frühchen neu

Einer der wichtigsten Grundsätze in der Medizin ist: Im Zweifel immer für das Leben. Jede:r Patient:in und somit auch jedes Kind hat das Recht auf die volle Ausschöpfung der ärztlichen Kunst. Doch was geschieht, wenn selbst unter Einsatz aller Mittel klar ist, dass diese:r Patient:in nicht überleben wird oder mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit lebenslang beeinträchtigt bleibt? Bei Kindern ist dies oft der Fall, wenn sie zu früh geboren werden. Wie kann man bei einem Kind, das noch sein gesamtes Leben vor sich haben sollte, gegen das Leben entscheiden? Der Versuch einer Antwort.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Schwerpunkts zum Thema "Parenting". Den ganzen November beschäftigt sich alexandria mit der Wissenschaft ums Elternwerden.

Wenn die Vorfreude abrupt endet ...

Für viele Menschen gehört die Gründung einer Familie zu der Lebensplanung einfach dazu. Sobald die ersten zwölf Wochen vorbei sind und auch Bekannte und Freund:innen über die Schwangerschaft informiert werden dürfen, heißt es im Schnitt 28 weitere Wochen dem Bauch beim Wachsen zuzusehen und sich auf das neue Leben vorzubereiten. Doch manchmal kommt es zu einer unvorhergesehenen Wendung und das neue Leben beginnt vor Ablauf dieser Zeit - es kommt zu einer Frühgeburt.

Wann handelt es sich um eine Frühgeburt? Laut Definition handelt es sich bei einem Säugling, der vor der 37. Schwangerschaftswoche (die Schwangerschaftswochen beginnen nach der letzten Menstruation) geboren wurde, um eine Frühgeburt (Stavis, 2019).
In Österreich kamen im Jahre 2021 circa 6.500 Kinder zu früh zur Welt, das entspricht etwa 7,1 Prozent aller Geburten. Dieser Wert ist seit den 80er-Jahren annähernd stabil geblieben. (Statista, 2022).

Zusätzlich werden Frühgeborene nach ihrem Geburtsgewicht eingeteilt, da dieses einen maßgeblichen Einfluss auf das Überleben hat. Kinder unter 2.500 Gramm haben ein zu niedriges Geburtsgewicht, wobei ein Gewicht unter 1.000 Gramm als extrem niedriges Geburtsgewicht gilt. (Stavis, 2019) Diese Einteilungen sind für Ärzt:innen notwendig, um therapeutische Entscheidungen treffen zu können.

Genau wenn solche therapeutischen Entscheidungen anstehen, fragen sich einige Eltern: „Warum wir? Was haben wir falsch gemacht? Hätten wir irgendetwas anders machen können?“

Meistens einfach nur Pech ... oder doppeltes Glück

Warum es zu einer spontanen Frühgeburt kommt, ist nur in einem geringen Teil der Fälle klar. Eine Insuffizienz der Plazenta kann zu vorzeitigem Blasensprung und Einsetzen der Wehen führen.
Wesentliche Risikofaktoren sind vergangene Frühgeburten, Mehrlingsschwangerschaften, Abtreibungen oder spontane Fehlgeburten, In-vitro-Fertilisationen, Nikotinkonsum, sehr junge oder ältere (medizinisch ab 35 Jahren) Mütter, unbehandelte Infektionen in der Schwangerschaft … die Liste ist lang.

Einer der häufigsten Risikofaktoren ist die multiple Schwangerschaft. Über die Hälfte der Zwillinge und beinahe alle der höheren Mehrlingsschwangerschaften (Drillinge und darüber) werden vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren. Insgesamt erhöhen all diese Faktoren nur das Risiko einer Frühgeburt, sie lösen sie nicht direkt aus, sodass es auf die Frage „Hätten wir etwas anders machen sollen?“, keine klare Antwort gibt.

