in der Natur

Warum sollten wir etwas überhaupt so klein machen, wenn dadurch alles so kompliziert wird? Kleine Dinge konsumieren weniger Material, brauchen weniger Energie und können innerhalb kürzerer Distanzen schneller funktionieren. Sie erlauben außerdem auf kleinstem Raum Multifunktionalität.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Computer. Einer der ersten Vorläufer war die Turing-Bombe, die von Alan Turing konzipiert wurde, und im Zweiten Weltkrieg zur Kryptoanalyse eingesetzt wurde. Damit konnten Funksprüche der Deutschen entschlüsselt werden. (Wright, 2017)

Die Maschine füllte einen ganzen Raum, während ungefähr achtzig Jahre später fast jeder einen leistungsstarken Computer besitzt oder zumindest ein Smartphone, das sogar in unsere Hand passt.

Es gibt viele Nano-Effekte, mit denen man unbewusst in Kontakt tritt, ohne zu wissen, wie die komplizierte Wissenschaft dahinter funktioniert. Die Natur war immer schon eine gute Lehrerin, um nützliche Technologien hervorzubringen, darunter auch die im folgenden Abschnitt vorgestellten Beispiele der Gecko-Haftbarkeit und der Selbstreinigung der Lotuspflanze.

Die Haftfähigkeit von Geckos

Geckos sind Echsen, die eine Größe von 1,6 Zentimetern bis fast 40 Zentimeter erreichen können und geschätzt schon seit über 50 Millionen Jahren unseren Planeten bevölkern. Sie haben sich weltweit verbreitet und an schwierige Lebensbedingungen angepasst, sodass man sie sogar in Wüsten antrifft. (Gamble et al., 2011) Es sind faszinierende kleine Tierchen, die eine besondere Eigenschaft besitzen, die auf Nano-Effekte zurückzuführen ist.

Geckos können auf rauen und glatten Oberflächen haften und sich wahnsinnig schnell fortbewegen, ohne je ein Problem mit der Haftung zu haben, selbst wenn sie kopfüber hängen. Dafür sind feine spatelförmige Härchen verantwortlich, die man Spatulae nennt. Sie sind nur 200 Nanometer lang, 10 bis 30 Nanometer dick und untereinander verästelt. (Hansen & Autumn, 2005)

Mit bloßem Auge erkennt man jedoch nur die Lamellen, die aus den Setae, sogenannte Borsten aus Spatulae, bestehen. (Rasmussen et al., 2022) Diese Härchen schmiegen sich flexibel an den Untergrund an und können durch van-der-Waals-Kräfte wechselwirken. Das sind schwache elektromagnetische Kräfte, die aber durch die große Oberfläche viel Interaktionsmöglichkeit besitzen und so im Gesamten eine große Wirkung erzeugen. (Autumn et al., 2002)

Es ist also ein Zusammenspiel feiner Härchen, die eine große Oberfläche bieten, mit relativ schwachen Kräften, die aber in ihrer Gesamtheit eine starke Auswirkung haben und die kleinen Kerlchen an jeglichen Oberflächen haften lassen.

Wir streben danach, das zu tun, was die Natur bereits kann. Daher versuchen Wissenschaftler:innen die faszinierende Setae-Struktur der Geckos synthetisch nachzumachen. Es gibt bereits eine Vielzahl an Materialien, hauptsächlich Polymere, die für die Erzeugung der feinen Härchen verwendet werden, darunter auch neuartige Nano-Röhren aus Kohlenstoff (carbonanotubes). (Ge et al., 2007)

Diese sind auch für Anwendungen unter extremen Bedingungen geeignet, wie zum Beispiel unter hohen Temperaturen (Jin et al., 2019) oder im Weltraum. (Hu et al., 2013) Die Technologie findet Nutzen in Klebebändern, die ein viel besseres und reversibles Kleben ermöglichen, ohne Klebstoffreste zurückzulassen. Außerdem gibt es von der Universität Stanford bereits einen sogenannten „Stickybot“, den man sich als kleinen Roboter, der auf Wänden herumspaziert, vorstellen kann. (Hajj-Ahmad et al., 2023)

Setex Technologies ist einer der Firmen, die sich diese bio-inspirierte Idee zu Nutzen gemacht hat. In ihrem Sortiment findet man Bänder mit schwacher, mittlerer und starker Abscherfestigkeit, die auch nach 1.000-facher Anwendung nur knapp zwanzig Prozent ihrer Leistung verlieren.

