Dieser Beitrag ist Teil unseres Themenschwerpunkts "Kriegsende" – und bietet euch ein besonderes Extra: Eine eigens zusammengestellte YouTube-Playlist mit allen im Text erwähnten Songs. Taucht ein in die Stimmung der 60er- und 70er-Jahre – ob beim Lesen oder einfach zum Nachhören!
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Alle kennen es. Ein bestimmter Song läuft im Radio und man fühlt sich in der Zeit zurückversetzt. Sei es Ariana Grande zu Beginn des neuen Jobs, Cigarettes after Sex nach dem Break-Up oder Eros Ramazotti im Caorle-Urlaub 2007. Musik hat die Fähigkeit, starke Assoziationen in uns auszulösen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist uns dieses Phänomen bekannt. Es gibt wohl keinen Krieg, der mit einem so klar definierten Soundtrack ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist wie der Vietnamkrieg. Diese spezifischen Songs, von Rock and Roll zu Country, von Hendrix zu den Stones, werden auch in US-amerikanischen Filmen gespielt, die sich mit dem Vietnamkrieg beschäftigen. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Kriegsendes fragen wir uns anhand dieser Filmmusik, wie unsere Wahrnehmung und unser Bild des Krieges geformt werden.
Was ist eigentlich ein Bild?
Zunächst ist eine Verortung angebracht. Wo befinden wir uns eigentlich, wenn wir vom Bild des Vietnamkrieges sprechen? Es wäre ja praktisch, wenn es bereits eine „Bild-Wissenschaft“ gibt, die sich mit Fragestellungen wie dieser befasst und deren Begriffe wir ausborgen können. Tatsächlich gibt es sie: Die sogenannte Imagologie setzt sich mit den Ursprüngen und Funktionsweisen von Bildern auseinander. Sie hängt historisch eng mit der Sprach- und Literaturwissenschaft zusammen, ist aber auch in vielen anderen Wissenschaften wie zum Beispiel den Post-Colonial Studies eine wichtige Perspektive (Leerson, 2007a).
Ein Bild, so der niederländische Literaturwissenschaftler Joep Leerssen (Leerssen, 2007b), ist eine mentale Repräsentation einer Gruppe, Ethnie oder Nation. Es lebt also in erster Linie in unseren Köpfen. Beim Bild geht es nicht um Verbildlichung, sondern um generelle Attribute wie „alle Wiener:innen sind unfreundlich“. Ein Bild hat in der Imagologie nicht unbedingt etwas mit der wirklichen Identität des Repräsentierten zu tun, es zeigt eher mögliche Identifizierungen auf. Welche Identifizierung abgerufen wird, hängt natürlich von vielen Faktoren ab: bei Nationen beispielsweise die Nähe zum repräsentierten Land und ob es sich um ein Fremdbild oder ein Selbstbild handelt (Beller, 2007).
Mit dieser theoretischen Absicherung im Rücken können wir nun überlegen, welche Bilder es vom Vietnamkrieg gibt. Was wird unmittelbar mit ihm verbunden? Auf jeden Fall: Rock and Roll und antiautoritäre Protestkultur.
An dieser Stelle möchten wir anmerken, dass dies kulturellen Assoziationen nicht universal sind; es handelt sich bei den in diesem Text behandelten Bildern ausschließlich um Bilder aus US-amerikanischer oder europäischer Perspektive. Die Bilder, die man beispielsweise im Vietnam vom Krieg hat, sind nicht dieselben
Aufkommende Proteststimmen
Um die Verbindung des Vietnamkriegs und Rock and Roll anhand des Beispiels Film zu verstehen, blicken wir zurück in die Geschichte. Der britische Gelehrte und Photograph Peter Hope (2014) hat sich mit der Mythologisierung des Vietnamkriegs durch Rock and Roll im Film befasst. Die Hollywood-Filmindustrie stand in den 40ern und 50ern unter dem Generalverdacht, mit dem Kommunismus zu sympathisieren. Für große Filmstudios waren Filme über den sich anbahnende Konflikt in Südostasien, egal welcher ideologischen Gesinnung, also ein heikles Thema.
