Masken übereinander

Menschen mit Autismus werden in TV und Film oft als etwas seltsame Supergenies dargestellt. Doch stimmt dieses Bild? Und was bedeutet die Diagnose Autismus aus medizinischer Sicht? alexandria klärt auf 

Warum das wichtig ist: Vom Asperger-Syndrom ist in etwa eines von 86 Kindern betroffen. Die neurologische Besonderheit, die man im Autismus-Spektrum einordnet, ist immer häufiger Gegenstand in Popkultur und den sozialen Medien. Obwohl dadurch das Bewusstsein für Menschen mit Asperger-Syndrom wächst, ist der populäre Diskurs auch Nährboden für Stigmata und Klischees.

Elon Musk, Greta Thunberg, Sheldon Cooper aus ‘The Big Bang Theory’ oder der brillante Chirurg Shaun Murphy aus der Serie „The Good Doctor“ – fiktional oder nicht, sie alle vereint ein unglaublicher Scharfsinn, Talent und eine Diagnose: Sie sind Asperger-Autist:innen. Ist Autismus also eine Art Nerd-Superkraft?

Aus den Medien oder der Popkultur kennen wir Personen mit dem Asperger-Syndrom häufig als etwas schrullig oder sozial ungeschickt, dafür jedoch überdurchschnittlich intelligent und zielstrebig. Man sieht sie als introvertierte Besserwisser mit einer Leidenschaft für Züge oder Zahlen.

Ronja (Name von der Redaktion geändert) ist Studentin und wurde erst vor drei Jahren mit Asperger-Syndrom, einem Autismus-Subtypen, diagnostiziert. Mit dem Klischee einer Person mit Autismus, wie es etwa Sheldon Cooper repräsentiert, konnte sie sich nie identifizieren.
Erst nach einer näheren Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Facetten von Autismus und dem vermehrten Austausch mit der „Aspie“-Community, wie sich Asperger-Autist:innen nennen, wurde Ronja klar, dass ihre alltäglichen Schwierigkeiten, Besonderheiten und Talente dem Spektrum entsprachen. Von diesem Zeitpunkt an begann sie, ihr Leben aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen.

Was ist Autismus?

Unter Autismus (autism spectrum disorder, ASD) versteht man eine neurologische Entwicklungsstörung, deren zahlreiche Subtypen sich stark voneinander unterscheiden. Menschen auf dem Autismus-Spektrum werden, so wie Personen mit ADHS, Lernschwächen, bipolarer Störung und anderen atypischen neurologischen Dispositionen, als neurodivers bezeichnet. Personen innerhalb der neurologischen Norm nennt man demgegenüber neurotypisch.

Inoffiziell spricht man häufig von Abstufungen in der ASD-Diagnose zwischen high functioning autism („hochfunktionalem Autismus‘“, HFA) und low functioning autism („niedrigfunktionalem Autismus“, LFA). Diese Einordnung soll den Grad der Unterstützung, die eine betroffene Person in ihrem täglichen Leben benötigt, erfassen.

Menschen mit LFA haben große Schwierigkeiten, sich im Alltag zurechtzufinden, da sie häufig in ihrer Kommunikation mit der Außenwelt eingeschränkt sind oder empfindlich auf unangenehme Umwelteindrücke reagieren. Bei Menschen mit LFA können sogenannte Inselbegabungen auftreten, die meist auf Mustererkennung beruhen, wie zum Beispiel das exakte Nachzeichnen von Objekten aus dem Gedächtnis.

Das Asperger-Syndrom zählt umgekehrt zum HFA und nicht selten weisen die Diagnostizierten einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten auf, wie das etwa bei Sheldon Cooper der Fall ist (American Psychiatric Association, 2022).

Die Erfahrungen von Personen mit Autismus-Diagnose sind jedoch so unterschiedlich und individuell wie die von neurotypischen Personen. Die Begrifflichkeiten HFA und LFA helfen zwar dabei, die Hilfsbedürftigkeit verschiedener Autismus-Subtypen zu verstehen, die Wissenschaft und die Aspie-Community lehnen die Einordnung jedoch größtenteils als wertend und ungenau ab (Elkin, 2022).

