Kind das nach einem Buch in einem Regal greift

Wie entstehen Chancenungleichheiten wirklich – durch zu wenig Einsatz oder durch ungleiche Startbedingungen?alexandria erklärt anhand von fünf Fakten, wie eng Bildung und Armut miteinander verwoben sind. Führt eine schlechte Bildung niedrigerem Sozialstatus? Oder ist es etwa umgekehrt?

In der Schule wird einem vermittelt: Wenn du fleißig lernst, dann wirst du auch etwas werden. Gute Noten sollen zu aussichtsreichen Berufschancen und diese wiederum zu einem gehobenen Einkommen und sozialem Status führen. Wer also in Armut und Ausgrenzung lebt, der hat sich nicht genug angestrengt – so zumindest die Erzählung. Auf der anderen Seite beklagen politische Aktivist:innen die Bildungsschere: sozial ausgegrenzte und weniger wohlhabende Kinder hätten schlechtere Chancen auf Bildung als ihre vermögenden Mitschüler:innen. Was war also zuerst da? Schlechte Bildung, die zu niedrigerem Sozialstatus führt? Oder niedriger Sozialstatus, der schlechtere Bildung bedingt? Im Rahmen des Themenschwerpunkts „Henne – Ei“ beleuchtet alexandria diese Frage wissenschaftlich mit fünf Fakten. Einen Glossar mit allen Fachwörtern findest du am Ende der Seite.

1) Bildungsabschlüsse werden vererbt

Schon der erste Fakt kann das Rätsel um den Teufelskreis auflösen. Statistisch gesehen, erreichen Kinder in Österreich niedrigere Bildungsabschlüsse, wenn ihre Eltern selbst einen niedrigen Bildungsstatus haben. Rund 61 Prozent der Akademiker:innen-Kinder schließen selbst mit einem Hochschulabschluss ab. Haben die Eltern umgekehrt keinen höheren Bildungsgrad als einen Pflichtschulabschluss, erreichen bloß 9 Prozent der Kinder einen Hochschul-Titel (APA-Science, 2024). Hier sind also nicht eine mangelnde Leistung, sondern die ungleichen Start-Bedingungen Schuld an der Bildungsschwäche.

Wenn die Eltern genug Geld verdienen, um ihre Kinder finanziell unterstützen zu können, müssen diese auch nicht oder nur wenige Wochenstunden neben der Uni oder der FH arbeiten gehen. Sie können meist direkt nach der Schule an einer Hochschule beginnen, sich auf das Studium konzentrieren und früher abschließen. Je mehr Studierende neben der Hochschulausbildung arbeiten müssen, desto weniger Zeit können sie in die Bildung investieren. Die Zeit, die man wöchentlich für das Studium aufwendet, nimmt stark ab, sobald man mindestens 9 Wochenstunden arbeitet (s. Grafik).

Zusammenspiel von Arbeitszeit und Zeit fürs Studieren

Erwerbstätigkeit und Zeit fürs Studium hängen direkt zusammen. Je weiter rechts sich jemand auf dieser Grafik befindet, desto mehr Zeit muss für Arbeit aufgewendet werden. Zeitgleich sinkt die verfügbare Zeit fürs Studium, obwohl der totale Aufwand (Arbeit + Studium) steigt (Zucha et al., 2024).

Zusätzlich ist der Zugang zu Bildungsmaterialien oder Nachhilfe für sozioökonomisch benachteiligte Familien eingeschränkter, was die Bildungsschere zwischen Arm und Reich weiter verstärkt. Laut einer PISA-Studie aus dem Jahr 2022 haben beispielsweise nur 8 Prozent der Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus mehr als 100 Bücher zu Hause (Zucha et al., 2024).

2) In Österreich ist die einkommensbedingte Bildungsschere besonders groß

Im internationalen Vergleich ist Österreich stark Chancen-ungleich, also die Bildungsschere zwischen weniger wohlhabenden Personen und Personen in den oberen Einkommensschichten ist viel größer als in anderen EU- und OECD-Staaten. Länder wie Irland, Estland und Lettland liegen im Ländervergleich ganz an der Spitze der Chancengleichheit. Österreich hingegen bildet beim Lesen und in den Naturwissenschaften das Schlusslicht der 40 geprüften OECD- und EU-Staaten – nirgends ist die soziale Schere größer. Das zeigt eine PISA-Studie, die fünfzehn- bis sechzehn-jährige Schüler:innen prüfte. Sozial benachteiligte Kinder liegen in Österreich etwa vier bis fünf Lernjahre hinter ihren gleichaltrigen wohlhabenden Kommiliton:innen. Kein anderes OECD-Land weist in diesen beiden Bereichen eine derart große Differenz zwischen den Einkommensklassen auf.