Waren Filme über den Zweiten Weltkrieg nach wie vor populär, entstand während des Vietnamkonflikts eigentlich nur ein großer Film, der kriegsaffirmative The Green Berets (1968), der bereits eine Reaktion auf die Anti-Kriegs-Proteste in den USA war. Dieser sticht bis heute als der einzig große Pro-Kriegsfilm heraus, die anderen werden im Allgemeinen als Anti-Kriegsfilme bezeichnet. Letztere erscheinen in zwei Phasen Ende der 70er und der 80er Jahre, also erst nach dem Abzug der US-amerikanischen Soldaten 1973.
Ähnlich wie beim Film war auch die in den 50ern und 60ern aufkommende Pop- und Rockmusik, in den USA zunächst nicht völlig uneingeschränkt hinsichtlich der Thematisierung des Vietnamkriegs, da die US-amerikanische Bevölkerung diesbezüglich anfänglich gespalten war. Generell war die Bewegung in dieser Musik hin zum persönlichen Stil der Singer-Songwriter, also der einzelnen, eigenständig Komponierenden wie zum Beispiel Bob Dylan, auch ein Schritt in Richtung des Ausdrucks der eigenen Gefühle gegenüber zeitgenössischen Thematiken wie dem Civil Rights Movement, Umweltschutz oder Frauenrechten. Letztendlich verband man mit dem Begriff Rock and Roll mehr als nur eine Musikrichtung, nämlich eine Lebenseinstellung: Anti-Establishment, Gegen- und Protestkultur, Rebellentum.
Es war zu Beginn der 60er Jahre trotzdem nicht leicht, Kritik an dem US-Einsatz in Vietnam zu üben, ohne unpatriotisch zu wirken. Die frühen folk-revival Protestsongs der 60er waren dementsprechend indirekter in ihrer Bedeutung und wurden von allen Lagern rezipiert. Ein Beispiel dafür ist Dylans Blowin‘ in the Wind (1963): „How many seas must a white dove sail, before she sleeps in the sand?“. Schärfere, direktere Songs, wie Edwin Starrs War (1970), konnten erst später massenhaft Anklang finden, als sich die öffentliche Meinung zum Krieg geändert hat. Bei Starr ist der Text unmissverständlich: „War, h’uh, what is it good for? Absolutely nothing.“ Ebenso anschaulich ist Jimmy Hendrix Machine Gun (1970), in dem man sogar das Geräusch der titelgebenden Waffe hören kann.
Der Sound dieser Zeit war nun zunehmend auch in den Filmen zu hören. Mike Nichol’s The Graduate war unter Verwendung von Mrs Robinson von Simon and Garfunkel sehr erfolgreich, der Song wurde ebenso ein Hit. Die Verwendung von zeitgenössischer Musik im Film sorgt für eine zusätzliche Bedeutungsebene: sie kann bereits existierende, kulturelle Assoziationen transportieren (Lapedis, 1999). Das ist dem oben beschriebenen Hervorrufen gewisser Stimmungen, Gefühle und Erinnerungen beim Hören spezifischer Musik wohl gar nicht so unähnlich.
Zeitgenössische Soundtracks im Vietnamkriegsfilm
Nun nähern wir uns unserer anfänglichen Frage: Wie sieht es aus mit dem Vietnamkriegsfilm und der Verwendung der damals zeitgenössischen Tracks? Das Einbauen dieser Musik ist für die Studios eine Möglichkeit, dem Film Authentizität zu verleihen. Den Beginn dieser speziellen Art von Filmmusik im Vietnamkriegsfilm stellt wohl Hal Ashby’s Coming Home (1978). In diesem Film wird unter anderem auf Songs von Janis Joplin, Jefferson Airplane und Buffalo Springfield zurückgegriffen. Im Fokus dabei steht nicht die inhaltliche Überlappung der Lieder mit den im Film gezeigten Szenen, sondern die Quantität der Titel, zwanzig an der Zahl. Es wird hauptsächlich die Zeit referenziert, in welcher der Film spielt. Außerdem werden einzelne Charaktere mit ihrem individuellen Track präsentiert. Beispielsweise der Pro-Krieg-Marine Captain Bob Hyde mit seinen nicht mehr zeitgenössischen Ansichten vom Krieg: Er wird unter Abspielen von Out of Time von den Rolling Stones vorgestellt. Es sind die Assoziationen, die die Tracks auslösen und die Stimmung der Zeit, die im Vordergrund stehen.
