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Immer wieder liest man in populären Medien, dass aktuell ein sechstes Massenaussterben stattfindet. Doch entspricht das der Wahrheit? Und kann man aufgrund von vergangenem Artensterben auf die Zukunft schliessen?

Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Was wir (ver)erben, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit dem menschlichen Erbe auseinandersetzen.

Vor rund 66 Millionen Jahren ereignete sich eine Katastrophe, die die Welt von Grund auf veränderte: Ein gigantischer Asteroid mit einem Durchmesser von mindestens zehn Kilometern schlug auf der Erde ein. Dieses Ereignis, begleitet von anderen Umweltfaktoren, löschte die Dinosaurier aus. Sie waren die berühmtesten Lebewesen, die an dieser Grenze von zwei Erdzeitaltern – der Kreide und dem Paläogen – ausstarben. Doch mit Sicherheit waren sie nicht die einzigen. Rund 70 bis 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten verschwanden nach dem Asteroideneinschlag von der Welt.

Im Laufe der Erdgeschichte kam es höchstwahrscheinlich zu fünf Massenaussterben, die häufig auch als die „Big Five“ bezeichnet werden. Bei jedem dieser fünf Events starben mindestens 45 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. Nur das Letzte unter ihnen, bei dem die Dinosaurier verschwanden, liegt weniger als 100 Millionen Jahre zurück (Racki, 2019). Doch handelt es sich dabei tatsächlich um das letzte aller Massenaussterben?

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       Diese Illustration zeigt, zu welchem Zeitpunkt (X-Achse, Millionen von Jahren vor
       heute) Massenaussterben in der Erdgeschichte stattfanden und wie hoch der 
       Artenschwund in den Meeren war (Y-Achse, Prozent). (Quelle: Verändert nach
       Wikipedia)

Viele Expert:innen bezweifeln das – und sind der Überzeugung, dass wir uns aktuell am Beginn der großen Nummer sechs befinden. Wenn man einen schnellen Blick in Zeitungen oder ins Internet wirft, erscheint dies durchaus schlüssig. Eisbären treiben auf abgebrochenen Schollen, die Anzahl der Bienen schrumpft stark und Leoparden streifen nur noch vereinzelt durch die Regenwälder Asiens. Hinter diesen Berichterstattungen steht stets eine These, die das aktuelle Massenaussterben von allen bisherigen unterscheidet: Keine Naturkatastrophe ist der Auslöser, sondern der Mensch stellt den Grund für den Verlust der Artenvielfalt dar.
Die Weltnaturschutzunion IUCN, die unter anderem die Rote Liste der gefährdeten Tierarten anfertigt und die Gesellschaft über Artenschutz aufklärt, definiert in einem offiziellen Dokument die Hauptgründe für den Artenverlust. Dazu zählen unter anderem die Zerstörung von Lebensräumen, die Ausbeutung durch Fischen oder Jagen, die Umweltverschmutzung und die Erderwärmung.
Manche Wissenschaftler:innen sprechen sich jedoch gegen die Theorie eines sechsten Massenaussterbens aus. Diese, so schreiben Forschende wie der Biologe John C. Briggs (2016), der an der Oregon State University arbeitet, in diversen Papers, sei schlichtweg „übertrieben“. Die Darstellung diene lediglich dazu, mehr Forschungsgelder durch erhöhte Aufmerksamkeit zu generieren (Cowie et al., 2022). Doch welche der beiden Ansichten entspricht der Wahrheit? Die IUCN überprüft alle wissenschaftlichen Artikel zu relevanten Themen und kam somit zu einer umfassenden Konklusion.

