Wie alt können wir werden

Seit jeher beschäftigt den Menschen das Ende des Lebens. Nichts ist so sicher und unausweichlich wie der Tod. Oder etwa nicht? Die Entwicklung der Lebenserwartung lässt die Menschen auf ein immer längeres Leben hoffen, die Möglichkeit, das Unausweichliche hinauszuzögern. Doch wie lange lässt sich der Tod verschieben? Wie alt können wir werden? Welche Konsequenzen hätte das? Und wie alt wollen wir überhaupt werden?

Dieser Beitrag erschien im Zuge des alexandria-Themenschwerpunkts "Zukunft". Den ganzen April fragen wir uns: Was wird uns in der Zukunft erwarten - und welchen Beitrag kann die Wissenschaft dazu leisten?

Warum das wichtig ist: Durch neueste Errungenschaften wie die Gentechnik wird das Ziel einer Lebensverlängerung für die Menschheit erstmals möglich. In naher Zukunft könnten wir mittels neuer Therapien im Kampf gegen Krankheit, aber auch durch die direkte Manipulation unserer Gene 100 Jahre und älter werden. Doch bevor wir diese Ziele anstreben, sollten wir über die möglichen Konsequenzen, sowie die Sinnhaftigkeit eines noch längeren Lebens nachdenken.

Seit 200 Jahren werden wir immer älter

Seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist die Lebenserwartung in industrialisierten Ländern im Schnitt um dreißig Jahre gestiegen. Dieser Umstand wird auf die bessere gesundheitliche Versorgung, die vorherrschende Hygiene und die ausreichende Ernährung zurückgeführt. Auch in den letzten Jahrzehnten stieg die Lebenserwartung noch um zwei bis drei Jahre an. (Falah, et al., 2020)
Für Personen, die in den Jahren um 1995 in Österreich geboren wurden, beträgt die Lebenserwartung im Schnitt 73,3 Jahre für Männer und 79,9 Jahre für Frauen.
Für Kinder, die im Jahr 2020 geboren wurden, beträgt die Lebenserwartung bereits 78, 9 Jahre (Männer) bzw. 83,7 Jahre (Frauen). (Statistik Austria, 2022)
Die steigende Lebenserwartung lässt manche Menschen hoffen, dass wir alle bald schon über 100 Jahre alt werden. Mithilfe besserer Lebensumstände, medizinischer Versorgung und der Wissenschaft versucht die Menschheit, das Altern immer weiter aufzuhalten.
Doch bevor wir uns dem Aufhalten des Alterns widmen, eine grundsätzliche Frage: Warum altern wir überhaupt?

Warum altern wir überhaupt?

Altern wird definiert als fortschreitender Funktionsverlust, der mit chronischen Erkrankungen und anschließender Sterblichkeit einhergeht.
Die bekannten genetischen und biochemischen Faktoren, die das Altern auf zellulärer Ebene direkt beeinflussen, werden als hallmarks (Kennzeichen) bezeichnet. (Pyrkov et al., 2021)

In den letzten Jahren erkannte man, dass der Alterungsprozess mit verschiedenen genetischen Vorgängen und biochemischen Prozessen zusammenhängt. Eine Forschergruppe von López-Otín zählten im Jahre 2013 neun dieser Kennzeichen für die Zellalterung. Diese seien genomische Instabilität, Telomerase-Abnutzung, epigenetische Veränderungen, Proteasen-Verlust, mitochondriale Dysfunktion, Nährstoffmessung, Stammzellerschöpfung, Zellseneszenz (Zellteilung hört auf) und veränderte interzelluläre Kommunikation. (López-Otín, et al., 2013)

