Wiener Original

Zu Wien gehören sie wie Riesenrad und Würstelstand: die Wiener Originale. Ganz besondere Menschen, die Stadtgeschichte prägen. Doch wie wird man ein Wiener Original? Und warum braucht eine Stadt ihre Originale? Wir haben nachgeforscht.

Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Wien: eine Untersuchung, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit der schönsten Stadt der Welt auseinandersetzen.
Ganz im Sinne des Themenschwerpunkts finden sich in diesem Beitrag einige Begriffe aus dem Wiener Dialekt. Am Ende des Beitrags gibt es einen
Glossar.

Warum das wichtig ist: Als Österreicher:in und vor allem, wenn man in Wien lebt, kennt man mindestens ein „Wiener Original“. Diese stadtbekannten Persönlichkeiten, wie der liebe Augustin, der Schauspieler und Schriftsteller Helmut Qualtinger oder Paul Wittgenstein, Neffe des berühmten Philosophen, zeichnen sich durch ihre charismatischen Eigenarten und ihre Nonkonformität aus. Wie aber wird man ein Wiener Stadtoriginal und warum kürt die Gesellschaft gerade die schrägsten Charaktere zur Stadtberühmtheit? Das erfährst du in diesem Artikel.

In Wien kennt wohl jedes Kind die Geschichte vom lieben Augustin. Der singende Dudelsackspieler und Trunkenbold soll während der Wiener Pest 1679 betrunken in eine Pestgrube geworfen worden sein, und eine ganze Nacht darin mit Gesang, Alkohol und ‚Schmäh‘ überstanden haben.

Den lieben Augustin hat es wahrscheinlich so niemals gegeben, dennoch zählt er bis heute als Wiener Stadtoriginal – als Sonderling, der dank seiner Eigenart zur Stadtberühmtheit wurde. Auch wenn die Geschichte des Augustin wohl erfunden ist, enthält sie die wichtige Wiener Weisheit, dass man ernsten Situationen am besten mit Humor begegnen sollte.

Was ist ein Stadtoriginal?

In der Regel sind Wiener Stadtoriginale jedoch echte Personen des Wiener Alltags. Sie existierten schon lange vor dem lieben Augustin und auch heute erlangen manche Einzelpersonen noch diesen Status. Diese Menschen werden als Individualist:innen und Einzelgänger:innen beschrieben. Sie erlangen an Stadtbekanntheit, weil sie einerseits zwar Eigenbrötler:innen und Außenseiter:innen, andererseits jedoch interessante, reizvolle und oft charismatische Charaktere sind.

Sie fallen in der Gesellschaft auf, ob negativ oder positiv, aber es ist ihnen egal, was die Leute über sie denken. Sie brechen mit gesellschaftlichen Normen und kümmern sich nicht um ‚gute Sitten‘. Um sie ranken sich Geschichten und Mythen, die in der Bevölkerung zur Belustigung weitererzählt werden.

So soll beispielsweise das Original Joseph Kyselak zu Beginn des 19. Jahrhunderts an unzähligen Stellen im ganzen Kaiserreich seinen Namen eingeritzt und damit für öffentliches Ärgernis, aber auch Belustigung gesorgt haben. Angeblich habe ihn deshalb Kaiser Franz I. sogar persönlich gemahnt, doch auch das soll Kyselak nicht vom Vandalismus abgehalten haben. Er gilt deshalb als Vorläufer der „Tagger“, was heute in der Graffiti-Kultur das Hinterlassen seines Künstlernamens auf öffentlichen Flächen beschreibt .

Die Stadtberühmtheit Reichsgräfin Triangi wiederum war Anfang des 20. Jahrhunderts für ihre anzüglichen und exzentrischen Auftritte bekannt, bei denen sie, stark geschminkt, kostümiert und schmuckbeladen, musizierte und sang. Sie warb damit, sich in ihrem Lieblingstanz „Wollust“ tausendmal um die eigene Achse drehen zu können. Darauf verkündete sie nach einer einzigen langsamen Drehung die tausend vollendet zu haben.

Während die Gräfin Triangi vom Volk verlacht, verachtet und teils sogar schikaniert wurde, gab es auch Originale, die geradezu verehrt wurden. So war der Baron-Karl (bürgerl. Karl Baron) der beliebteste Obdachlose Favoritens. Er bettelte nicht, sondern verdiente sich Mahlzeiten und Taschengeld mit kleineren Aushilfsarbeiten und Musizieren. Er trank gerne Bier und schlief auf öffentlichen Plätzen, von Parkbänken bis Müllsammelplätzen, den Rausch aus. Meist erzählte er Geschichten und sang für die Kinder von Favoriten. Mit dem Erlös seiner Dienste kaufte er den ärmsten Kindern etwas zu essen. Obgleich nicht allen in Favoriten sein zerlumptes Auftreten und seine Trinkfreudigkeit gefiel, erschienen zu seinem Begräbnis im Jahre 1948 mehrere tausend Wiener:innen, um ihn zu betrauern (Kraus, 2008).