Fakt, Fiktion oder Spekulation? The sixth mass extinction

„Das moderne Artenaussterben ist schlimmer als befürchtet“, titelte der Standard im September 2023. Dabei berief er sich auf einen Artikel von den Forschern Gerardo Ceballos und Paul R. Ehrlich von der „Universidad Nacional Autonoma de México“ und der US-amerikanischen Stanford Universität. Ihre Studie stellte im renommierten Journal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (Pnas) eine fatale Diagnose über den Zustand der Biodiversität. So sollen seit dem Jahr 1500 rund 73 Tiergattungen ausgestorben sein – ohne das Zutun des Menschen wären es hingegen im selben Zeitraum nur zwei gewesen. Eine einfache Kopfrechnung ergibt, dass die momentane Aussterberate die natürliche um das 35-fache übersteigt (Ceballos & Ehrlich, 2023).
Doch einige Forschende halten diese Sicht auf das aktuelle Artensterben für deutlich übertrieben. Unter anderem argumentieren sie mit der IUCN-Liste von bedrohten und ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten, die kontinuierlich Metaanalysen von allen relevanten Papers durchführt. Laut dieser starben seit dem Jahr 1500 869 Arten aufgrund des Menschen aus. Diese Zahl entspricht tatsächlich mehr oder weniger dem sogenannten „Hintergrundrauschen“. Das bedeutet, dass nicht mehr Tiere und Pflanzen ausgerottet wurden, als es in diesem Zeitraum auf natürliche Weise üblich gewesen wäre. Haben die Skeptiker:innen also Recht?

Metastudien sind Analysen, in denen Ergebnisse mehrerer wissenschaftlicher Untersuchungen zu einer Fragestellung zusammengefasst werden.

Wie die IUCN in ihrem Bericht selbst erklärt, dürfte die Zahl von 869 ausgestorbenen Spezies sehr weit unter dem tatsächlichen Wert liegen. Denn einerseits handelt es sich dabei nur um Arten, bei denen das Aussterben mit Sicherheit nachgewiesen werden konnte. Allerdings geht die IUCN davon aus, dass wir sogar heutzutage höchstens 15 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten kennen. In ihrem Bericht verdeutlicht die Organisation, dass nur ein Bruchteil aller – auch bekannter – Arten ausreichend untersucht wurde, um ein eindeutiges Ergebnis darstellen zu können. Laut ihren Metastudien verlaufe das Aussterben sehr „rapide“. Expert:innen schätzen den Artenverlust „zwischen 1.000 und 10.000 Mal höher als das ‚Hintergrundrauschen‘ oder die erwartete natürliche Menge“.
Da die IUCN alle relevanten Papers auswertet, scheint die Mehrheit aller Forschenden vom sechsten Massenaussterben überzeugt zu sein. Manche Expert:innen gehen so weit, zu sagen, dass ein Leugnen der „6th mass extinction“ einem Abstreiten des Klimawandels gleichkommt (Cowie et al., 2022).
Aufgrund der hohen Datenmenge und der übereinstimmenden Ergebnisse kann man also von einem Konsens in der Wissenschaftsgemeinde sprechen. Der Mensch greift tief in die Natur ein und bringt durch sein Verhalten Ökosysteme ins Wanken. In diesem Zusammenhang stellen sich nun weitere Fragen: Kann man aufgrund der Vergangenheit daraus schließen, wie sich dieses Event entwickeln könnte und welche Tiere und Pflanzen letztlich überleben werden?

Fast alles muss neu entstehen

Die Big Five haben vor allem eines gemeinsam: Nach dem Massenaussterben war die Welt vollkommen verändert. Während zuerst Chaos herrschte und die Biodiversität reduziert war, entwickelten sich danach neue Arten oder übernahmen solche die Führung, die davor von geringer Bedeutung waren. „Denn von einem Massenaussterben erholt sich kaum etwas; vielmehr muss fast alles neu entstehen“, schreibt „Spektrum der Wissenschaften“ über die Big Five.

massenaussterben ammoniten

Fossilien wie diese werden unter anderem dafür verwendet, um vergangene Massenaussterben zu erforschen. Hierbei handelt es sich um Ammoniten, Wassertiere, die gleichzeitig mit den Dinosauriern ausstarben. (Quelle: Pixabay)