In seltenen Fällen wird eine Geburt sogar bewusst früher eingeleitet. Dies betrifft Mehrlingsschwangerschaften mit Komplikationen, eine falsch liegende Plazenta oder einen vorzeitigen Blasensprung.
Jedoch wird meist versucht, eine Geburt vor der 32. Schwangerschaftswoche und somit weitreichende Komplikationen zu verhindern.

Krankenhäuser unterbieten sich - zu einem hohen Preis

Bei der Gefahr einer möglichen Frühgeburt wird Schwangeren empfohlen, sich an ein spezialisiertes Zentrum zu wenden. In Österreich findet man ein solches in beinahe jedem größeren Krankenhaus, wobei jedes Krankenhaus Grenzen angibt, bis zu welcher Woche sie die Kinder behandeln.
Wenn also in einem Krankenhaus in Wien, das eine Neonatologie hat, ein Kind unter der von ihren therapierbaren Wochen zur Welt kommt, wird es nach der Geburt an ein anderes Klinikum überstellt. Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien betreut sogar Kinder, die in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, das sind ganze vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin.

Was nach einem therapeutischen Wunder klingt, geht mit einer hohen Anzahl an Schwierigkeiten einher. Aufgrund der Unreife der Organsysteme kommt es bei Frühgeborenen zu zahlreichen Komplikationen.

Das am häufigsten auftretende ist das Atemnotsyndrom. Die Lungenzellen (Pneumozyten), welche Surfactant produzieren, sind meist noch nicht zur Genüge ausgebildet, sodass das Kind nicht genügend Sauerstoff erhält. Da Surfactant erst ab der 24. Schwangerschaftswoche produziert wird, ist ein Überleben davor geradezu unmöglich. Noch bis zur 34. Schwangerschaftswoche produziert die Lunge zu wenig Surfactant, um die Lungenbläschen offen zu halten.

Surfactant ist eine Substanz, welche das Zusammenfallen der Alveolen (Lungenbläschen) verhindert und so eine adäquate Belüftung der Lunge ermöglicht.

Zusätzlich haben Frühgeborene im Verhältnis zur Körpermasse eine außerordentlich große Körperoberfläche, sodass sie noch schneller als andere Säuglinge auskühlen. Daher ist eine Erwärmung der Raumtemperatur bis zur Bebrütung im Inkubator für diese Kinder lebensnotwendig.

Außerdem entwickeln die meisten Frühgeborenen eine Fütterungsintoleranz. Da ihr gesamter Magen-Darm-Trakt noch nicht zur Gänze entwickelt ist, besteht die Gefahr einer Aspiration (Speisebrei gelangt in die Lunge) und eine unzureichende Verdauung der zur Verfügung gestellten Nahrung. Diese muss meist über Sonden oder intravenös verabreicht werden, da die Kinder noch keinen ausgebildeten Saugreflex haben.

Bereits diese Komplikationen bedürfen einer umfassenden Betreuung, sodass diese in der Regel auf einer neonatologischen Intensivstation erfolgt. Hier kann eine durchgehende Überwachung garantiert werden und auch die richtige Umgebung (etwa genug Wärme und Keimfreiheit) geschaffen werden.

Trotz all dieser notwendigen Maßnahmen, ist hier die Kontaktaufnahme zwischen Eltern und Kind von wesentlicher Bedeutung. Regelmäßiger Kontakt (auch Haut-zu-Haut) wirkt sich positiv auf die Eltern-Kind-Beziehung und auch die Entwicklung des Kindes aus. Auch das Stillen wird, falls möglich, dringend empfohlen. Muttermilch, welche ernährungsphysiologisch und immunologisch am besten vertragen wird, ist die Ernährung der ersten Wahl.

Mutter mit Frühchen

Mutter-Kind-Kontakt ist sehr wichtig - bei Frühgeborenen aber nicht immer einfach

Komplexere Krankheitsbilder, welche beinahe bei allen Frühgeborenen auftreten, bedürfen einer langwierigen und oft auch invasiven Behandlung, die zusätzlich sehr belastend ist. Bei sehr jungen Frühgeborenen sind in der Regel all diese Komplikationen wesentlich stärker und häufiger ausgeprägt als bei älteren Säuglingen.