Diese Ungleichheit hat sich außerdem seit 2018 in Österreich weiter verschlechtert. Krisensituationen wie die Covid-19 Pandemie verstärken den Bildungs-Gap. Während der Pandemie-bedingten Lockdowns hatten Schulkinder aus einkommensschwachen Haushalten deutlich weniger Lernunterstützung als ihre wohlhabenden Mitschüler:innen und waren dadurch noch stärker abgehängt (Toferer et al., 2023).

3) Migrantische Kinder und Jugendliche werden trotz gleicher Leistungen schlechter beurteilt

Fleißiges Lernen reicht entgegen so mancher Behauptung nicht immer aus, um gute Noten zu erzielen. Denn nicht alle Kinder werden in den Bildungsinstitutionen gleichbehandelt. Eine Studie aus Deutschland (2018) stellte fest, dass das Lehrpersonal Schüler:innen mit Migrationshintergrund trotz gleicher Leistungen schlechter beurteilte als die autochthon-deutschen Schulkinder. Im Durchschnitt wurden Kinder um 0,3 Notenpunkte schlechter benotet, wenn sie „Murat“ hießen, als Kinder mit dem Namen „Max“ – bei genau gleicher Fehleranzahl. Die Studie zeigt, dass sich soziale Ausgrenzung und Vorurteile negativ auf den Bildungsweg auswirken. Für sozial benachteiligte Kinder – aufgrund beispielsweise ihrer Herkunft, ihres finanziellen Hintergrunds, ihres Aussehens, ihrer Religion – existieren immer noch Barrieren, die nicht von ihrer Leistung abhängen (Bonefeld & Dickhäuser, 2018).

4) Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss sind viel häufiger (Langzeit-)arbeitslos

Wer nicht das Glück hat, in eine hochgebildete Familie geboren worden zu sein, schließt, wie wir nun wissen, tendenziell mit einem niedrigeren Bildungsabschluss ab. Das führt wiederum zu geringeren Berufschancen und häufigerer Arbeitslosigkeit. Im Jahr 2024 war in etwa jede:r vierte geringqualifizierte Person – also jene, die nur die Pflichtschule abgeschlossen haben – beim AMS als arbeitslos gemeldet. Demgegenüber waren in derselben Zeit bloß 3,4% aller österreichischen Akademiker:innen arbeitslos (AMS, 2025). Zwar steigt die absolute Arbeitslosenzahl unter Menschen mit Hochschulabschluss, das liegt jedoch daran, dass insgesamt immer mehr Personen diesen Abschluss erreichen. Das relative Risiko, keine Arbeit zu finden, bleibt jedoch in dieser hoch ausgebildeten Gruppe gering.

Auch der Großteil der Menschen, die in Langzeitarbeitslosigkeit leben, also mehr als ein Jahr durchgehend – kurze Berufstätigkeiten von maximal 28 Tagen am Stück werden nicht gezählt – keine Arbeitsstelle finden, sind Geringqualifizierte. Höhere Bildung ist damit ein Sicherheitsnetz, das besser vor Arbeitslosigkeit schützt. Diese Bildung zu erhalten, ist jedoch ein Privileg und nicht für alle gleichermaßen zugänglich.

5) Geringe Qualifikation führt zu einem Teufelskreis instabiler Beschäftigung

Personen mit geringer Qualifikation erleben häufig schlechte Entlohnung und prekäre, also instabile, Beschäftigungssituationen. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, den Job rascher wieder zu verlieren. Dieses Phänomen nennt man „Drehtüreffekt“. Im Niedriglohnsektor, also in dem Bereich des Arbeitsmarktes, wo Arbeitnehmer:innen wenig Geld verdienen, wechseln Menschen häufiger zwischen prekärer Anstellung und Arbeitslosigkeit. Somit wird es ihnen erschwert, aus der unteren Einkommensklasse aufzusteigen und verstärkt die soziale Benachteiligung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens.

Vor allem in der Langzeitarbeitslosigkeit ist es für Betroffene nicht einfach, eine neue Stelle zu finden. Laut einer AMS Studie aus dem Jahr 2025 stellen österreichische Arbeitgeber:innen weniger gerne jene Menschen ein, die schon längere Zeit joblos waren. Dieses Verhalten verfestigt jedoch nur die Benachteiligung der Bewerber:innen, denn mit fortdauernder Arbeitslosigkeit wird es zunehmend herausfordernder, einen neuen Job zu finden (Mlakić, 2025).