Es gibt verschiedene Theorien, wie es zu diesen hallmarks kommt. All diese Theorien gehen von einer Anhäufung von Mutationen in unseren Zellen aus. Bei jeder Zellteilung kommt es zu Mutationen und DNA-Schäden, die anschließend repariert werden. Mutationen in den Genen verhindern jedoch eine vollständige DNA-Reparatur. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine Anhäufung von Mutationen das Altern und chronische Erkrankungen vorantreibt. Pro abgeschlossenem Lebensjahr gehen Forscher:innen heute von ca. vierzig Mutationen in unseren Stammzellen aus. Man konnte bereits nachweisen, dass die Reparaturmechanismen unserer DNA, die Schäden durch Mutationen wieder rückgängig machen können, genetisch vererbt und von unserem Lebensstil beeinflusst werden.
Leben bedeutet ein stetiges Sich-Teilen von Zellen. Alte Zellen sterben ab und müssen durch neue ersetzt werden. Unsere Zellen können sich jedoch nicht ewig teilen. Bei jeder Zellteilung wird unsere DNA verdoppelt. Damit dies geschehen kann, sitzen am Ende der DNA die Telomere, welche die DNA schützen. Diese Telomere werden jedoch mit jeder Zellteilung kürzer, bis sie schließlich verbraucht sind. Danach hört die Zelle auf, sich zu teilen. Somit geht die Verkürzung der Telomere mit dem Alterungsprozess einher. Mittlerweile ist bekannt, dass die Länge der Telomere und somit die maximal mögliche Zellteilung vererbbar ist. (Melzer et al., 2019)
Aufgrund der sich anhäufenden Mutationen in unserer DNA und der begrenzten Vervielfachung derselben, steigt im Alter die Wahrscheinlichkeit für schwere Erkrankungen, die zu einem starken Anstieg der Todesraten führen. Altern wird als Hauptursache für Alzheimer, chronisches Nierenversagen, Schlaganfälle, Herzinfarkte, Diabetes mellitus und Krebs angesehen. Das ist nur logisch: Nichts ist so tödlich wie das Alter.

Telomere beeinflussen das Altern

Die Länge der Telomere bestimmt unseren Alterungsprozess

Das Geheimnis eines langen Lebens

Trotz dieser bekannten Alterungsprozesse, die bei uns allen ablaufen, sterben manche Menschen in ihren 60ern und manche werden über 100 Jahre alt. Warum ist das so?
Eine Studie versuchte dieser Frage auf den Grund zu gehen. Sie untersuchte eine Gruppe von centenarians (Menschen, die über 100 Jahre alt sind) und stellte fest, dass bei 32 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen keinerlei alterstypischen Erkrankungen zu finden waren. Auch fiel auf, dass bei den meisten Hundertjährigen ein hohes Lebensalter in der Familie häufiger anzutreffen war. (Evert, et al., 2003)
In einer weiteren Studie wurden bei Studienteilnehmer:innen, deren Eltern erst in einem hohen Alter verstorben sind, zum Erhebungszeitpunkt seltener kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs, sowie kognitiver Abbau gefunden. Auch die Blutwerte der Teilnehmer:innen passten zu diesen Beobachtungen. So hatten Nachkommen alt gewordener Menschen insgesamt einen geringeren Blutdruck und niedrigere Blutfette als jene Nachkommen, deren Eltern bereits in jüngeren Jahren verstorben waren. Beides, Bluthochdruck und hohe Blutfette, sind Risikofaktoren für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, wie Herzinfarkte und Schlaganfälle, die in unserer industrialisierten Welt nach wie vor die häufigste Todesursache darstellen.
Bisher wurden sowohl genaue Lokalisationen in unserer DNA als auch Gen-Umwelt-Interaktionen identifiziert, die bei der Lebenserwartung eine Rolle spielen. (Melzer, et al., 2019)
Uns allen ist eine bestimmte Resilienz (Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse) mit unserer DNA mitgegeben worden, sei es durch Reparaturmechanismen, Länge der Telomere oder das niedrigere oder höhere Risiko für schwere Erkrankungen. Zusätzlich beeinflusst jedoch unser Lebensstil unsere Lebenserwartung maßgeblich.
So konnte in zahlreichen Versuchen bei Mäusen, Würmern und Fliegen nachgewiesen werden, dass eine Kalorienreduktion bei gleichzeitiger Sicherung der Mikronährstoffe zu einer Lebensverlängerung führt. Doch auch bei Menschen zeigten sich Hinweise, dass mit einer Kalorienreduktion viele Risikofaktoren für Stoffwechselerkrankungen reduziert und sogar die Abnahme der Gedächtnisleistung vermindert werden konnten. (Melzer, et al., 2019)
Neben der Vermeidung von Übergewicht, helfen eine ausgewogene Ernährung, regelmäßige körperliche Betätigung, der Verzicht auf das Rauchen, die Mäßigung im Alkoholkonsum, genügend Schlaf und weniger Stress bei der Erreichung eines hohen und gesunden Alters.