Die Selbstständigkeit und „Funktionalität“ der Betroffenen hängt stark von der momentanen Lebenssituation ab und kann daher nicht als eindeutige Zuschreibung dienen. Man spricht von Autismus-Spektrum, weil es kaum einheitliche Kriterien gibt, um alle Autist:innen zu erfassen und sich die Lebensrealitäten der Betroffenen grundlegend unterscheiden. In der Autismus-Forschung und -Community existiert daher das Sprichwort: „Kennst du eine:n Autist:in, kennst du eine:n Autist:in."

Die Einzigartigkeit der Symptome macht es Wissenschaftler:innen nicht leicht, das Phänomen zu studieren und es erschwert die Diagnose bei Betroffenen, die nicht dem „klassischen“ Fall entsprechen – das sind vor allem Frauen (Simone, 2010; Attwood, 2016).

Das Aspie-Gehirn

Das Asperger-Syndrom ist nach seinem Erstbeschreiber, dem österreichischen Arzt Hans Asperger, benannt. 1938 beschrieb Asperger erstmals die Symptomatik autistischer Kinder als „autistische Psychopathie“, bei der die Betroffenen Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion, dafür jedoch stark ausgeprägten Interessen aufweisen, die sich in einer ungewöhnlich langen und intensiven Auseinandersetzung mit dem Interessensgebiet äußern (Asperger, 1944).

Aspergers‘ Arbeit hat den Weg für die Autismusforschung geebnet, doch seine Methoden und Ergebnisse gelten heute als veraltet oder widerlegt. Auch der Name des Phänomens ist mittlerweile umstritten, da Asperger eine Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus vorgeworfen wird (Czech, 2018).

Die Asperger-Forschung ist vergleichsweise jung und viele Aspekte von Asperger-Autismus sind nach wie vor ungeklärt. Mittlerweile wissen Forscher:innen jedoch, dass Autismus nicht in der Psyche, sondern im Gehirn veranlagt ist. Gehirnuntersuchungen haben ergeben, dass das autistische Gehirn ein erhöhtes Volumen an grauer Substanz, die für die Informationsverarbeitung zuständig ist, aufweist (Ecker et al., 2010).

Außerdem wurden Anomalien in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen bei Autist:innen festgestellt. Autistische Gehirne sind insgesamt strukturell symmetrischer als neurotypische: Hirnregionen, die bei neurotypischen Menschen in der einen Gehirnhälfte kleiner und in der anderen Hälfte größer sind, fallen bei Autist:innen nahezu gleich groß aus (Ecker et al., 2010).

Allerdings sind diese Anomalien auch unter Autist:innen sehr unterschiedlich ausgeprägt, was die verschiedenen Symptome und Erfahrungen der Menschen am Spektrum erklärt. Neueste Forschungsergebnisse in der Neurologie legen sogar nahe, dass es vier neurologische Phänotypen von autistischen Gehirnen gibt, die sich grundlegend voneinander unterscheiden.
Dies könnte also bedeuten, dass die Psychologie jahrzehntelang Personen mit ganz unterschiedlichen neurologischen Dispositionen demselben Überbegriff und derselben Diagnose zugeordnet hat. Was sie alle nach heutigem Wissensstand als ‚Autist:innen‘ vereint, ist jedoch die Abweichung vom Normgehirn (Buch et al., 2023).

Gehirnscan Autismus

Der linke Gehirnscan stammt vom Temple Grandin, einer Forscherin, die selbst Autistin ist; Informationen werden von ihr stark visuell wahrgenommen; im Gegensatz dazu rechts die Gehirnaktivität eines neurotypischen Gehirns bei der Verarbeitung von Informationen. Quelle: USA Today

Die Annahme, dass Impfungen zu Autismus führen, wurde von Wissenschaftler:innen dezidiert widerlegt (Hviid et al., 2019). Die Anomalie ist tatsächlich genetisch bedingt und betrifft deshalb oft ganze Familien.

