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Was ist ein Intensivinterview?
Schon die klassischen Ethnograf:innen der Jahrhundertwende wie Bronisław Malinowski erkannten die Notwendigkeit, mit Menschen Gespräche zu führen, um ihre Weltanschauung zu verstehen.
Malinowski, der zwischen 1915 und 1918 auf einer kleinen Insel Papua-Neuguineas die indigene Bevölkerung studierte, war einer der Ersten, der Kulturen aus der Innenperspektive begreifen wollte. Anstatt die Gemeinschaft, wie damals üblich, als passiver Außenbetrachter zu beschreiben, lernte Malinowski die Sprache der Einwohner:innen, um sich mit ihnen zu unterhalten und so deren Perspektive auf die Welt zu verstehen (Ayaß, 2016; Legard et al., 2012).
Intensivinterviews sind wie ein Gespräch gestaltet, damit die Befragten sich öffnen und ihre Ansichten möglichst ungezwungen und uneingeschränkt mitteilen können. Meist sind die Interviews deshalb gar nicht oder nur semistrukturiert. Das bedeutet, dass die Forscher:innen nur wenige offene Fragen vorbereiten und ansonsten dem natürlichen Verlauf des Gesprächs folgen. Diese Vorgehensweise wird auch als ‘explorativ’ bezeichnet, denn sie erlaubt spontanes Erkunden und sammelt auch all jene Daten, die über die Beantwortung der Forschungsfrage hinausgehen.
Zur Kontrolle fragen Forschende nach, ob die Gesprächspartner:innen die Aussagen richtig verstanden haben oder bitten die Interviewpartner:innen, etwas näher zu erläutern. Dieses Nachfragen wird als Probing bezeichnet. Neben der Kontrollfunktion hilft das Probing den Wissenschaftler:innen auch dabei, noch tiefer in die besprochenen Themen einzutauchen. Bei Tiefeninterviews geht es in erster Linie darum, von den Befragten zu erfahren, was ihnen zum Thema wichtig erscheint, wie sie das Thema wahrnehmen, und dies in ihren eigenen Worten zu erfassen. In der Regel werden solche Interviews mit Erlaubnis der Befragten aufgezeichnet, transkribiert und im Anschluss analysiert.
Die Herausforderungen qualitativer Forschung
In der Wissenschaft wird zwischen quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen unterschieden. Quantitative Forschung, die vor allem in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommt, identifiziert anhand der Analyse größerer empirischer Datenmengen allgemeine Muster. Demgegenüber konzentriert sich die sozialwissenschaftliche qualitative Forschung auf ein tieferes Verständnis einzelner subjektiver Erfahrungen, Annahmen, Perspektiven und Motivationen im Rahmen eines größeren gesellschaftlichen, kulturellen oder institutionellen Kontexts. Das wichtigste Ziel der qualitativen Forschung ist es, den Erforschten eine Stimme zu geben und ihre Standpunkte so gut wie möglich nachzuvollziehen (Scheibelhofer, 2008).
Daraus ergeben sich jedoch große Herausforderungen für die Forschenden. Um die Perspektive einer Person zu erforschen, sollte diese möglichst unbeeinflusst sein. Interviews sind allerdings immer auch zwischenmenschliche Situationen. Die soziale Dynamik zwischen fragenden Wissenschafter:innen und Befragten kann deshalb großen Einfluss auf die Antworten nehmen.
Das fängt schon bei der Interviewatmosphäre an. Fühlt sich ein:e Befragte:r mit der Interviewperson oder an dem Befragungsort nicht wohl, kann das die Bereitschaft, offen und ehrlich zu antworten, erheblich einschränken. Zusätzlich können Suggestiv- oder geschlossene Ja-Nein-Fragen das Interview in eine bestimmte Richtung manipulieren oder den natürlichen Gesprächsfluss stören.
Überdies antworten viele Menschen nicht wahrheitsgemäß, sondern so, wie sie es für sozial angemessen halten. Sie stellen sich selbst oder erlebte Situationen „besser“ dar, um der Forschungsperson zu gefallen und Verurteilungen zu vermeiden. In Umfragen zu Verkehrssicherheit geben Menschen trotz Anonymität beispielsweise nur ungern zu, dass sie bereits betrunken Auto gefahren sind. Diese sogenannte Tendenz zur sozialen Erwünschtheit (engl. social desirability bias) kann dementsprechend die Forschungsdaten verzerren (Schnapp, 2019).
Gleichzeitig können Fragen von den Interviewparnter:innen anders verstanden werden, als es die Forschenden beabsichtigen. Das kann einerseits an der missverständlichen Formulierung der Fragen liegen, aber auch auf ein anderes Weltbild der Befragten oder eine Sprachbarriere zurückzuführen sein. Bei qualitativen Interviews darf man also nicht vergessen, dass die Interviewpartner:innen die Fragen ihrem sozialen oder kulturellen Kontext entsprechend interpretieren und beantworten.