Ansonsten liefen die Events teils sehr unterschiedlich ab. Asteroideneinschläge, hohe vulkanische Aktivität, extreme Hitzewellen oder ein plötzlicher Temperatursturz sorgten für eine starke Verringerung der Biodiversität. Unter anderem deshalb sind die Ergebnisse und die Abläufe von diesen Massenaussterben schwierig voraussagbar. Auch mit Computersimulationen wurden bisher kaum Erfolge erzielt (Foster et al., 2023). Trotzdem ist es möglich, einen kleinen Blick in die Zukunft der Natur zu werfen.

Spezialisiert, groß und mächtig: Diese Arten könnten aussterben

Wenige Punkte traten bei beinahe allen Events der Vergangenheit ein. Unter anderem überleben häufig Tiere und Pflanzen, die weit verbreitet sind und sich mit möglichst unterschiedlicher Nahrung versorgen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Auswirkungen einer Naturkatastrophe zumeist an einem Ort stärker sind als an anderen. Eine diverse Art hat dementsprechend höhere Chancen, zu überleben.
Weiters zeigt sich bei allen Massenaussterben auch der Liliput-Effekt: Kleinere Tierarten überleben häufiger als große. Laut Expert:innen liegt dies daran, dass sie schlichtweg weniger Nahrung zu sich nehmen müssen. Große Tiere, die viel Energie benötigen, verhungern häufig nach Naturkatastrophen (Harries & Knorr, 2009). So überlebte beim letzten Massenaussterben in der Kreide beispielsweise keine einzige Tierart, die größer als ein Cocker Spaniel war.
Eine weitere Gemeinsamkeit aller Big Five ist auffällig und könnte die Menschheit direkt betreffen. Denn laut „Spektrum der Wissenschaften“ starben häufig die Hauptakteure vor dem Event aus. So wurden beispielsweise während des Massenaussterbens am Ende der Kreidezeit die Dinosaurier vernichtet, die zuvor viele Ökosysteme dominierten, und machten damit Platz für die Säugetiere. Die Menschheit würde aufgrund des technischen Fortschritts ein Massenaussterben wahrscheinlich überleben, wenngleich die Zahl der Individuen minimiert werden würde.
Dementsprechend könnte man davon ausgehen, dass von einer „Sixth Mass Extinction“ wahrscheinlich große Tiere und Arten, die sehr spezielle Nischen füllen, betroffen sind. Doch das sind nicht die einzigen Informationen, mit deren Hilfe man aufgrund der Vergangenheit auf die Zukunft schließen kann.

Evolution legt nach Massenaussterben eine Pause ein

Aus Überprüfungen von Gesteinen und deren Fossilien kann man ablesen, dass die Natur lange Zeit benötigt, um sich von einem Massenaussterben zu erholen. Expert:innen gehen davon aus, dass dieselbe Artenvielfalt frühestens hunderttausende Jahre nach einem solchen Event wieder auftritt.
Das besterforschte Massenaussterben ist das der Kreide-Paläogen-Grenze. Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen dokumentierte akribisch die Entwicklung der Biodiversität in Colorado nach dem Event. Die Erholung der Natur wird nicht nur durch die Artenvielfalt bestimmt, sondern auch durch die gesamte vorhandene Biomasse. Diese wird durch die Menge der Masse an Tieren und Pflanzen definiert.
Nach rund 100.000 Jahren wurde die Umgebung wieder von den ersten größeren Säugetieren besiedelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Biomasse der Säugetiere, die während des Massenaussterbens zurückging, wieder erholt. Nach 300.000 Jahren hatte sich diese sogar verdreifacht. Noch einmal 400.000 Jahre später wandelten die ersten neuen, großen Säugetiere über die Böden Colorados und Hülsenfrüchte entstanden, die wiederum die Evolution als Proteinlieferant weiter vorantrieb (Lyson et al, 2019). Nach dem Massenaussterben im Perm, bei dem über 90 Prozent aller Arten verschwanden, dauerte es wahrscheinlich sogar eine Millionen Jahre, bis sich neue Tiere oder Pflanzen entwickelten.
Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur viele Millionen Arten ausrotten könnte, sondern die Natur auch eine lange Erholungsphase benötigen wird. Expert:innen nahmen bis vor kurzem an, dass Massenaussterben der Natur widerstreben und die Evolution aufhalten. Hält dieses Erbe des Menschen die Entwicklung der Natur also auf? Die neueste Datenlage stimmt dieser These nicht zwangsläufig zu.

