Bässe wummern über die Wiener Ringstraße, doch schon lange bevor die ersten Töne zu hören sind, tauchen Menschen mit Regenbogenflagge auf, aufgeschminkt oder als Cape, die Richtung Innenstadt strömen. Je näher die Musik kommt, desto mehr bunte Demonstrant:innen sind zu sehen. Ihr Ziel: Die Regenbogenparade, der jährliche Höhepunkt des Pride-Monats Juni, in dem sich die queere Community feiert und lautstark für ihre Rechte eintritt.
Wenn die Musik wieder verstummt, nachdem der Rausch aus schillernden Kostümen, Glitzer und viel nackter Haut über die Straßen gewaschen hat, verschwinden auch die Farben: So manche fulminante Dragqueen tauscht Montagmorgen Perücke und Kleid gegen grauen Dreiteiler aus. Und dennoch soll es Menschen geben, die diese neue Verkleidung durchschauen – und Queerios auch dann erkennen, wenn keine Regenbogenfahne sie umweht.
Diese Gabe wird als Gaydar bezeichnet, in scherzhafter Anlehnung an die Funkortung bei Booten. Menschen mit Gaydar scheinen so etwas wie einen sechsten Sinn dafür haben, ob jemand nun schwul, lesbisch, bi, trans – kurz: queer ist oder nicht.
Aber wie soll das funktionieren? Denn an äußeren Merkmalen kann es wohl nicht liegen, ist doch die queere Community so unterschiedlich wie die Menschheit selbst.
Ob es Gaydar gibt, ist umstritten. Doch fest steht, dass Menschen erstaunlich gut abschneiden, wenn sie im Rahmen verschiedener psychologischer Experimente gefragt werden, Personen als schwul oder heterosexuell einzuordnen.
„Es gibt empirische Evidenz für Gaydar“, sagt die Psychologin Klaudia Jewula, die zu queren Identitäten junger Menschen forscht, im alexandria-Gespräch.
Ins Gesicht geschrieben?
„Dabei gibt es zwei Strömungen in der Forschung. Die erste versucht biologische Anzeichen zu finden, die das Phänomen Gaydar erklären könnten: Merkmale der Stimme, der Augenpartie oder der Gesichtszüge“, erklärt Jewula.
In solchen Studien wurden Proband:innen etwa für wenige Sekunden Ausschnitte aus Gesichtern gezeigt (Cox, 2016), oder Stimmproben vorgespielt (Fasoli, 2022), die sie dann in die Kategorien homo- und heterosexuell einteilen sollten.
„Anschließend wurden die Studienteilnehmer:innen gebeten, einzuordnen, wie ‘männlich’ oder ‘weiblich’ ein Gesicht ist – und diese Urteile korrelierten stark mit der Einschätzung, ob die Person nun schwul oder hetero sei“, erläutert Jewula.
Es zeigt sich also: Wirkt das Aussehen von Personen, was ihr Geschlecht betrifft, untypisch, werden sie als queer eingeschätzt. (Rieger, 2010) Biologische Merkmale scheinen also bei Gaydar eine Rolle zu spielen.
„Diesem Ansatz steht jedoch die zweite Strömung kritisch gegenüber und versucht, Gaydar als soziales Phänomen zu begreifen, das nicht einfach aus dem Kontext gerissen betrachtet werden kann“, erläutert Jewula.
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Gaydar als soziales Phänomen
Demnach sei ohne Berücksichtigung der äußerlichen Gegebenheiten eine Beurteilung des Phänomens Gaydar nicht möglich. Wie kleidet sich eine Person, wie spricht sie – diese Dinge scheinen entscheidend für das Erkennen queerer Menschen, nicht etwa diese und jene Augenform. (Gelman, 2018)
So verfolgt die sozial-psychologische Forschung einen ganzheitlichen Ansatz. Psycholog:innen interessieren sich dabei für Verhaltensweisen.