Darüber hinaus ist auch die Forschungsperson nicht frei von eigenen Annahmen, Vorurteilen und Meinungen. Forscher:innen müssen bedenken, dass sie bei der Theoriebildung, beim Interviewen und in der Datenauswertung unweigerlich ihre eigene Weltanschauung miteinbeziehen. Dieses Problem der beidseitigen Interpretation der Situation durch Forschende und Beforschte bezeichnet man in der Sozialforschung als „doppelte Hermeneutik“ (Hermeneutik = Interpretation, Verständnis). Weil alle Menschen soziale Wesen sind und unsere Wahrnehmung von unserem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext und unseren Erfahrungen „verfärbt“ ist, können die Ergebnisse der Sozialforschung niemals zur Gänze unverfälscht sein (Ginev, 2007).
Bei Intensivinterviews versuchen Wissenschaftler:innen, aus Gesprächen wissenschaftlich
relevante Informationen zu gewinnen
Die Dos und Don‘ts des qualitativen Interviews
All diese Herausforderungen müssen Sozialwissenschaftler:innen bei der Vorbereitung, der Ausführung und der Auswertung eines Intensivinterviews bedenken. Trotz des unweigerlichen Einflusses sozialer und subjektiver Faktoren gibt es einige best-practice-Strategien für ein erfolgreiches Intensivinterview.
Auf ein gutes Interview sollten sich Forschende eingehend vorbereiten. Normalerweise steht eine intensive Literaturrecherche am Beginn jedes qualitativen Interviews. So können sich die Forschenden nicht nur gründlich in das Forschungsthema einlesen, sondern auch die beste Herangehensweise an die Gespräche mit der beforschten Gruppe identifizieren. Der Ort, die Forschungsperson und die Interviewsprache sollten so gewählt werden, dass sich die Befragten wohl und verstanden fühlen und gerne öffnen.
In den 1940ern beispielsweise erforschte der Soziologe William Foote Whyte die italienischen Einwander:innen im Bostoner Stadtviertel North End, das von einer hohen Kriminalitätsrate geprägt war. Um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, passte sich Whyte an die lokale Kultur, die Sprache und die Bräuche an. Im Gegensatz zum Großteil der Bostoner Bevölkerung brachte Whyte Verständnis und Respekt für die Lebensumstände der Italo-Amerikaner:innen auf und konnte so durch Gespräche und Beobachtungen wichtige Erkenntnisse für seine Studie „Die Street Corner Society: Die Sozialstruktur eines Italienerviertels“ gewinnen (Whyte, 1943).
Obwohl qualitative Interviews wie ein Gespräch gestaltet und deshalb kaum strukturiert sind, ist es ratsam, die wichtigsten Fragen vorher festzulegen und die korrekte Formulierung anzuwenden. Fragen müssen offen, verständlich und neutral formuliert sein. Zum einen dürfen sie die Antwort nicht in eine bestimmte Richtung leiten oder vorausgesetzte Annahmen und Implikationen enthalten (Suggestivfrage). Fragen wie: „Sie sind doch auch der Meinung, dass man dieses Gesetz ändern sollte, nicht wahr?“, oder: „Hintergehen Sie immer noch Ihren Arbeitgeber?“ sind demnach Tabu. Eine offene Formulierung der Frage soll zum Erzählen einladen. Ja-Nein-Fragen wie „Gefällt Ihnen das?“ sind für ein Tiefeninterview ebenso nicht geeignet. Für solche Interviews eignen sich vor allem offene Wie-Fragen – etwa: „Wie haben Sie sich in dieser Situation gefühlt?“, die das Gegenüber zum Erzählen einladen.
Mithilfe der offenen Fragen soll eine möglichst breite Informationsmenge gesammelt werden. Dieses Vorgehen nennt man auch die „traveler metaphor“ (dt. Reisenden Metapher). Die Interviewperson lässt sich von den Befragten auf eine „Erzähl-Reise“ mitnehmen und kann so ein breites Spektrum an Daten aufnehmen.
Um bei gewissen Themen in die Tiefe zu gehen und auch Subtexte und Unausgesprochenes gründlicher zu erkunden, wird das oben erwähnte Probing – also gezieltes Nachfragen – angewendet. Probes basieren auf dem bereits Erzählten und können deshalb nicht vorbereitet werden. Forschende müssen genau hinhören und den richtigen Moment wählen, um Befragte nicht zu unterbrechen oder vom Thema abzubringen und auch ihre Probing-Fragen neutral und offen formulieren. Diese Herangehensweise wird als „miner metaphor“ (dt. Bergarbeiter Metapher) bezeichnet. Die Sozialwissenschaftler:innen fragen bei interessanten Aussagen näher nach, um tiefer nach genauer Information zu „graben“ (Legard et al., 2012).