Bis zur Unsterblichkeit

Für manche ist eine Lebenserwartung von 80 Jahren jedoch nicht genug. Daher gibt es zahlreiche Bestrebungen, das Leben immer weiter zu verlängern – bis zur Unsterblichkeit. Die oben genannten hallmarks des Alterns stehen derzeit besonders im Fokus, da Forscher:innen sich durch eine Manipulation der DNA und Vorgänge in den Zellen eine Verlängerung des Lebens versprechen.
In den letzten Jahren machten die Nanomedizin und künstliche Gewebezüchtung große Fortschritte. Bei Ersterer werden 1 bis 100 Nanometer (die Milliarde eines Meters) große Werkzeuge eingesetzt, um Gewebe zu reparieren oder Krankheiten zu behandeln.
Die künstliche Gewebezüchtung wird hingegen zur Ersetzung geschädigten Gewebes, vor allem für Schäden von Knochen und Haut, genutzt.
Das Klonen von embryonalen Stammzellen verspricht laut einiger Forscher: innen in Zukunft für Organtransplantationen genutzt werden zu können. So sollen auch geschädigte Nervenzellen, die sich nicht teilen, wieder repariert werden können. Die Verwendung von embryonalen Stammzellen ist jedoch aufgrund der bewussten Züchtung und anschließenden Zerstörung eines menschlichen Embryos ethisch äußerst bedenklich und daher auch in vielen Staaten verboten.
Durch die gezielte Manipulation ihrer Telomere im Jahre 2015 sorgte Elizabeth Parrish, CEO der Firma BioViva für biopharmazeutische Produkte, für weltweite Schlagzeilen. Sie unterzog sich einer Gentherapie, die ihre Telomere um 30 Prozent verlängert haben soll. Damit hätte sie auch die Teilbarkeit ihrer Zellen um ein Vielfaches erhöht. Diese Therapie wurde damals aufgrund fehlender prä-klinischer Studien in den USA gar nicht zugelassen und Parrish flog nach Kolumbien, um die Therapie an sich vornehmen zu lassen. Elizabeth Parrish und ihr Team gaben an, dass die Therapie Erfolg gezeigt haben soll, Belege dafür gibt es jedoch nicht. Außerdem sollte man bedenken, dass die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Therapie bisher völlig unbekannt sind. Elizabeth Parrish setzt sich mit ihrer Firma dafür ein, die „schlimmste aller Krankheiten – das Altern“ durch gezielte Genmanipulation aufzuhalten. (Falah, et al., 2020)

Das menschliche Limit

Wie Elizabeth Parrish, gehen zahlreiche Forscher: innen davon aus, dass die maximale Lebenserwartung mit genetischen und pharmazeutischen Interventionen stetig erweitert werden kann. Die steigende Lebenserwartung und die Tatsache, dass die älteste Person in den 1860ern „nur“ 101 Jahre alt wurde, in den 1990ern hingegen bereits 122 Jahre erreichte, spricht laut einigen Forscher: innen für eine flexible maximale Lebensspanne, die verlängert werden kann.
In einer kürzlich erschienenen Studie analysierten die Autor:innen die Steigerung der Lebenserwartung jedoch genauer und betonten, dass diese immer mit einer Reduktion des Sterbens in jungen Jahren zusammenhänge.
Die maximale bekannte Lebensspanne für einen Menschen liegt bei 122 Jahre. Dieses stolze Alter erreichte Jeanne Calment, die im Jahre 1997 starb. Bis heute (2022), 25 Jahre später, gibt es niemanden, der ihren Rekord gebrochen hat, trotz steigender Lebenserwartung. Dies ist, laut den Autor:innen, ein wichtiger Hinweis für ein natürliches Limit der Spezies Mensch. (Dong, et al., 2016

Jeanne Calment

Jeanne Genet starb 1997 im Alter von 122 Jahren - bisher ist niemand bekannt, der älter wurde

In einer internationalen Studie untersuchte ein Forschungsteam die Geschwindigkeit des Alterns in drei großen Kohorten in den USA, Großbritannien und Russland. Hier bestimmten sie in einem Erhebungszeitraum von 1999 bis 2014 die Anzahl der Blutkörperchen der Proband:innen und verglichen verschiedene Altersgruppen miteinander. Zusätzlich maßen sie die zurückgelegte Schrittanzahl innerhalb einer Woche weiterer Proband:innen. Bei beiden Erhebungen zeigte sich eine nachlassende Widerstandsfähigkeit im Alter. Die Forscher:innen leiteten davon ab, dass die Regeneration im steigenden Alter mehr Zeit in Anspruch nimmt und daher immer weniger gelingt. Dies geschehe laut weiteren Berechnungen bis zu einem Endpunkt von ca. 120 bis 150 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt reiche die Resilienz, als die Erholung der Zellen von Schäden, nicht mehr aus. Daher sei dies die maximale Lebensspanne eines Menschen. (Pyrkov, et al., 2021)

Langes Leben oder gutes Leben?