Ob also verachtet oder geliebt, Originale sind für ihre Eigenheiten im ganzen Volk bekannt.
Umgangssprachlich bezeichnet der Begriff „Original“ laut Duden „jemand[en], der unabhängig von der Meinung anderer in liebenswerter Weise durch bestimmte Besonderheiten auffällt“. Aber auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „selbst geschaffenes, unverändertes Werk“, beschreibt die Qualitäten eines Stadtoriginals, denn sie weist auf die Authentizität und Unbeeinflussbarkeit dieser Charaktere hin.

Baron Karl

Der Baron-Karl, der beliebteste Obdachlose von Favoriten. (© Bezirksmuseum Favoriten)

Es ist nicht einfach zu bestimmen, ob und wann eine Person den Status als Original erreicht hat, da diese Zuweisung in der Regel mündlich erfolgt. Sehr wahrscheinlich gibt es deshalb in Wien heute einige Personen, die von einem kleineren Kreis als Original bezeichnet werden und diese Kriterien auch erfüllen, aber einfach noch nicht bekannt genug sind, um allgemein als solche anerkannt zu werden. Aus diesem Grund gibt es auch keine offizielle Auflistung von Wiener Stadtoriginalen und kaum wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema. Die Originale, die in diesem Artikel vorkommen, wurden in ihren Biografien als Wiener Originale ausgewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass andere, die nicht auf diese Weise erfasst wurden, keine Originale sind oder waren.

Um dem Phänomen Wiener Original nachzuspüren, hat alexandria mit Frederike Fritzi Kraus gesprochen. Sie ist Historikerin und Stadtführerin und hat ihre Diplomarbeit über Wiener Stadtoriginale der Zwischenkriegszeit verfasst. Einigen Leser:innen ist sie vielleicht aus dem Podcast „Erzähl mir von Wien“ bekannt.

In ihrer Arbeit greift Fritzi Kraus unter anderem die Frage auf, ob Stadtoriginale, wie der Name und überlieferte Geschichten nahelegen, tatsächlich ein ausschließlich urbanes Phänomen darstellen. Sie vermutet, dass Städte aufgrund ihrer Bevölkerungsvielfalt toleranter gegenüber Außenseitern sind, als dies bei der Landbevölkerung der Fall ist. Außerdem sei es schwierig, den Status der schrulligen Berühmtheit zu erlagen, wenn die Bevölkerung klein ist und sich untereinander besser kennt. Eine intimere Gemeinschaft lässt weniger Spielraum für Sonderbarkeiten, da die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen stärker kontrolliert werden kann (Kraus, 2008).

Wie wird ein Sonderling zum Original?

Wie erlangt eine Person nun den Original-Status? Nicht jede schrullige Person wird automatisch stadtbekannt, wie Kraus erläutert. „Originale tun das, was sie tun, nicht, um explizit anders zu sein. Eine gewisse exhibitionistische Ader müssen sie haben, aber nicht, um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen, sondern sie sind ganz einfach nonkonformistisch“, erklärt die Wien-Expertin. Ein Original kann sich also die Berühmtheit nicht aussuchen, denn ein Streben nach Bekanntheit widerspricht der erforderlichen Echtheit des Auftretens.

Gleichzeitig muss diese Person eine gewisse Ausstrahlung und Präsenz haben, die andere Menschen fasziniert und in ihren Bann zieht. Zu diesem Zwecke muss sich ein Original klarerweise in der Öffentlichkeit zeigen und mit den Menschen in Kontakt treten. „Eloquent müssen sie sein, egal in welcher Weise - goschert sagt man in Wien,“ stellt Kraus fest.

Das merkwürdige Verhalten von Stadtoriginalen folgt gewöhnlich einer gewissen Regelmäßigkeit – wie beispielsweise der häufig inszenierte „Wollust“-Tanz der Gräfin Traingi. So erzeugt das Auftreten der Person einen Wiedererkennungswert in der Bevölkerung und er* oder sie* prägt sich so in das kollektive Stadtgedächtnis ein. Daraus entstehen lustige Geschichten, die – mal mehr, mal weniger wahrheitsgetreu – in der Gesellschaft weitererzählt werden.