Ein weiteres Beispiel für diese „Sound-of-the-Sixties-Funktion“ im Film ist der allseits bekannte Forest Gump (1994). In den ersten acht Minuten der Vietnam-Sequenz des Films werden ganze acht Songs aus dieser Zeit abgespielt, als Einstieg Fortunate Son von Creedence Clearwater Revival. Dieser Song kritisiert das ungerechte US-amerikanische System, in welchem sich reiche Söhne aus dem Wehrdienst herauskaufen können. Generell hat die Verwendung dieser Musik das Ziel, eine authentische 60er-Atmosphäre zu erschaffen. Peter Hope argumentiert, dass der Wiedererkennungseffekt dieser weit bekannten Songs auch als Abschwächung einer sonst möglicherweise ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Krieg funktioniert. Die Songs spielen zudem gerade nur so kurz, dass ein kultureller Code aktiviert wird: Rebellion, freie Liebe, Drogenfantasie (Lapedis, 1999).
Die Filmmusik in diesen Antikriegsfilmen dient wohl kaum dazu, den Krieg zu beschönigen. Dennoch lohnt sich ein aufmerksames Ohr: die massenhafte Verwendung „authentischer“ Hits trägt dazu bei, ein Bild zu konstruieren. Wir sollten uns bewusst werden, welche Assoziationen auf solche Weise gestrickt werden können, vor allem, wenn eine mögliche Abschwächung der Auseinandersetzung oder eine Verschiebung der Erinnerung im Raum steht.
Eine der möglicherweise einflussreichsten Implementierungen dieses Soundpanoramas findet man in Stanley Kubricks Film Full Metal Jacket (1979). Die Auswahl der abgespielten Titel ist spärlich und Protestsongs, in Form von Rock oder Pop, finden im Gegensatz zu ruhigeren Tracks, die einen emotionalen Kontrast gegenüber den erschütternden, visuellen Szenen bilden, keinen Eingang in den Film. Zu Beginn ertönt der einzige Song, welcher einen konkreten Bezug zum Krieg aufweist: Hello Vietnam von Tom T. Hall, ein Countrysong, der unmissverständlich den Krieg unterstützt: „We must stop communism in that land, or freedom will start slipping through our hands“. Währenddessen sieht man, wie jungen Rekruten die Haare, ein Symbol ihrer Individualität, abrasiert werden. Sam the Shams und The Pharaohs beschwingter Partyhit Wooly Bully läuft im Hintergrund, als ein US-Soldat seinen “Freund” vorstellt, der sich als toter Vietnamese herausstellt.
Berühmt geworden ist auch das Abspielen von Paint it Black von den Rolling Stones für den Abspann. Hope argumentiert, dass die Credits, weiß auf schwarz, in Kombination mit dem hämmernden Rhythmus des Songs darauf hinweisen könnten, dass das die Essenz des Films ist. „I see a red door and I want it painted black” verweist auf die dunklen Seiten des Menschen. Wir haben es hier also durchaus mit dem Soundtrack der Zeit zu tun, aber nicht mit den klassischen Protestsongs.
Bedeutungsumkehr in Videospielen
Paint it Black nahm anschließend an Kubricks Film eine uneindeutige Stelle als Signifikant des Vietnamkrieges ein. Eingespielt während dem Vorspann der beliebten Vietnam-TV-Show Tour of Duty oder unter zusammengeschnittenen Gaming-Material auf Youtube: Bemerkenswerterweise wird der Song, entgegengesetzt zu Kubricks ursprünglicher Intention, auch als Mittel zur Glorifizierung des Kriegs verwendet.