Das Unternehmen bietet kundenspezifische Anwendungsmöglichkeiten, also die Möglichkeit, die Technologie auf verschiedenen Oberflächen umzusetzen. Nutzen findet sie bereits in Bereichen der Medizin-, Halbleiter- und Elektronik-Industrie, ebenso im Bauwesen und für Heimanwendungen. (Setex Technologies, 2022)

Haftfähigkeit eines Geckos

Von der Makrostruktur (engl. macrostructure) zur Mikrostruktur (microstructure) und schließlich zur Nanostruktur - erst dort entsteht die Haftfähigkeit des Geckos  (Autumn 2006)

Der Lotus-Effekt

Auf den Blättern der Pflanze Nelumbo nucifera, die in Nordamerika und im Osten von Asien vorkommt, perlt das Wasser einfach ab, ohne die Oberfläche zu benetzen, und nimmt praktischerweise gleichzeitig Schmutzpartikel mit. Das geschieht aufgrund der extremen Hydrophobizität, also einer wasserabweisenden Fähigkeit, die durch die Kontaktfläche des Wassertropfens bestimmt wird. Was heißt das für die Lotuspflanze?

Je kugelförmiger der Tropfen, umso hydrophober das Blatt und umso stärker wird das Wasser abperlen. Andererseits tragen zu dem Effekt auch die Mikro- und Nanostruktur der Oberfläche bei, die aus einer Vielzahl an Höckern – oder Ausbuchtungen – bestehen und die Kontaktoberfläche zum Wasser weiter reduzieren. Schmutzpartikel, deren Kontakt ebenfalls durch diese Bodenwellen verringert ist, werden von Wassertropfen aufgesammelt und dadurch entfernt. (Solga et al., 2007)

Anwendung findet der replizierte Lotus-Effekt in Kleidung und Textilien, Wandfarben, Anstriche und Dächer, deren Oberflächen mit einer wasserabweisenden Beschichtung modifiziert werden, vor allem für die selbstreinigende Fähigkeit. Außerdem wurden Metalle modifiziert, die dadurch eine besondere Korrosionsbeständigkeit aufweisen. (Qiu et al., 2023)

Mehrere Firmen haben sich den Lotus-Effekt zum Vorbild genommen und in ihren Produkten umgesetzt. HeiQ Materials AG hat eine ganze Produktserie (HeiQ eco dry) von Kleidung und Schuhen entworfen (HeiQ Materials AG, 2023), ebenso wie Schoeller Textil AG, wo diese Technologie Anwendung in Textilien für Kleidung, Arbeitsschutz und Möbeln finden. (Schoeller Textil AG, 2023)

Lotus Effekt

Der Lotus-Effekt lässt das Wasser nicht nur abperlen, es nimmt dabei auch allerhand Schmutz mit

Die kleine Größe mit großer Wirkung

Im Nano-Bereich stehen wir also vor neuen Herausforderungen. Es gibt immer noch Teilbereiche der nanoskopischen Effekte der Geckos und Lotus-Pflanzen, die nicht vollständig geklärt wurden, aber ihre Anwendungsmöglichkeiten sind vielfaltig.

Seit Anfang der 2000er Jahre, als die Effekte der Haftfähigkeit bei Geckos erstmals entschlüsselt wurden, gab es einen starken Anstieg in der Anzahl der Papers, die über Nano-Technologie publiziert wurden. (Bogue, 2008)

Die Funktionsweise des Lotus-Effektes wurde mit der Entstehung des Elektronenmikroskops entschlüsselt, wodurch bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Papers publiziert wurden, deren Anzahl laut der Suche auf der online-Plattform PubMed über die letzten Jahrzehnte exponentiell gestiegen ist. Die Haltbarkeit und Langlebigkeit der Beschichtungen vor allem gegen Wetterkonditionen werden laufend verbessert.

Es gibt also einen großen Spielraum im nano-dimensionierten Bereich, dessen Wechselwirkungen und Zusammenspiel – wenn auch noch so klein – relevant für praktische Anwendungen in unserer makroskopischen Welt sind.

Die in diesem Text erwähnten Unternehmen wurden unabhängig und zu Informationszwecken angeführt.
Sie dienen als Beispiele für die Umsetzung von Nano-Technologie in der Industrie. Es handelt sich nicht um Werbung und die Autorin hat keine Verbindung zu den erwähnten Firmen.

Katharina Schmidt absolvierte ihr Bachelorstudium in Bio- und Lebensmitteltechnologie und das Masterstudium Nanobioscience an der Universität für Bodenkultur (BOKU).
Seit Februar 2022 arbeitet sie an ihrem PhD im Bereich Nanobioscience für die Entwicklung von plasmonischen Biosensoren im einzelnen Molekülbereich zur Früherkennung von Krebs. Dies geschieht in Kollaboration mit dem Austrian Institute of Technology (AIT), der Danube Private University (DPU) und dem Kompetenzzentrum für Elektrochemische Oberflächentechnologie CEST.

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Bildquelle
Autumn, Kellar. (2006). How gecko toes stick: the powerful fantastic adhesive used by geckos is made of nanoscale hairs that engage tiny forces, inspiring envy among human imitators. American Scientist, 94(2).

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