Kann das Wachstum weitergehen?

Die Wirtschaft muss wachsen: Neue Fabriken, neue Ölfelder, neue Autos – und das trotz Klimakrise. Doch könnte eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum unsere Gesellschaft klimafit machen? Und wäre dieser Paradigmenwechsel überhaupt wünschenswert? Eine Orientierungshilfe in drei Teilen.

Im Monat Mai geht es bei alexandria um die Frage: Too good to be real? Dafür haben wir uns einige spannende Konzepte und Entwicklungen aus Wirtschaft, Medizin, Politik und Technik herausgesucht, die unser Leben nachhaltig verändern könnten. Sind sie die Zukunft – oder doch „too good to be real"?  

Warum das wichtig ist: Die Wissenschaft ist sich einig: Wir steuern auf katastrophale Klimaveränderungen zu, die große Teile der Menschheit betreffen werden. Schuld daran sind unsere Treibhausgasemissionen, die eng mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem verbunden sind: Investitionen zahlen sich nur aus, wenn die Wirtschaft wächst – was meist mit einem Emissionszuwachs einhergeht.

Anhänger:innen der Degrowth-Bewegung fordern daher, auf das Wirtschaftswachstum zu verzichten, und schlagen neue Post-Wachstums-Ökonomien vor. Doch es bestehen berechtigte Zweifel, ob diese Systeme sozial verträglich oder umsetzbar sind. Die Debatte, wie wir in Zukunft wirtschaften sollen, ist jedenfalls voll im Gange.

Wie Wachstum mit Wohlstand zusammenhängt und ob sich Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum entkoppeln lassen, das erfahrt ihr im ersten Teil dieser Artikelserie. Der zweite Teil untersucht, welche Utopien als Alternativen zu unserer aktuellen Wirtschaftsordnung vorgeschlagen werden. Im dritten und letzten Teil schauen wir uns an, wie wir konkret von Wachstum wegkommen könnten – und wie umsetzbar Degrowth ist.

Teil 1: Das Problem Wachstum

Viele mag heutzutage eine Art Vorabendstimmung beschleichen: Der Süden Europas steht regelmäßig in Flammen, Inselstaaten bangen ums Überleben, Urwälder verschwinden in Sägewerken, Plastik kriecht langsam die Nahrungsketten hinauf und selbst in Österreich und Deutschland zerreißen Dürren oder Extremwetter die Idylle. Die Klimakrise hat uns erreicht – große gesellschaftliche Änderungen bleiben jedoch aus. Wie in Schockstarre scheint die Menschheit auf den Abgrund zuzutaumeln.

So kann es nicht weitergehen, darüber sind sich die meisten einig, die der Wissenschaft und deren eindringlichen Warnungen Gehör schenken. Und dennoch: Obwohl an allen Ecken und Enden unseres Planeten bereits Klimaschäden auftreten, pumpen wir immer größere Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre – und folgen damit der Wachstumslogik der Wirtschaft. Die Frage liegt also nahe: Können wir nicht einfach aufhören zu wachsen und so das Klima retten?

Ein solches Vorhaben steht jedoch im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte, deren oberstes Ziel Wachstum ist. Doch was ist Wirtschaftswachstum überhaupt? Und warum nimmt es eine so prominente Rolle ein?

„Wachstum drückt sich in der Zunahme des BIP aus, des Bruttoinlandsprodukts. Dabei handelt es sich um eine Zahl, die zeigt, wie viele Güter und Dienstleistungen innerhalb eines Jahres in einem Staat erwirtschaftet wurden“, erklärt Wolfgang M. Schmitt im alexandria-Gespräch.

Wachstum und Wohlstand

„Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum ausgelegt, da sie privatwirtschaftlich organisiert ist“, sagt Schmitt. Der studierte Germanist und Kulturtheoretiker hat über die Theorien der Frankfurter Schule und Karl Marx den Weg in die Wirtschaft gefunden – und betreibt gemeinsam mit Ole Nymoen den Wirtschaftspodcast „Wohlstand für Alle“, wo er sich unter anderem kritisch zu Degrowth äußert.