Ist das Leistungsversprechen noch zeitgemäß?

Zusammenfassend ist das Leistungsversprechen – je härter man sich anstrengt, umso besser sind die Jobchancen – wissenschaftlich gesehen leider unwahr. Da der eigene Bildungsgrad vom Bildungsgrad der Eltern und oftmals auch der kulturellen Herkunft und nicht von der eigenen Leistung abhängt, entsteht eine Bildung-Armut-Spirale: Für Menschen, die aufgrund der ungleichen Start-Bedingungen niedrigere Bildungsabschlüsse haben, ist die Jobsuche mühsamer und die Arbeitssituation oft instabil und schlecht bezahlt. Durch das niedrige Einkommen ist ihr Zugang zu Bildung und jener ihrer Kinder eingeschränkter – und das ganze geht wieder von vorne los. Derzeit ist der Zugang zu Wissenschaft und Bildung in Österreich und auch in Deutschland also noch ein Privileg, von dem vor allem wohlhabende Kinder profitieren. Die gleiche Chance auf einen höheren Bildungsabschluss ist aber nicht nur wichtig für das zukünftige Berufsleben und die Existenzsicherung, sondern auch für die gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben – also für die Demokratie und eine gerechte Gesellschaft.

autochthon-deutsch: Menschen, die aus Familien stammen, die seit vielen Jahren oder Generationen in Deutschland leben und als „einheimisch“ gelten – im Unterschied zu Personen mit Migrationserfahrung in der jüngeren Familiengeschichte. Das ist jedoch keine biologische Abgrenzung – Migrationsbewegungen ziehen sich durch alle Kulturgruppen und die gesamte Menschheitsgeschichte, und nur die wenigsten Menschen leben wirklich seit „immer“ am gleichen Ort.

Chancen-(Un)Gleichheit: Beschreibt, inwiefern Personen aus unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen die gleichen Möglichkeiten und Chancen in der Gesellschaft, zum Beispiel am Arbeitsmarkt, genießen oder nicht.

Geringqualifiziert: Personen, deren höchster Bildungsabschluss die Pflichtschule ist.
Hochschulbildung: In Österreich zählen Universitäten und Fachhochschulen (FHs) zu den Hochschulen.

Lernjahr (PISA): Durchschnittlicher Wissens- und Kompetenzzuwachs, den Schüler:innen der Altersklasse fünfzehn bis sechzehn in einem (Schul-)Jahr machen.

OECD: Steht für Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie ist eine internationale Organisation mit 38 Mitgliedstaaten in Europa, Asien, Nord- und Südamerika. Die Mitgliedsstaaten gehören zu den wohlhabendsten Nationen der Welt.


PISA-Studie: Internationale Vergleichsstudie der OECD, die alle drei Jahre die Problemlösungs-Fähigkeiten von fünfzehn- bis sechzehn-Jährigen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften prüft.


Sozioökonomischer Status: Beschreibt die Einkommensklasse und andere soziale Umstände, die das gesellschaftliche Leben einer Person beeinflussen können. Dazu zählen beispielsweise neben Einkommen auch das Geschlecht, die Herkunft, der Bildungsgrad, die Religion etc.

AMS (2025). Übersicht über den Arbeitsmarkt: Oktober 2025.

APA-Science. (2024, 21. Mai). Wie die Eltern, so das Kind – Bildung wird weiter vererbt. Austria Presse Agentur.

Bonefeld, M., & Dickhäuser, O. (2018). (Biased) grading of students’ performance: Students’ names, performance level, and implicit attitudes. Frontiers in Psychology, 9, (481). https://doi.org/10.3389/fpsyg.2018.00481

Mlakić, V. (2025). Entwicklung der Beschäftigung und Arbeitslosigkeit von Akademiker_innen: AMS Spezialthema zum Arbeitsmarkt. Arbeitsmarktservice Österreich, Abteilung Arbeitsmarktforschung und Berufsinformation (ABI). AMS Österreich. (Reihe: AMS Spezialthema zum Arbeitsmarkt – Jänner 2025).

Toferer, B., Lang, B., & Salchegger, S. (Hrsg.). (2023). PISA 2022: Kompetenzen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft am Ende der Pflichtschulzeit im internationalen Vergleich. Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS). https://doi.org/10.17888/pisa2022-eb

Zucha, V., Engleder, J., Haag, N., Thaler, B., Unger, M., Zaussinger, S., Binder, D., & Fage, I. (2024). Studierenden-Sozialerhebung 2023 auf einen Blick. Institut für Höhere Studien (IHS).

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