Zwei Methoden des Intensivinterviews: Die Traveler- und die Miner-Methode
Qualitative Interviewer:innen sollten auch die Kunst des Schweigens beherrschen. Ein:e gute Sozialwissenschaftler:in unterbricht nicht und wartet auch bei Stille erst einige Sekunden ab, bevor er* oder sie* weitere Fragen stellt. Ein:e vorbildliche Forscher:in hütet sich auch davor, selbst zu große Gefühle zu zeigen. Einerseits sollte die Interviewperson empathisch und aufgeschlossen wirken, andererseits darf sie nicht zu emotional reagieren, um Neutralität und Professionalität zu vermitteln und die Gesprächsperson nicht zu beeinflussen.
Um der doppelten Hermeneutik so gut wie möglich entgegenzuwirken, sollten die Fragen und die Herangehensweise möglichst wissenschaftlich begründet sein. Unmittelbar nach dem Interview verfasst der* oder die* Forschende außerdem ein Protokoll oder Memo. Darin werden alle Umstände von der Begrüßung, über die eigenen Empfindungen und Eindrücke während des Interviews, bis hin zur Verabschiedung festgehalten. Auch das Memo zählt als erhobene Daten und wird bei der Auswertung miteinbezogen, weil es Aufschlüsse über etwaige Beeinflussungen liefern kann. Bei der Analyse der Interviewtranskripte werden alle möglichen Bedeutungen einer Aussage im Gesprächskontext abgewogen, um so nah wie möglich an den Sinn des Gesagten heranzukommen. So soll wissenschaftlich sichergestellt werden, dass die Forschenden die Erzählung trotz anderer Perspektive und Weltanschauung der Befragten weitestgehend verstanden haben.
Um Fehler und starke Subjektivität zu vermeiden, werden die gesammelten Daten häufig von anderen Forschenden, die nicht beim Interview anwesend waren, kontrolliert. Auch die Triangulation, das Gegenprüfen der gewonnenen Daten mithilfe weiterer wissenschaftlicher Quellen zum Forschungsthema, hilft Fehlerquellen zu minimieren. Wichtig ist es auch, jeden Forschungsschritt transparent zu begründen und zu dokumentieren (Creswell, 2013).
Warum es qualitative Interviews braucht
Die Auswertung qualitativer Interviewdaten ist nicht nur dazu da, die ursprüngliche Forschungsfrage zu beantworten. Methoden wie das Intensivinterview neigen dazu, eine Vielzahl von Daten und Zusammenhängen zu erfassen, von denen die Forschenden möglicherweise zu Beginn der Forschung noch gar nichts wussten oder die sie nicht berücksichtigt haben. Deshalb eignet sich diese Methode besonders gut zum Generieren neuer Hypothesen und Theorien (Clark & Badiee, 2010).
Wird das Intensiv- oder Tiefeninterview richtig durchgeführt, wirkt es für die befragte Person tatsächlich wie ein angenehmes Gespräch. Für die Wissenschaftler:innen stellt so ein Interview jedoch eine anstrengende und herausfordernde Situation dar, die eine Menge an Vor- und Nachbereitung, viel Übung, Flexibilität, Einfühlsamkeit sowie Disziplin verlangt.
Qualitative Forschungsergebnisse sind gegenüber quantitativen Resultaten nur schwierig reproduzierbar und damit weniger verlässlich. Dies und der Einfluss subjektiver Interpretationen bilden große Schwierigkeiten qualitativer Forschung.
Trotzdem ist das qualitative Interview eine gute Herangehensweise, um die Erfahrungen, Motive und Sichtweisen bestimmter Personengruppen zu erforschen. Denn ein standardisierter Fragebogen und Bevölkerungsstatistiken können niemals denselben Grad an Tiefe oder die gleiche Nuancierung erreichen wie ein gutes Intensivinterview.
Ayaß, R. (2016). 1922: Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific. In S.
Salzborn (Hrsg). Klassiker der Sozialwissenschaften (2. Aufl.), Springer, 96-99.
Clark, V., L. Plano, & Badiee, M. (2010). Research Questions in Mixed Methods Research.
In A. Tashakkori & C. Teddlie (Hrsg.). Mixed Methods in Social & Behavioral Research.
Sage Publications, 275-304.
Creswell, J. (2013). Controversies in Mixed Methods Research. In N. Denzin & D. Lincoln
(Hrsg.). Strategies of Qualitative Inquiry. Sage Publications, 101-133.
Ginev, D. (2007). Doppelte Hermeneutik und Konstitutionstheorie. Deutsche Zeitschrift
für Philosophie, 55(5), 679-688.
Legard, R., Keegan, J., & Ward, K. (2012). In-depth Interviews. In J. Ritchie & J. Lewis
(Hrsg). Qualitative Research Practice: A Guide for Social Science Students and
Researchers. Sage Publications, 138-169.
Scheibelhofer, E. (2008). Combining Narration-Based Interviews with Topical Interviews:
Methodological Reflections on Research Practices. International Journal of Social
Research Methodology, 11(5), 403-416.
Schnapp, P. (2019). Sensitive Question Techniques and Careless Responding: Adjusting
the Crosswise Model for Random Answers. Methods, Data, Analyses, 13(2), 307-320.
Whyte, W. F. (1943). Street corner society: The social structure of an Italian slum (2. Aufl.).
The University of Chicago Press.