„Wer Geld investiert, will mehr Geld daraus machen, was nur funktioniert, wenn immer mehr Produkte und Dienstleistungen konsumiert werden. Das ist die Grundvoraussetzung unseres Wirtschaftssystems.“
Wachstum ist also nicht umsonst das Goldene Kalb der Ökonomie. Doch wir geraten mit unserer Growth-Fixierung in Schwierigkeiten.

„Das BIP wird im politischen Diskurs mit Wohlstand gleichgesetzt. Dementsprechend gehen Politiker:innen davon aus, dass Wirtschaftswachstum positiv ist – dabei werden im BIP viele notwendige Tätigkeiten gar nicht erfasst, wie etwa private Pflege oder Sorgearbeit“, sagt Livia Regen gegenüber alexandria. Die Ökologische Ökonomin forscht unter anderem zur öffentlichen Kommunikation in Zeiten der Klimakrise und engagiert sich beim Verein Degrowth Vienna.

Regen betont, dass diese positive Besetzung des BIP problematisch sei, denn: „Gleichzeitig werden Dinge erfasst, wo ein Wachstum aus moralisch-ethischer Perspektive nicht wünschenswert ist, wie etwa die Waffenproduktion.“
Es bestehen also berechtigte Zweifel daran, ob das BIP die richtige Messgröße ist – doch ist die Verknüpfung von Wohlstand und Wirtschaftswachstum gänzlich falsch?

Der Armut entwachsen

„In einer wachsenden Wirtschaft haben wir es in der Regel mit einer geringeren Arbeitslosigkeit zu tun. Wenn eine gute Gewerkschaftsarbeit besteht, steigen auch die Löhne. Mit diesem materiellen Wohlstand können sich die Menschen verschiedene Möglichkeiten des Wohlbefindens schaffen“, sagt Schmitt.

Er schränkt aber ein: „In den westlichen Staaten sind wir bereits auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau. Das heißt, wenn wir kein großes Wirtschaftswachstum haben – oder ein Nullwachstum – dann ist das nicht tragisch.“

Doch auch im globalen Norden ist nicht alles eitel Wonne: Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander, vom Wohlstand profitieren nicht alle gleich, wie Schmitt erklärt.

„Rund 46 Prozent der Deutschen mussten 2022 bei Lebensmitteln aufgrund der Inflation sparen. Mehr als die Hälfte hat kein Vermögen oder gar Schulden. Und gleichzeitig gibt es natürlich große Vermögenswerte, die immer weitervererbt werden. Hier ist in der Tat etwas im Argen.“

Schere zwischen Arm und Reich

Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich global – ist Wirtschaftswachstum einer der Gründe dieses Problems oder dessen Lösung? Die Statistik zeigt, wie viel Prozent des weltweiten Einkommens an die reichsten 10 Prozent gehen – und wie viel an die untersten 50 Prozent der Weltbevölkerung. (@ World Inequality Report 2022)

Dieser Punkt wird deutlicher, wenn wir eine weltweite Perspektive einnehmen. „Global haben wir es mit einer überwiegenden Zahl von Ländern zu tun, die noch Wohlstand vermehren müssen, um ein gutes Wohlstandsniveau zu erreichen“, so Schmitt.

Wachstum als Wohlstandsgenerator im globalen Süden – dieser Position steht Livia Regen skeptisch gegenüber: „Wirtschaftswachstum vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich, denn das Wachstum kommt nicht bei allen Personen gleich an.“ Klingt plausibel, doch eine Studie der OECD fällt weniger deutlich aus.

Zahlen der Rosa-Luxemburg-Stiftung dagegen stärken Regens Behauptung: Von je 100 Euro Weltwirtschaftswachstum fließen nur 60 Cent in die Reduktion der Armut der einen Milliarde Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben müssen. Gleichzeitig werden die reichsten Menschen immer reicher – trotz Pandemie, Finanz- und Klimakrise. Es braucht also konsequente Umverteilung, da sind sich Schmitt und Regen einig. Doch es steht zur Debatte, ob man ohne Wachstum auskommt, um Armut zu bekämpfen.