Auch innerhalb von Ronjas Familie ist sie nicht die einzige auf dem Spektrum. „Sowohl meine Mutter als auch meine Schwester sind mit ASD diagnostiziert, wobei meine Schwester sogar eine Doppeldiagnose mit ADHS hat, was recht häufig vorkommt“, erzählt Ronja. „Selbst bei meinem Vater vermute ich, dass er betroffen ist. Ich glaube, neurodiverse Personen ziehen sich gegenseitig an, weil sie einander aufgrund der ähnlichen Denkweise besser verstehen.“

Wissenschaftler:innen und Betroffene sind sich uneinig, ob Asperger-Autismus eine Krankheit oder bloß eine Normvariante, also eine biologische Besonderheit, darstellt. Viele Autist:innen leiden nämlich eher daran, dass die Welt nach neurotypischen Normen und Erwartungen gebaut ist, als an ihren eigenen Besonderheiten (Casanova & Casanova 2019; Attwood, 2016).
Auch Ronja empfindet ihren Autismus nicht als Krankheit: „Ich nehme meinen Alltag lediglich anders als der Großteil wahr. Es ist, als hätte ich sechs Zehen an einem Fuß – man passt nicht in jeden Schuh, aber dafür kann man vielleicht schneller laufen als der Durchschnitt. Wenn einem nicht gerade auf die Füße gestarrt wird, merken andere den Unterschied oft gar nicht.“

Asperger erkennen

Wie erkennt man also bei dieser großen Symptom-Vielfalt, ob Menschen von Asperger-Syndrom betroffen sind, und warum ist die Diagnose wichtig? Zwar unterscheiden sich die Erfahrungen von Aspie zu Aspie, die Lebensbereiche in denen Anomalien auftreten, sind jedoch dieselben.

Ein großer Teil der Lebensrealität von Aspies ist die sensorische Sensibilität. Menschen mit ASD haben eine besonders starke Wahrnehmung, wobei sich die Art der Sensibilität sowie deren Intensität von Person zu Person unterscheiden. Starke sensorische Eindrücke können sowohl Belastung als auch Behagen auslösen. Viele Aspies leiden beispielsweise unter lauten Geräuschen oder grellen Farben und Licht und spüren diese Sinnesüberreizung in Form von Stress, Beklemmung, Erschöpfung oder sogar Schmerz.

Andererseits kann ein positiv konnotierter Sinneseindruck, wie etwa der Geruch der Lieblingsblume, euphorische Gefühle oder gar einen Rauschzustand auslösen. Manche Aspies schneiden jedes Etikett aus der Kleidung, weil es ihre sensible Haut irritiert. Andere Aspies sind berühmte Sänger:innen wie Susan Boyle, Komponist:innen, wie Marty Balin, Gründer der Band Jefferson Airplane, oder Comedians wie Hannah Gadsby, weil sie mit ihrem perfekten Gehör Musik leichter begreifen und Stimmen oder Dialekte problemlos imitieren können. Wieder andere verabscheuen Rollkragenpullover, weil diese den Hals einengen (American Psychiatric Association, 2022; Attwood, 2016).

Ronja ist gewissen lauten Geräuschen über sehr sensibel und trägt deshalb meistens schützende Kopfhörer. „Ich glaube, ich hätte die Schulzeit nicht ohne meine Kopfhörer überlebt, weil die Geräuschkulisse von schreienden Kindern dort unerträglich für mich war.“

Die sensorische Sensibilität hängt auch mit dem für Aspies typischen Stimming zusammen. Das selbststimulierende Verhalten hilft dabei, belastende Sinneseindrücke auszublenden, bietet angenehme sensorische Eindrücke bei Unterstimulation und wirkt beruhigend bei Stress und Angstzuständen.

Stimms sind so individuell wie Aspies selbst: mit den Fingern knacksen oder schnipsen, sich vor- und zurückwiegen, sich die Hände reiben, über raue Oberflächen oder Stoffe streichen, summen, Worte ständig wiederholen (Echolalie), aber auch selbstschädigendes Verhalten wie das Ausreißen der Haare, Nägel beißen, sich selbst zu kratzen oder zu schlagen, kann als Stim auftreten, um Nervosität zu unterdrücken.