- Nervensystem: Das Zentrale Nervensystem ist bei Frühgeborenen noch nicht ausgereift, sodass es oft zu Atemstillstand-Phasen und auch Hirnblutungen kommt.
- Augen: Die Durchblutung der Netzhaut ist erst kurz vor dem errechneten Entbindungstermin abgeschlossen, sodass es bei Frühgeborenen zu einer abnormalen Entwicklung der Blutgefäße und somit zu Sehstörungen und sogar Blindheit kommen kann.
- Verdauungssystem: Die Nekrotisierende Enterokolitis ist die häufigste Ursache für starke Bauchschmerzen bei sehr Frühgeborenen. Wie es dazu kommt ist noch nicht klar, vermutlich wandern Bakterien leichter durch die noch unreife Darmwand und sorgen für Entzündungen.

Nach Hause entlassen werden kann ein Kind erst dann, wenn es ausreichend Milch zu sich nimmt, stetig an Gewicht zulegt und seine Körpertemperatur auch bei Raumtemperatur stabil bleibt.
Die meisten Frühgeborenen erreichen diese Ziele in der 35. bis 37. Schwangerschaftswoche und ab einem Gewicht von 2 bis 2,5 Kilogramm. (Stavis, 2019) Ein Kind, das erst 26 Wochen alt ist, muss also die ersten 9 bis 11 Wochen seines Lebens auf einer Intensivstation verbringen.

Gewicht von Frühgeburten

Meist kann ein Kind erst mit einem Gewicht von 2 bis 2,5 Kilogramm nach Hause entlassen werden

Falls Leben, dann mit Beeinträchtigungen

Gerade bei so einem langen Aufenthalt gibt es keine Garantie für einen erfolgreichen Ausgang. Eine Auswertung von 27 OECD-Ländern zeigte, dass die Überlebensrate und die Häufigkeit für Beeinträchtigungen der Kinder direkt mit dem Gestationsalter (Alter des Kindes ab dem Tag der Befruchtung) zusammenhängen.
So überleben nur 38 Prozent aller Kinder, die in der 23. SSW geboren werden, jedoch bereits 76 Prozent der Säuglinge, die mindestens 25 Wochen lang im Mutterleib reifen konnten. Die Hälfte aller Kinder, die vor der 23. SSW geboren werden, bleiben langfristig beeinträchtigt, während es in der 25. Schwangerschaftswoche nur noch ein Drittel ist. (OECD, 2017)

Diese Zahlen machen deutlich, dass sehr unreif Frühgeborene (vor der 24. Schwangerschaftswoche geboren) ein sehr hohes Risiko für lebenslange Komplikationen haben. Die meisten Atemwegsprobleme verschwinden mit zunehmendem Alter ohne Langzeitfolgen. Es kommt jedoch bei vielen Kindern zu einer Entwicklungsstörung des Zentralnervensystems, welche sich in grob- oder feinmotorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen äußern kann. Aufgrund dieser möglichen Langzeitfolgen und der zahlreichen Komplikationen, wurden Grenzen definiert, ab welchen von einer therapeutischen Intervention Abstand genommen werden kann.

Leben ermöglichen oder Kinder gehen lassen - eine Grauzone

Diese Grauzone befindet sich in Österreich zwischen der 23. und 24. Schwangerschaftswoche. Bei Frühgeborenen mit einem Alter von 23 Wochen und 0 Tagen und einem Gewicht unter 400 Gramm werden medizinische Maßnahmen in der Regel als aussichtslos eingestuft.

Ab einem Alter von 24 Wochen und 0 Tagen, sowie einem Gewicht über 400 Gramm sind die Überlebenschancen so hoch, dass eine lebenserhaltende Therapie angestrebt werden sollte. Dazwischen befindet sich die Grauzone, in welcher die Überlebenschance in einem spezialisierten Zentrum auf 50 Prozent ansteigen kann, man allerdings von schwerwiegenden Gesundheitsstörungen mit einer lebenslangen Hilfe durch andere Personen ausgehen muss.