Was der Mensch an die Natur vererbt

Denn immer mehr Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Massenaussterben tatsächlich die Evolution insgesamt vorantreiben könnten. So haben beispielsweise Simulationen ergeben, dass die Evolution von großen Massensterben profitiert. Arten zeigten sich nach der Erholungsphase vielfältiger und intelligenter (Lehman & Miikkulainen, 2015).
Manche Expert:innen gehen sogar so weit, das aktuelle Massenaussterben zu begrüßen (Cowie et al., 2022). Hierbei handelt es sich allerdings um eine sehr fragwürdige Einstellung. Selbst wenn sich die Evolution durch die „6th mass extinction“ verschnellern sollte und daraus noch intelligentere Lebewesen entstehen, bleibt Leiden zurück. Denn unser Massenaussterben geht mit vielen Qualen für Individuen einher. Extremwetterereignisse werden aufgrund der Klimaerwärmung immer häufiger und fordern Menschenleben. Elefanten werden wegen des Elfenbeins gejagt, um es für hohe Preise zu verkaufen. Und viele Tiere verhungern, da ihnen die Nahrung ausgeht.
Mit dem sechsten Massenaussterben könnte der Mensch zwei Dinge vererben: Schmerz und Leid an die Tiere und Pflanzen, die heute und in naher Zukunft leben. Gleichzeitig könnte er durch die aktuelle Zerstörung auch neue Arten schaffen – und sich selbst dabei auslöschen, um einem neuen, intelligenteren Tier Platz zu machen.

Briggs, J.C. (2016): Global Biodiversity Loss: Exaggerated versus realistic estimates.
        Environmental Skeptics and Critics, 5(2), 20-27.
Ceballos, G., Ehrlich, P. R. (2023): Mutilation of the tree of life via mass extinction of
        animal genera. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120 (39).
Cowie, R. H., Bouchet, P., Fontaine, B. (2022): The Sixth Mass Extinction: fact, fiction or
        speculation? Biological Reviews, 97 (2), 640-663.
Foster, W. M., Allen, B. J., Kitzmann, A. H., Münchmeyer, J., Rettelbach, T., Witts, J. D.,
        Whittle, R. J., Larina, E., Clapham, M. E., Dunhill, A. M (2023): How predictable are
        mass extinction events? Royal Society Open Science, 10: 221507.
Harries, P. J., Knorr P. O. (2009): What does the “Lilliput Effect” mean? Palaeography,
        Palaeoclimatology, Palaeoecology. 284 (1-2), 4-10.
Lehman, J., Miikkulainen, R. (2015): Extinction Events Can Accelerate Evolution. PLOS
        ONE, 10 (8).
Lyson, T. R., Miller, I. M., Bercovici, A. D., Weissenburger, K., Fuentes, A. J., Clyde, W.
        C., Hagadorn, J. W., Butrim, M. J., Johnson, K. R., Fleming, R. F., Barclay, R. S.,
        Maccracken, S. A., Lloyd, B., Wilson, G. P., Krause, D. W., Chester, S. G. B. (2019):
        Exceptional continental record of biotic recovery after the Cretaceous–Paleogene mass
        extinction. Science, 366 (6468), 977-983.
Racki, G. (2019): Chapter 44: Big 5 Mass Extinctions. Encyclopedia of Geology.

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