Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Wien: eine Untersuchung, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit der schönsten Stadt der Welt auseinandersetzen.
Außerdem ist der Beitrag Teil einer Reihe, in der wir dir wissenschaftliche Stadtspaziergänge präsentieren. Route 1 kannst du hier finden.
Route 2: Wissenspfade durch Stadt und Park
Reine Gehzeit: 1,5 Stunden (6 Kilometer)
Die Autos brausen neben unserem Treffpunkt für den zweiten Stadtspaziergang über den Stubenring, gegenüber blickt der imposante Doppeladler vom Giebel des wuchtigen ehemaligen k. u. k. Kriegsministeriums auf uns herab. Von diesem Ort, ohne dass man es heute noch erahnen könnte, nimmt nicht nur unsere zweite Route ihren Ausgang, sondern auch eine der folgenschwersten Ideen der Moderne.
Über den Stubenring bis zum Prater und damit durch den zweiten und den dritten Wiener Gemeindebezirk führt der 2. Wiener Wissensweg.
Station 1: Mises Privatseminar – Stubenring 8-10
Einer der lautstärksten Kritiker der Veränderungen, die die sozialdemokratische Stadtregierung im Wien der 1920er vorantrieb, war Ludwig Mises, der als Ökonom hier am Stubenring in der Wiener Handelskammer residierte. Seine Vorstellungen von Staat und Wirtschaft diskutierte Mises in seinem Privatseminar, das er in seinem repräsentativen Büro abhielt.
Dieser Kreis illustrer Denker:innen prägte die Österreichische Schule der Nationalökonomie – und wurde zum Ausgangspunkt des Neoliberalismus. Zu den Mitgliedern von Mises’ innerem Kreis zählten etwa der Mathematiker Oskar Morgenstern und Friedrich Hayek. Gerade letzterer avancierte zum prominentesten Kritiker staatlicher Einmischung in Wirtschaftskreisläufe der Nachkriegszeit.
Mises und Hayek waren der Überzeugung, der freie Markt sei die ideale Möglichkeit, Wissen über Angebot und Nachfrage auszutauschen, und zwar über den Preis. Diesen Mechanismus anzutasten, gefährde letztlich die Freiheit, so Hayeks These in seinem 1944 erschienenen Buch „Der Weg zur Knechtschaft“. Ronald Reagan und Margaret Thatcher waren beide wohl begeisterte Leser.
Ludwig Mises gilt als einer der Vordenker des Neoliberlismus. Seine Ideen entwickelte er in Wien.
(© Ludwig Mises Institute)
Wir folgen dem Ring weiter Richtung Stadtpark und überqueren die Straße beim Museum für angewandte Kunst, dessen Kaffeehaus übrigens ein Geheimtipp ist. Wir folgen der Weiskirchnerstraße über den Wien-Fluss, der hier nach seiner Überdachung wieder zum Vorschein kommt, und münden in die Landstraßer Hauptstraße ein. Diese führt uns direkt zum Rochusmarkt, wo wir links in die Rasumofskygasse einbiegen. Achtung, unsere Station ist leicht zu übersehen!
Station 2: Ehemaliges Palais Mesmer
– Rasumofskygasse 29
Leider erinnert an das Gebäude – und seinen faszinierenden Bewohner – nur noch eine kleine Plakette. Dabei begeisterte Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts Menschen in ganz Europa. Der Erfolg Mesmers, der aus einfachen Verhältnissen vom Bodensee stammt, beruht auf seiner Theorie vom animalischen Magnetismus.
Mesmer studierte in Wien Medizin und dissertierte 1766 über den Einfluss, den Planeten und der Kosmos auf den menschlichen Körper hätten. Mithilfe von Magneten wollte Mesmer ein uns innewohnendes magnetisches Fluidum wieder in Balance bringen, später verzichtete er auf Hilfsmittel und „heilte“ indem er den Patient:innen in abgedunkelten Räumen seine Hände auflegte.
Nach einem Skandal um die junge Pianistin Maria Theresia Paradis, die er von ihrer Erblindung zu heilen vorgab, musste Mesmer Wien anno 1777 verlassen, setzte aber seinen Erfolg in Paris fort. Heute wissen wir, dass an Mesmers Ideen nichts dran ist, doch seine Zeitgenossen waren von Mesmer fasziniert, so sehr, dass sein Name im Englischen als Begriff fortlebt: „Mesmerizing“ bedeutet so viel wie auf hypnotische Weise faszinierend.
Gleich beim nächsten Haus die Rasumofskygasse entlang biegen wir rechts in einen Durchgang ein und gelangen in den Grete-Jost-Park, den wir durchqueren, um auf die Erdbergstraße zu gelangen. Wir gehen links weiter bis zur Kreuzung und biegen links in die Kundmanngasse ein. Hinter einer hohen, eher unschönen Betonwand schauen Bäume und die Fassade unserer nächsten Station hervor.
Station 3: Villa Wittgenstein – Kundmanngasse 19
Die Industriellentochter Margaret Stonborough beauftragte 1925 den befreundeten Architekten Paul Engelmann, einem Schüler Adolf Loos, mit dem Bau eines repräsentativen Stadthauses in Wien. Doch so recht schienen die Planungen nicht zu gedeihen, bis Stonborough ihren Bruder zurate zog: den Philosophen Ludwig Wittgenstein.
Wittgenstein überarbeitete die Pläne, Ende 1926 konnte schon gebaut werden. Es entstand ein Gebäude, das zwischen den stuckverzierten Gründerzeithäusern aus der Reihe tanzt. Schlichte, kubische Formen dominieren die Villa – Adolf Loos’ Einfluss ist nicht zu übersehen. Die Terrassen und Fenster sorgen dafür, dass der umgebende Park mit den Innenräumen in Dialog tritt. Das Haus ist bis ins letzte Detail durchgeplant, ein wahres Gesamtkunstwerk.