In diesem Graubereich müssen die Eltern mit dem Ärzt:innenteam gemeinsam entscheiden, ob ein heilender oder palliativer (sterbebegleitender) Ansatz gewählt werden soll. Da die Prognose zusätzlich bei jedem Kind eine andere ist, müssen Wertvorstellungen der Eltern unbedingt bei der Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. In allen Gesprächen mit den Eltern müssen der kulturelle sowie religiöse Hintergrund beachtet werden. Ärzt: innen dürfen nur Sachverhalte darstellen und müssen ihre eigene Meinung außen vorlassen. Zur Unterstützung der Eltern bei der Entscheidungsfindung können Seelsorger:innen und Psycholog:innen hinzugezogen werden.

Frühgeburten

Eine unmögliche Entscheidung?

Der rechtliche Rahmen und die ärztlichen Empfehlungen können den Eltern eine Orientierung geben, Ratschläge eine Stütze sein. Letztendlich müssen die Eltern in der Grauzone die Entscheidung über Leben oder Tod treffen.
Entscheiden sie sich für palliative Maßnahmen, sollte ihnen die Option zum Abschied gegeben werden und die Begleitung des Sterbeprozesses ermöglicht werden.

Falls sich die Eltern für therapeutische Maßnahmen entscheiden, müssen sie auf mögliche Komplikationen und lebenslange Beeinträchtigungen vorbereitet und dahingehend beraten werden. Für die Entscheidungsfindung muss den Eltern die Zeit eingeräumt werden. In diesem Grenzfall können lebenserhaltende Maßnahmen genutzt werden, um den Eltern ein wenig Zeit zu verschaffen. Allerdings sollte hierbei immer an das Wohl des Kindes gedacht werden und eine klare Empfehlung für palliative Maßnahmen ausgesprochen werden, wenn die Prognose nicht vielversprechend aussieht.

Rechtlich dürfen Ärzt:innen keine Behandlungen durchführen, wenn diese medizinisch nicht oder nicht mehr gerechtfertigt ist, und es müssen Schädigungen des Frühgeborenen durch medizinische Maßnahmen unter allen Umständen verhindert werden.

Daher können solche Maßnahmen auch nicht seitens der Eltern eingefordert werden. Sobald die lebenserhaltenden Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg mehr haben oder der Sterbeprozess begonnen hat, muss dies klar mit den Eltern kommuniziert werden. Die Sterbebegleitung betrifft sowohl das Kind als auch Väter und Mütter. Lebenserhaltende Maßnahmen können teilweise kurzfristig fortgeführt werden, um den Eltern Zeit zum Abschied zu geben. Allerdings darf das Frühgeborene keineswegs darunter leiden. Die Eltern müssen hierfür umfassend und für sie verständlich aufgeklärt werden, damit sie loslassen können.

Am Ende gilt: Nur bei einer realistischen Überlebenschance lohnen sich die invasiven und auch schmerzhaften Maßnahmen für das Kind. Ansonsten handelt es sich um qualvolle Maßnahmen bei Säuglingen, die für dieses Leben noch nicht bereit waren.

Bundeskanzleramt (2019). Stille Geburt oder Tod des neugeborenen Kindes. Für Mütter
     und Väter,die von diesem Verlust betroffen sind. Bundeskanzleramt, Sektion Familien
     und Jugend, Abteilung 6 – Familienrechtspolitik und Kinderrechte
. 1010 Wien
Robert L. Stavis (2019). Frühchen. MSD Manual. Ausgabe für medizinische Fachkreise.
Bührer, C. et al. (2019). Frühgeborene an der Grenze zur Lebensfähigkeit. Gesellschaft für
     Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin
. AWMF-Leitlinien-Register Nr.
     024/019.
Statista (2022). Anteil der Frühgeborenen in Österreich von 1984 bis 2021. Statista Research Department.

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