Kurzum: Stadtoriginale sind faszinierende Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit ihre Eigenheiten wiederholt ungeniert zur Schau stellen und dadurch unfreiwillig zu Berühmtheiten und Inhalt des Stadtgesprächs werden.

Charisma, Klatsch & Tratsch in der
Sozialforschung

Was aber ist die Faszination an Stadtoriginalen? Was hat die Bevölkerung davon, gerade gesellschaftliche Außenseiter:innen zur Stadtberühmtheit zu erklären?

In der Soziologie werden das gesellschaftliche Zusammenleben und das zwischenmenschliche Verhalten wissenschaftlich untersucht; dazu zählen auch gesellschaftliche Phänomene wie Berühmtheit, Popularität oder Klatsch und Tratsch. Einzelne Theorien zu Berühmtheit finden sich bereits in der Klassik der Soziologie (Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert).

So beschrieb Max Weber, einer der Pioniere der Sozialwissenschaften, die Charaktereigenschaften Charisma und persönliche Anziehungskraft als Quellen von Einfluss einzelner Personen über die Gesellschaft (Weber, 1968 zit. in Ferris, 2007: 372-373). Stadtoriginale sind zwar selten glamouröse Promi-Figuren, aber ihr unbeirrbares Selbstvertrauen wirkt charismatisch und attraktiv auf ihre Mitmenschen.

Als eigenes soziologisches Interessensfeld ist die Berühmtheits- und Prominenzforschung erst Ende des 20. Jahrhunderts entstanden. Anfangs gingen Theoretiker:innen davon aus, dass Ruhm und Berühmtheit in all ihren Erscheinungsformen böse, korrupt oder auf andere Weise verachtenswert und sogar „krankhaft“ seien.

Dieses Bild hatten Sozialwissenschaftler:innen sowohl von den Bestaunenden als auch von den Berühmtheiten selbst. Tatsächlich ist die Assoziation nicht gänzlich abwegig: Das englische Wort ‚fame‘ (dt. Ruhm, Berühmtheit, Bekanntheit) stammt aus der griechisch-römischen Mythologie, von der bösen Gottheit ‚Fama‘ (‚Pheme‘ auf Griechisch) ab, die für das Verbreiten skandalöser Gerüchte bekannt ist. Das legt ein ursprüngliches negatives Verständnis von Berühmtheit und dem Tratsch über sie nahe (Deflem, 2017; DiFonzo & Bordia, 2007; Ferris, 2007).

Heute erkennen Forscher:innen, dass (lokale) Berühmtheiten wie Stadtoriginale sowie Klatsch und urbane Mythen über sie einen gesellschaftlichen Zweck haben.

Die Gesellschaft braucht ihre Kasperl

Jede Gemeinschaft, so auch die Stadtgemeinschaft Wiens, folgt gewissen Strukturen. Das sogenannte formelle Netzwerk beschreibt die offiziellen Regeln, nach denen die Gemeinschaft funktioniert: Beispielsweise wer Bürgermeister:in Wiens ist, worüber er*/sie* verfügen darf, wer die Einhaltung der Regeln in Wien überprüft, und was passiert, wenn wir gegen die vorgeschriebenen Regeln verstoßen.

Die Kulturpsychologie – eine sozialwissenschaftliche Disziplin, die untersucht, wie Kultur und Gemeinschaft das soziale Denken beeinflussen – erforscht jedoch auch informelle Netzwerke. Diese bilden ab, wie wir als Gesellschaft inoffiziell untereinander strukturiert sind: welche Gruppen befreundet und welche verfeindet sind, wer hohes Ansehen und damit eine bessere gesellschaftliche Stellung genießt, oder wer sozial eher abgelehnt wird (Fircks, 2023).

Das Original erfüllt hier die informelle Position des stadtbekannten Narren oder Kasperl (engl. fool narrative). Der Stadt-Kasperl belustigt nicht nur die Zuschauer:innen, er kann mit sozialen Regeln und Normen brechen und sagen und tun was er will, ohne dafür gesellschaftlich bestraft zu werden. Denn letztendlich ist und bleibt er sozialer Außenseiter.