Grenzenlose Expansion

Selbst wenn Wachstum unter bestimmten Bedingungen Wohlstand erzeugen kann, hat der Expansionszwang der Wirtschaft Schattenseiten.
Die Logik des Kapitalismus breite sich überallhin aus und entfalte ihre Zerstörungskraft, wie Ökonomin und Transformationsforscherin Verena Wolf von der Uni Jena im alexandria-Interview erklärt: „Von der Industrialisierung über den Kolonialismus sehen wir eine Ausbreitung über den Globus hinweg, eine Expansion in die Ozeane und die Atmosphäre, bis in unsere Körper und unsere Wahrnehmung hinein.“

Social-Media-User:innen, die wieder einmal in die Fänge des ewigen Scrollens geraten, können diesen letzten Punkt nachvollziehen. Und es stimmt: Im Namen des Wachstums dringt die Wirtschaft in immer mehr Bereiche ein, vom Tiefsee-Bergbau bis zur privatisierten Raumfahrt.

Für Wolf ist klar: „Diese Expansionsdynamik ist über kurz oder lang zerstörerisch.“ Plastik in den Weltmeeren, Leistungsdruck in Schule und Ausbildung – samt psychischen Folgeproblemen – und steigende Emissionen scheinen ihr recht zu geben.

Es ist gerade der Zusammenhang zwischen Wachstum und Treibhausgasemissionen, der in Zeiten der Klimakrise relevant erscheint – und den Abschied vom Wachsen plausibel macht, ganz nach dem Motto, dass auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum möglich sei. Doch stimmt das überhaupt?

„Nein, denn es gibt ja durchaus Wirtschaftswachstum, das das Klima nicht angreift“, meint Schmitt. Das gelte zwar nicht für die Autoindustrie, aber: „Wir können heute viele Produkte wesentlich klimafreundlicher oder klimaneutral herstellen.“

Gelingt die Entkoppelung?

„Zudem ist die Wirtschaft in vielen Ländern gewachsen, in denen zugleich die Emissionen rückläufig sind“, so Schmitt weiter. „Grundsätzlich ist also Wachstum möglich, das klimaneutral ist.“

Wohl wäre das nicht in allen Ländern der Fall, doch angesichts der Tatsache, dass grüne Technologien wie erneuerbare Energieträger noch bei Weitem nicht ausgeschöpft sind, zeigt sich Schmitt optimistisch, dass Wachstum auch weiterhin möglich sein wird.

Statistik zur Entkoppelung Wachstum und CO2-Emissionen von World in Data

Können Wirtschaftswachstum und Emissionen entkoppelt werden? In einigen Ländern scheint es möglich, wie die Statistik von Our World in Data zeigt. (© Our World in Data)

Diese Hoffnung kann Regen nicht teilen. „Es gibt keine empirische Evidenz, dass sich Wirtschaftswachstum absolut von Ressourcenverbrauch und Emissionen entkoppeln lässt. Es lassen sich höchstens relative Entkopplungen erreichen“, erklärt die Ökonomin.

„Wenn etwa die Produktion von T-Shirts aus Europa nach Asien verlagert wird, scheinen diese Emissionen bei uns nicht mehr auf, obwohl die Kleidung bei uns konsumiert wird. Betrachtet man nur die lokale Produktion, kann es so eine Entkopplung geben – die aber in keinem Fall ausreichend ist, unsere Klimaziele zu erreichen.“

Ob Wirtschaftswachstum für Wohlstand nötig ist, bleibt also umstritten. Dagegen scheint klar, dass Wachstum für die Klimakrise mitverantwortlich ist. Aus dieser ernüchternden Diagnose leiten Degrowth-Anhänger:innen wie Regen und Wolf ab, dass wir Alternativen brauchen: eine Wirtschaft, die ohne Wachstum auskommt – und dennoch genug für alle bereitstellt.

Damit wollen Post-Wachstums-Ökonom:innen nichts Geringeres, als unser gesamtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf den Kopf zu stellen. Im zweiten Teil dieses Artikels erklären sie, wie das gehen soll.

Dieser Text wurde dankenswerterweise von Die Fehlerwerkstatt Korrektur gelesen.

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