„Zum Beispiel scheint der längere Augenkontakt als Erkennungsmerkmal zu fungieren“, sagt Jewula. (Nicolas, 2004)
Dabei erstaunt, wie schnell wir solche flüchtigen Anzeichen wahrnehmen können. Das hat mit den unterschiedlichen kognitiven Systemen zu tun, weiß die Psychologin: „Einerseits gibt es das schnell verarbeitende System, das unmittelbar Reize wahrnimmt und reagiert – unsere Intuition. Doch es gibt auch das langsamere System, das im Gehirn im Neokortex sitzt und evaluierte Urteile fällt.“
Beide Systeme sind wichtig, denn „es ist hilfreich, etwa ein Auto zu erkennen und auszuweichen, bevor ich es aktiv als PKW wahrgenommen habe.“ Allerdings sorgt unser schnell schießendes System im sozialen Bereich für Probleme – und das liegt an den Stereotypen.
„Wir sind darauf programmiert, in Schemata zu denken, weil es eine unglaubliche kognitive Last wäre, jede Situation, jedes Ding ständig neu zu evaluieren. Darum gibt es mentalen Boxen, in die wir die Wahrnehmung sortieren“, erklärt Jewula.
Daran ist grundsätzlich nichts falsch. Die Sache wird jedoch kompliziert, wenn unser schnelles System Menschen in Schubladen einordnet, die für die Betroffenen nicht passen, oder sogar verletzend sind.
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Gaydar trainieren
Studien aus den Vereinigten Staaten zeigten, „dass Personen, die sich als konservativ einschätzten, generell mehr Menschen als schwul kategorisiert haben – und sich auch viel sicherer in ihrem Urteil waren“, sagt Jewula. (Stern, 2013) Proband:innen ohne viel Kontakt zur Community identifizierten also Personen als queer, die eigentlich hetero sind.
Ausschlaggebend scheint hier wieder zu sein, ob das Gesicht bei Männern als „weiblich“ und Frauen als „männlich“ wahrgenommen wird. Damit richtet diese Strömung der Forschung auch das Augenmerk darauf, wieso nun etwa “maskuline” Frauen als lesbisch wahrgenommen werden. Es sind gesellschaftliche Schemata, die diese Urteile bedingen.
In solchen Fällen ist unser evaluierendes System gefordert, die Stereotypen zu hinterfragen. Dadurch verschwinden zwar nicht die Schubladen – die sind im Hirn fest verkabelt – sie können aber flexibler, und dadurch genauer werden.
„Die Anzahl der Kontakte bestimmt ebenfalls, wie differenziert die Stereotypen sind“, sagt Jewula. Dementsprechend zeigen Studien, dass queere Menschen, und insbesondere solche, die viel in der Community unterwegs sind, besonders gute Gaydars haben: Es sind die genaueren Schemata, die es diesen Personen erlauben, die Sexualität von Menschen schnell und korrekt einzuordnen – wie ein Radar eben. (Woolery, 2007)
Für Menschen, die schon immer ihre Freund:innen beneidet haben, die mit sicherer Hand die Queerios in einem rappelvollen Club finden konnten, sind das gute Neuigkeiten: Gaydar kann trainiert werden. Dazu muss man nur viel Zeit in der bunten Regenbogen-Community verbringen und offen auf queere Menschen zugehen. Das sollte man aber so oder so. Happy Pride!
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Cox, W. T., Devine, P. G., Bischmann, A. A., & Hyde, J. S. (2016). Inferences about sexual
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Fasoli, F., Maass, A., & Berghella, L. (2022). Who Has a Better Auditory Gaydar? Sexual
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Gelman, Andrew, Greggor Mattson, and Daniel Simpson. (2018). “Gaydar and the Fallacy
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Rieger, G., Linsenmeier, J. A., Gygax, L., Garcia, S., & Bailey, J. M. (2010). Dissecting
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Stern, C., West, T. V., Jost, J. T., & Rule, N. O. (2013). The politics of gaydar: ideological
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Woolery, L. M. (2007). Gaydar: A social-cognitive analysis. Journal of Homosexuality,
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