Walusio

Waluliso (steht für Wasser Luft Licht und Sonne) am Stephansplatz. Umwelt- und Friedensaktivist sowie Wiener Original der 80er Jahre. (@Tramwayforum)

Die gesellschaftliche Kasperl-Rolle eines Originals adressiert auch Fritzi Kraus in ihrer geschichtlichen Forschungsarbeit: Am Hof eines Herrschers war dem Hofnarren jeder Blödsinn erlaubt, sogar das Beschimpfen und Verhöhnen des eigenen Gebieters, wie sie schreibt. Durch das Überschreiten der Grenze der ‚guten Sitten‘ werden diese Grenzen für das Volk erst richtig sichtbar – man weiß woran man sich zu halten hat und was man lieber unterlässt, um nicht selbst als Narr dazustehen (Kraus, 2008).

Der Kasperl kann aber auch den Wunsch der Menschen nach Nonkonformität befriedigen, ohne, dass sie den eigenen gesellschaftlichen Statusverlust dafür riskieren müssen. „Originale sprechen einen gewissen Punkt in den Menschen an, womöglich einen Wunsch. Sie verkörpern was man sich gern trauen, oder was man gern ausleben würde“, meint Fritzi Kraus. „Viele machen sich dann wohl aus Neid über sie lustig“, vermutet die Historikerin.

Michail Michailowitsch Bachtin, ein Literatur- und Kulturwissenschaftler, nennt dieses Phänomen „Karnevalisierung“ oder „Lachkultur“. Sein Beispiel dafür ist der Karneval, eine kurze Zeit im Jahr, in der Tabus gebrochen werden dürfen, wodurch die Einhaltung von Normen und gesetzten Strukturen den Rest des Jahres für die Menschen erträglicher wird. Bei Bachtin ist der Tabubruch zeitlich beschränkt. Beim Stadtoriginal ist die Grenzüberschreitung auf eine Person, den Stadtkasper, limitiert. Beide fungieren als gesellschaftliches Ventil – eine begrenzte Auslebung von Nonkonformität (Bachtin & Lachmann 1995).

Manchmal schafft es der Kasperl auch, mit seiner unverfrorenen Grenzüberschreitung die Grenzen für die restliche Bevölkerung auszudehnen. Schauspieler, Schriftsteller und Stadtoriginal Helmut Qualtinger erntete 1961 mit seinem Ein-Personen-Stück „Herr Karl“ anfangs viel Hass und Verachtung. Die von ihm verkörperte Figur des „Herrn Karl“ zeigt einen opportunistischen Mitläufer, der durch die Zeiten des Austrofaschismus, des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsbesatzung ständig die Lager wechselt und Freund:innen und Prinzipien verrät, um sich selbst Vorteile zu verschaffen.

Dies versteckt er hinter einer Fassade wienerischer Gemütlichkeit und herziger Naivität. Qualtinger brach mit dem „Herrn Karl“ mit dem gängigen Opfermythos und dem Schweigen um die Verbrechen dieser Zeit. Trotz Anfeindungen ermöglichte dies erstmals die öffentliche Thematisierung einer österreichischen Schuld – die Grenzen des Thematisierbaren wurden vom Nonkonformisten ausgeweitet.

Die gesellschaftliche Funktion von G'schichtl
druckn

In der Soziologie wird Tratsch (engl. gossip) definiert als wertendes Gerede über Einzelpersonen mit dem Zweck der Bildung oder Aufrechterhaltung eines sozialen Netzwerks.
Es dient der Unterhaltung, verfestigt die Gruppenstruktur und die gemeinsamen Normen. Sich über das Original, die Narrenfigur, lustig machen und ulkige oder skandalöse Geschichten über die Person weitererzählen, vermittelt den Menschen ein Gefühl von Zusammenhalt und Zugehörigkeit zur überlegenen Gruppe (DiFonzo & Bordia, 2007).

Die Geschichten, die sich um Stadtoriginale ranken, sind oftmals urbane Legenden (engl. urban myths), müssen demnach also nicht ganz der Wahrheit entsprechen, obwohl sie oft als wahr verkauft werden. Ihr gesellschaftlicher Zweck besteht auch nicht darin, die Geschehnisse der Stadt wahrheitsgemäß zu verbreiten wie eine Tageszeitung.

Urban myths sind Geschichten, die dazu dienen Sinn oder Bedeutung aus Ereignissen zu gewinnen. Die Geschichte kann ein bisschen verzerrt oder geflunkert sein, weil einzelne Elemente daraus hervorgehoben oder verstärkt werden, die dabei helfen gemeinsame Werte und Sinnhaftigkeiten weiterzugeben. Ob Joseph Kyselak wirklich vom Kaiser gerügt wurde, und sich ihm nachher trotzdem widersetzte, ist fraglich. Statt der reinen Wahrheit vermittelt die Geschichte jedoch die Moral, dass das Missachten einer hohen Autorität gesellschaftlich abzulehnen ist – denn so etwas würde nur ein Narr wagen (DiFonzo & Bordia, 2007).

