Frau mit Sarg und Ukraineflagge, Aufrüstung

Milliarden für Panzer, Raketen und Jets. Europa rüstet massiv auf. Doch macht uns das wirklich sicherer? Ein Blick auf die Logik hinter der Aufrüstung und auf die mitschwingende Henne-Ei-Frage, ob nicht gerade jene Aufrüstung neue Unsicherheiten schafft.

Ende Juni 2025 wird in der Diskussionssendung „Presseclub" von ARD und Phoenix über Aufrüstung diskutiert und über das Fitmachen der deutschen Bundeswehr. Routiniert sprechen die Gäste darüber, welche Waffensysteme angeschafft werden müssten, welche strategischen Prioritäten gesetzt werden sollten. Dann, zum Ende der Sendung, ein Zuschaueranruf.

Ein Mann meldet sich, hörbar angespannt: „In der Runde heute wurde sehr locker-flockig drüber gesprochen, welches Waffensystem angeschafft werden muss, welche Schwerpunkte gelegt werden sollen. Ich habe zwei Söhne, die sind jetzt 15. Und man muss offen und ehrlich der Gesellschaft auch die Frage stellen: Sind wir bereit, unsere Kinder zu opfern? [...] Es geht mir sehr gegen den Strich, dass diese Diskussion so locker-flockig geführt wird. Wir sprechen über Menschenleben. Da möchte ich mal in die Runde fragen: Sind Sie bereit, Ihre Kinder zu opfern? Das ist die Kernfrage."

Der Anruf ist ein Rückstoß aus der abstrakten Welt militärischer Planung hinein in die Realität der Bürger:innen in Deutschland, in ganz Europa. Der Politico-Journalist Gordon Repinski antwortet schließlich: „Ich würde die Frage gerne umformulieren: Was müssen wir eigentlich tun, um unsere Kinder nicht opfern zu müssen?"

Frau mit Sarg und Ukraineflagge, Aufrüstung

Diese Diskussion macht ein Spannungsfeld sichtbar, dass sich durch Europa zieht: Brauchen wir mehr Waffen, um Frieden zu bewahren, oder führen uns genau diese Waffen eines Tages in den Krieg?

Stärke für den Frieden

Deutschland beschließt ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr, Polen wird konfrontiert mit russischen Drohnen und kauft südkoreanische Kampfpanzer, selbst das neutrale Österreich erhöht sein Verteidigungsbudget. Die Botschaft ist klar: Europa muss sich verteidigen können.

Hinter dieser Aufrüstungswelle steckt ein alter Gedanke: die Abschreckungstheorie (englisch: Deterrence Theory). Ihre Kernidee ist einfach, wer stark genug ist, wird nicht angegriffen. Ein potenzieller Aggressor soll durch militärische Fähigkeiten davon überzeugt werden, dass ein Angriff zu teuer, zu riskant oder schlicht aussichtslos wäre.

Diese Theorie ist keineswegs neu. Während des Kalten Krieges verhinderte sie vermutlich einen direkten Krieg zwischen den Supermächten: Beide Seiten verfügten über Atomwaffen, ein Angriff hätte die eigene Vernichtung bedeutet - es ist das furchterregende Konzept der „Mutually Assured Destruction“, der gegenseitig zugesicherten Zerstörung.

Der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala bringt es in einem Interview gegenüber dem Spiegel auf den Punkt: „Noch mehr Militär stärkt nie den Frieden, aber noch mehr Militär verhindert Kriege – indem es abschreckt. Es signalisiert dem Gegner: Achtung, wir können uns verteidigen! Das ist das Entscheidende. Erst wenn ein Angriff unwahrscheinlich ist, kann man Frieden aufbauen.“

Wenn Verteidigung wie Bedrohung wirkt

Doch was passiert, wenn beide Seiten nach dieser Logik handeln? Die Antwort liefert ein zentrales Konzept der Internationalen Beziehungen: das Sicherheitsdilemma.

Der Begriff geht auf den deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler John Herz (1940-2005) zurück und beschreibt eine fatale Dynamik: Staat A rüstet auf, um sich sicherer zu fühlen. Staat B interpretiert diese Aufrüstung als Bedrohung und rüstet ebenfalls auf. Staat A sieht darin wiederum eine Gefahr und erhöht seine Anstrengungen. Am Ende fühlen sich beide unsicherer als zuvor, obwohl (oder gerade weil) beide nur ihre Sicherheit erhöhen wollten. An diesem Punkt stellt sich unausweichlich die Frage, wie hoch der Preis für Sicherheit werden darf, und wer ihn am Ende wirklich trägt.

Genau diese Spirale lässt sich aktuell beobachten. Der Stockholmer Friedensforscher Lorenzo Scarazzato warnt in einem Interview vor einer gefährlichen Dynamik: Länder nehmen Spannungen wahr und greifen eher zu militärischen Maßnahmen als zu diplomatischen Mitteln. Die weltweiten Militärausgaben erreichten 2024 mit 2.718 Milliarden Dollar einen historischen Höchststand, der steilste Zuwachs seit Ende des Kalten Krieges.

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Militarausgaben  von Amerika, Asien, Europa, Afrika

Militärausgaben jedes Kontinents. Quelle: Statista 

Friede als finanzielle Bedrohung

Es gibt noch einen dritten Aspekt, der in der öffentlichen Debatte oft zu kurz kommt: Aufrüstung ist big business. Seit 2022 steigen die Aktienkurse von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall, Lockheed Martin oder BAE Systems dramatisch.

Parallel zur militärischen Aufrüstung wächst der politische Einfluss der Rüstungsindustrie. Laut Transparency International organisierte die Verteidigungsbranche zwischen Juni 2024 und Mitte 2025 insgesamt 197 Lobbytreffen im Europäischen Parlament.

Kritisch wird es, wenn wirtschaftliche Interessen politische Entscheidungen zu stark beeinflussen. Transparency International warnt in ihrem „Defence Companies Anti-Corruption Index“, dass viele Rüstungsunternehmen nur schwach gegen Korruption gewappnet sind, ein Risiko bei milliardenschweren Aufträgen, die oft in kürzester Zeit vergeben werden. Wenn milliardenschwere Projekte in wenigen Wochen durchgewunken werden, stellt sich die Frage: Geht es wirklich immer nur um Sicherheit - oder auch um Profite?

Gibt es einen Ausweg?

Die zentrale Frage bleibt: Wie viel Verteidigungsfähigkeit braucht Europa wirklich, und wann kippt Sicherheit in Unsicherheit?

Militärische Stärke ohne diplomatische Kanäle ist gefährlich, weil sie Fehlinterpretationen Raum gibt. Diplomatie ohne militärische Glaubwürdigkeit bleibt zahnlos.

Europa muss sich verteidigen können, keine Frage. Aber es muss gleichzeitig aufpassen, dass aus dem Schutzbedürfnis keine Spirale wird, die am Ende niemanden sicherer macht. Die Frage des besorgten Vaters aus dem „Presseclub" ist dabei vielleicht die ehrlichste: Sind wir wirklich bereit, dafür zu zahlen, nicht nur mit Milliarden, sondern mit Menschenleben?

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