Im Gegensatz zur Lebenserwartung gibt es auch die Anzahl an gesunden Lebensjahren. Dieser Wert soll helfen, nicht nur die Länge des Lebens, sondern die Qualität, hier gleichgesetzt mit Gesundheit, zu erheben. Die Anzahl an gesunden Lebensjahren betrug in Österreich laut Eurostat im Jahre 2019 58 Jahre für Frauen und 56,7 Jahre für Männer. (Eurostat, 2019)
Zur Erinnerung: Die Lebenserwartung beträgt zurzeit (2022) in Österreich 83,7 für Frauen und 78,9 für Männer.
Demnach hätten die Österreicher: innen über 20 „kranke“ Lebensjahre vor sich.
Doch was sind gesunde Jahre? Eurostat befragt hierfür Personen, ob sie langfristige Einschränkungen bei ihren täglichen Aktivitäten erleben. Im Gegensatz zu der sehr objektiven Lebenserwartung mit dem Endpunkt Tod handelt es sich hier um eine sehr subjektive Einschätzung, die auch zwischen den europäischen Staaten sehr unterschiedlich ausfällt. Das bedeutet, uns fehlt ein geeignetes Instrument für die Einschätzung der Lebensqualität im Alter.

Wollen wir überhaupt so alt werden?

Wenn wir bis zu 150 Jahre alt werden können, wie verbringen wir dann die zweite Hälfte unseres Lebens? Mit 75 leiden die meisten Menschen in unserer heutigen Zeit bereits an chronischen Erkrankungen. Laut der Eurostat-Erhebungen endet die gesunde Lebensspanne im Schnitt mit spätestens 60 Jahren. Leben wir dann noch 90 weitere Jahre mit verschiedenen Krankheiten? Oder verlängern sich mit einer höheren Lebenserwartung auch die gesunden Lebensjahre?
Arbeiten wir dann bis 100, spielen mit 120 Jahren mit unseren Ur-Ur-Enkel:innen im Garten und erzählen fünf späteren Generationen, wie es damals unter Corona und Putin war? Wann machen wir den nächsten Generationen Platz auf dieser Welt, um aus unseren Fehlern zu lernen oder ihre eigenen zu machen? Durch unsere heutige Lebenserwartung droht bereits eine Überbevölkerung der Erde mit Ressourcenknappheit.
Was geschieht also, wenn wir alle doppelt so alt werden?
Solange wir „nur“ 80 Jahre alt werden, können wir diese Frage noch nicht beantworten.

Der 100. Geburtstag

Können wir bald alle unseren 100. Geburtstag planen?

Doch bereits 80 Jahre sind eine lange Zeit. Das sind 29.220 Tage, die wir im Schnitt erleben.
Dennoch verbringen viele Menschen diese Tage damit, darüber nachzudenken, wie sie noch älter werden, noch länger leben können. Doch gerade die Endlichkeit des Lebens macht auch seinen Reiz aus. Ohne sichtbares Ende hätten wir keinen Ansporn, es gut zu nützen. Dann könnten wir alles auf morgen verschieben.
Bevor wir uns also um die Verlängerung des Lebens kümmern, sollten wir uns fragen, was für ein Leben wir wollen: Ein langes, voller ungenutzter Gelegenheiten und verstrichener Chancen, oder ein kürzeres, in dem wir jedem Moment die Bedeutung geben konnten, die er verdient?
Diese eine Frage, auf die es letztlich ankommt, kann die Wissenschaft nicht für uns beantworten: Wie möchten wir gelebt haben, wenn wir am Ende die Augen schließen?

Falah, G., Giller, A., Gutman, D. & Atzmon, G. (2020). Breaking the glass ceiling. Gerontology, 66, 309–314.
Statistik Austria. (2022). Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung, Demographische Indikatoren. Statistik Austria. Erstellt am
     03.03.2022.
Pyrkov, T. V. et al. (2021). Longitudinal analysis of blood markers reveals progressive loss of resilience and predicts human lifespan limit.
     Nature Communications, 12(2765)
López-Otín, C. et al. (2013). The hallmarks of aging. Cell, 153(6), 1194-1217.
Melzer, D., Pilling L. C. & Ferrucci, L. (2019). The genetics of human aging. Nature Reviews Genetics, 21, 88–101.
Evert, J., Lawler, E., Bogan, H. & Perls, T. (2003). Morbidity profiles of centenarians: survivors, delayers, and escapers. The Journals of
    
gerontology. Series A, Biological Sciences and medical sciences, 58(3), 232-237.
Dong, X., Milholland, B. & Vijg, J. (2016). Evidence for a limit to human lifespan. Nature, 538, 257–259.

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