Ob sich in der Villa die Philosophie des jungen Wittgenstein spiegelt, darüber scheiden sich die Geister. Fest steht, Margaret Stonborough bewohnte das Haus, mit einer Unterbrechung während des zweiten Weltkriegs, bis zu ihrem Tod 1958. Danach entging die Villa nur knapp Abrissplänen und wurde schließlich 1975 an Bulgarien verkauft. Heute befindet sich hier das Bulgarische Kulturinstitut.
Wir drehen um und kehren auf die Erdbergstraße zurück, der wir nun stadtauswärts etwa eineinhalb Kilometer folgen, bis wir auf die Schlachthausgasse stoßen. Hier lohnt sich ein kleiner Abstecher zur Remise, dem Museum der Wiener Linien. Wir folgen der Schlachthausgasse linkerhand über den Donaukanal und erreichen den Prater. An der Ecke Stadionallee-Schüttelstraße liegt unser nächster Halt.
Die Villa Wittgenstein ist ein Vorzeigeexemplar der architektonischen Moderne.
(© Thomas Ledl)
Station 4: Kernreaktor im Atominstitut
– Schüttelstraße 115
„Atomkraft? Nein, danke!“ – solche Sticker hatten Mitte der Siebzigerjahre in Österreich Hochkonjunktur. In diese Zeit fielen die Proteste gegen das schon fertig gebaute AKW Zwentendorf, das infolge einer Volksabstimmung nie in Betrieb ging. Seit damals herrscht bei vielen der Glaube vor, in Österreich gäbe es keinen laufenden Kernreaktor. Das ist aber nicht ganz richtig.
In der Tat gab es zeitweise bis zu vier Forschungsreaktoren, die zu Experimenten mit Neutronen oder der Herstellung von Radioisotopen dienten. Von diesen Einrichtungen ist heute nur noch eine in Betrieb, und zwar hier, am Atominstitut der Technischen Universität Wien. Gebaut in den späten Fünfzigern, beherbergt die eindrucksvolle Reaktorhalle einen Forschungsreaktor vom Typ TRIGA, der 1962 in Betrieb ging – und noch immer läuft.
Bedeutend war diese Anlage vor allem als Neutronenquelle: Die neutralen Teilchen werden bei der Kernspaltung frei und können mit langen Graphitstangen aus dem Reaktor zu Versuchseinrichtungen geleitet werden. Hier konnte Helmut Rauch seine bahnbrechenden Experimente zum Wellencharakter der Neutronen durchführen, gemeinsam mit seinem damaligen Assistenten Anton Zeilinger, der am Reaktor promovierte.
Der TRIGA-Reaktor, der einzige Atomreaktor Österreichs.
(© TU Wien)
Wir setzen unseren Spaziergang durch den Prater fort, das Grün ist nach dem dich verbauten dritten Bezirk eine willkommene Abwechslung. Dabei folgen wir zunächst der Stadionallee weiter Prater-inwärts, bis wir links von der Straße abzweigen und über Schotterwege die Platanenwiese und Arenawiese überqueren. Bei der Endstation der Straßenbahnlinie 1 gelangen wir auf die Prater Hauptallee, der wir Richtung Praterstern folgen. Wenn rechts Straßen und Ampeln en miniature auftauchen, haben wir unsere letzte Station erreicht.
Station 5: Ehemaliges Vivarium – Hauptallee 89
Wo sich heute ein Schulverkehrsgarten befindet und Kinder die Regeln des Straßenverkehrs lernen, versuchten Fachleute Anfang des letzten Jahrhunderts die Gesetze des Lebens zu verstehen. An dieser Stelle stand das Vivarium, das sich um 1900 von einem bloßen Aquarium in die weltweit erste biologische Versuchsanstalt verwandelte.
Unter der Leitung des Zoologen Hans Leo Przibram erhielt das Vivarium moderne Laboratorien, sowie ausgeklügelte Temperaturkammern, in denen die Auswirkung unterschiedlicher Klimabedingungen auf Lebewesen erforscht werden konnte. Dabei tat sich insbesondere der Biologie Paul Kammerer hervor, dessen Experimente, bei denen ihm zeitweise Alma Mahler zur Hand ging, die Lamarcksche Evolutionstheorie zu bestätigen schienen. Ein weiterer Vivarium-Forscher, Eugen Steinach, trug mit seinen Entdeckungen zu Sexualhormonen zu unserem modernen Geschlechterverständnis und Hormontherapien bei.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland wurde das Vivarium geschlossen, seine Forscher:innen vertrieben oder in Konzentrationslagern ermordet. 1945 wurde das Gebäude beim Brand des Prater in den letzten Kriegstagen zerstört – es wurde nie mehr aufgebaut.
Das Vivarium wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört - zu sehen ist es nur noch auf alten Phtoos.
Nachdem wir heute wieder einen ordentlichen Teil der Wiener Wissenschaftsgeschichte erwandert haben, können wir hier bei schönem Wetter die müden Füße im Gras hochlegen oder bei einer der Attraktionen im Wurstelprater auf andere Gedanken kommen. Für Müdgewordene ist der Praterstern nicht weit, wo uns verschiedene Öffis nach Hause in alle Teile Wiens bringen. Folgt uns auch das nächste Mal, wenn wir auf dem dritten und letzten Wissensweg die prachtvollsten Seiten der Wiener Wissenschaft erkunden.
Eine Übersicht, wo sich die Route 2 der Wiener Wissenswege in Wien befindet. Links oben ist klein die Route 1 zu sehen, die durch den neunten Wiener Gemeindebezirk führt.