Die Geschichte ist außerdem amüsant, der Tratsch bringt die Leute zusammen und wenn man sich über Kyselak und seine unmöglichen Schmierereien aufregt, fühlt man sich gleich ein bisschen besser und über ihn erhaben.

Kyselak Wachau

Kyselak-Graffiti in der WachauBambooBeast)

Das Phänomen Stadtoriginal ist wissenschaftlich nicht leicht zu erfassen, weil es sich hauptsächlich in der zwischenmenschlichen Interaktion ausdrückt.
Mithilfe unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Perspektiven; der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Kulturpsychologie ist es jedoch möglich, sich einer Definition und einem Verständnis der gesellschaftlichen Bedeutung von Stadtoriginalen anzunähern.

Wiener Originale: Vom Aussterben bedroht?

Auch heute gibt es noch einige Wiener Persönlichkeiten, die man als Stadtoriginal bezeichnen könnte, die jedoch diesen Status noch nicht öffentlichkeitswirksam erlangt haben. Der „Bierkavalier“ beispielsweise, ein Mann, der in der U4 sämtliche von ihm als weiblich eingestufte Personen fragt, ob sie mit ihm ein Bier trinken gehen wollen, erfüllt die Schrulligkeit, die Unbeirrbarkeit und den Wiedererkennungswert eines typischen Stadtoriginals.

Ob Richard Lugner und seine kultige Werbung für die Lugner-City den Original-Status verdient haben, ist fraglich, denn ein Original darf es bekanntlich nicht auf eine Steigerung der eigenen Popularität abgesehen haben.

Das ist mitunter ein Grund, weshalb Wiener Originale heute immer seltener werden. Zum einen begegnen sich die Leute weniger in der Öffentlichkeit und bleiben eher für sich. Zum anderen streben die Leute im Internet zunehmend nach Bekanntheit. Fritzi Kraus führt dies weiter aus: „Man kann das Publikum überhaupt nicht mehr vergleichen mit früher. Heute inszeniert und pusht man einfach schrullige Leute über Social Media.“ Deren Spleen verliert dadurch aber an Authentizität. Denn wer sich aktiv darum bemüht, eine verrückte Berühmtheit zu werden, kann niemals ein Original sein.

Originale werden zur Seltenheit, aber ihre gesellschaftliche Funktion wird nicht verloren gehen. Der Hofnarr des Mittelalters und die Originale der Moderne werden in unserer postmodernen Zeit gewiss von einer neuen Kasperlfigur abgelöst werden. Denn solange die Menschen in einer Gesellschaft mit Regeln leben, wird es Personen brauchen, die diese Regeln brechen, um sie uns aufzuzeigen.

Favoriten = zehnter Wiener Gemeindebezirk; historischer Arbeiter:innenbezirk

goschert = wienerisch/österr. für redegewandt, frech, nie um eine Antwort verlegen

G‘schichtln druckn = wienerisch/österr. für (nicht unbedingt wahre) Geschichten erzählen

Opfermythos = auch: Opferthese; verbreitete Argumentation nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. Diente zur Abweisung jeglicher Schuld und Leugnung der österreichischen Mittäterschaft an den NS-Verbrechen.

Schmäh = Wiener Humor oder Scherz, derb aber liebenswert, indirekt und mehrdeutig, oft schwarzer Humor

Spleen = Verrücktheit, Besonderheit

Bachtin, M. M., & Lachmann, R. (1995). Rabelais und seine Welt: Volkskultur als
     Gegenkultur
. Suhrkamp.
Deflem, M. (2017). Popular Culture and the Sociology of Fame. In M. Deflem (Ed.), Lady
     Gaga and the Sociology of Fame
(pp. 11-28). Palgrave Macmillan US.
Der Standard. (2007). Der legendäre Kritzler von Wien. Online.
DiFonzo, N., & Bordia, P. (2007). Rumor, Gossip and Urban Legends. Diogenes, 213,
     p. 19–35.
Ferris, K. O. (2007). The Sociology of Celebrity. Sociology Compass, 1(1), 371–384.
Kraus, F. (2008). Wiener Originale der Zwischenkriegszeit (Diplomarbeit). Universität
     Wien.
von Fircks, E. F. (2023). The Hero-Villain-Fool Narrative Construction Method: Assessing
     hidden organizational phenomena. Integrative Psychological and Behavioral Science, 57,
     1198–1222.

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