Dieser Titel der Rolling Stones dient auch als Soundtrack für Videospiele, zum Beispiel für “Conflict: Vietnam” (2004). Der Vietnamkrieg, als beliebte Szenerie für Shooter-Games, kommt hier auch mit dem bereits durch das Kino vorselektierten Soundtrack. Dadurch wird versucht, Stimmung und Authentizität zu vermitteln, ähnlich wie im Film. Die Spielenden können somit gleichzeitig einen Hauch von Rebellentum und Psychedelika-60s-Gefühl verspüren, sowie die Rolle des Helden in Vietnam ausüben. Der bereits erwähnte Song Fortunate Son wird in der Eröffnungsszene von Call of Duty: Black Ops – Vietnam (2010) über die Ingame-Show „The Psychadelic Music Show“ abgespielt.
Selbstreflexion: Wie formt sich unsere Wahrnehmung?
Diese und unzählige andere Beispiele für die Verwendung von Musik aus den 60ern und 70ern im Film oder in Computerspielen tragen deutlich zum Prozess der Entwicklung eines Bildes vom Vietnamkrieg bei. Speziell für jene, die keine persönlichen Erinnerungen an den Krieg haben können, trägt die Unterhaltungsindustrie massiv zur Entwicklung unserer Wahrnehmung bei.
Die Imagologie beschäftigt sich nicht mit den „eigentlichen“ oder „wahren“ Bildern, in diesem Fall wäre die Geschichtswissenschaft wohl hilfreicher. Wir haben gesehen, dass dem Krieg durch Musik im Film eine mehr oder weniger mystische Rock and Roll-Aura verliehen wird. Das kann unter anderem zu einer Abschwächung einer wichtigen Auseinandersetzung mit dem Thema oder zu einer Verschiebung von Erinnerung und Tatsachen führen und unseren Umgang mit dem Vietnamkrieg nachhaltig beeinflussen. Besonders deutlich wird das, wie wir gesehen haben, bei der Bedeutungsumkehr von Paint it black in Kriegsvideospielen.
Während des Kriegs starben allein in Südvietnam um die drei Millionen Menschen, davon zwei Drittel Zivilist:innen. Im Norden waren es vermutlich genauso viele. Die USA warfen während des Einsatzes viermal so viele Bomben ab wie während des Zweiten Weltkriegs. Der Vietnamkrieg spaltete die USA und gilt bis heute als einer der größten politischen Fehlschläge in der US-Geschichte .
Sich kritisch nach den eigenen als wahr angenommenen Bildern und Assoziationen zu fragen und darüber nachzudenken, woher diese kommen, ist wichtig. Die Erkenntnis, dass wir Menschen die Dinge nicht automatisch so wahrnehmen, wie sie sind oder waren, erfordert eine kritische Selbstreflexion. Was den Vietnamkrieg und sein Rock and Roll-Bild angeht, ist es für eine reflektierte Erinnerungskultur notwendig, einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen, aus welchen Bilder unser Gedächtnis geformt wird.
Beller, M. (2007). ‘Perspective’. In: M. Beller & Leerssen, J. (eds.). Imagology: The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters – A Critical Survey. Series: Studia Imagologica, vol. 13. Amsterdam and New York: Rodopi (pp.395-397)
Hope, P. (2014). The Mythologizing of the Vietnam War through the Use of Rock and Roll, publiziert in Mythologizing the Vietnam War: Visual Culture and Mediated Memory. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, S.63-78.
Lapedis, H. (1999). Popping the Question: The Function and Effect of Popular Music in Cinema. Popular Music, 18(3), 367–379. http://www.jstor.org/stable/853613
Leerssen, J. (2007a). ‘Imagology: history and method’. In: M. Beller & Leerssen, J. (eds.). Imagology: The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters – A Critical Survey. Series: Studia Imagologica, vol. 13. Amsterdam and New York: Rodopi (pp.17-32).
Leerssen, J. (2007b). ‘Image’. In: M. Beller & Leerssen, J. (eds.). Imagology: The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters – A Critical Survey. Series: Studia Imagologica, vol. 13. Amsterdam and New York: Rodopi (pp.342-344)
Titelbild: Public Reactions, The March on the Pentagon - NARA - 192603.tif. (2025, February 1). Wikimedia Commons. Retrieved 14:22, April 29, 2025 from https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Public_Reactions,_The_March_on_the_Pentagon_-_NARA_-_192603.tif&oldid=991250466.