„Ich habe viele verschiedene Arten zu stimmen, oft auch ohne es selbst zu merken, aber nicht alle wirken offensichtlich ‚Aspie‘. Jeder wippt mal nervös mit dem Bein, aber die Häufigkeit und Intensität, mit der wir es betreiben, ist atypisch“, erklärt Ronja. „Wenn ich beim Lernen nicht durchgehend irgendwas zum Spielen in der Hand habe, fällt es mir extrem schwer, mich zu konzentrieren.“

Aspies empfinden häufig Stress bei Veränderung und bevorzugen Routine und Stabilität. Es fällt vielen auch schwer, von einem Stadium in das nächste zu wechseln, mit dem Lernen zu beginnen oder sich am Abend zum Duschen aufzuraffen. Wenn sich Pläne kurzfristig ändern oder eine Erwartung nicht erfüllt wird, kann das Frustration und Angstzustände über den Kontrollverlust auslösen.

„Ich muss mich oft lange mental auf eine neue Situation einstellen und vorbereiten“, sagt Ronja. „Wenn dann etwas Unvorhergesehenes passiert, fühle ich mich überrumpelt. Ich muss mich dann nicht nur an die neue Situation anpassen, sondern fühle mich auch frustriert, dass meine Vorbereitungen umsonst waren.“

Viele Aspies schaffen sich also Rituale, um das Gefühl von Kontrolle in ihrem Alltag beizubehalten. Ob sie täglich dasselbe essen, dasselbe anziehen, immer dieselbe Serie ansehen oder bestimmte Handlungsabläufe wiederholen – diese Routinen schaffen einen Aspie-Anker in einer sich ständig verändernden Welt (American Psychiatric Association, 2022; Attwood, 2016).

Aspie-Erwartung und Aspie-Realität

Menschen auf dem Autismus-Spektrum leiden häufig an Angststörungen, weil ihre sensible Art und ihre Bedürfnisse mit den Erwartungen und Normen der neurotypischen Außenwelt in Konflikt stehen. Autistische Angstzustände und Burnouts können zu Zurückgezogenheit, Nervenzusammenbrüchen, Zwängen, Depression, Ess- und Schlafstörungen und selbstverletzendem Verhalten führen.
Vor der korrekten Diagnose mit ASD werden viele Betroffene deshalb mit psychischen Störungen wie Zwangsneurosen, bipolarer Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Schizophrenie fehldiagnostiziert.

Das ist vor allem bei Frauen der Fall, da sich die Diagnostik immer noch größtenteils am männlichen Autismus-Stereotyp orientiert. Betroffene Frauen werden regelmäßig mit einer langen Liste an psychischen Störungen diagnostiziert, bei denen es sich jedoch tatsächlich um Autismus-Symptome und -Begleiterscheinungen handelt.
Das Stereotyp des zurückgezogenen Jungen, der wenig bis kaum redet und sich nur mit Zügen oder dem Anordnen von Bauklötzen beschäftigt, trägt dazu bei, dass weibliche Autistinnen durch das Raster fallen.

Frauen wie Ronja werden deshalb im Gegensatz zu männlichen Betroffenen oft sehr spät diagnostiziert. Eine korrekte Diagnose ist jedoch wichtig, um Betroffenen eine angemessene Hilfestellung zu bieten und hilft ihnen darüber hinaus, Selbstvorwürfe und Schamgefühle zu überwinden (Simone, 2010).

„Vor meiner Diagnose habe ich mir immer vorgeworfen, dass ich zu empfindlich, zu peinlich, oder zu faul bin“, erzählt Ronja. „Dabei habe ich einfach unter Sinneseindrücken oder Stresssituationen gelitten, die man üblicherweise nicht kennt.“

Gegen ihre Angststörung hat Ronja einige Zeit Medikamente eingenommen. Eine medikamentöse Behandlung der psychischen Begleiterscheinungen, wie zum Beispiel Depressionen, kann manchmal sinnvoll sein.

Um mit dem generellen Anderssein im Alltag umgehen zu können, hilft es Betroffenen vor allem, eine:n auf Autismus spezialisierte:n Psycholog:in oder Psychotherapeut:in aufzusuchen. Therapie und Behandlung der psychischen Belastung verlieren jedoch an Bedarf, wenn die Betroffenen in einem verständnisvollen und toleranten sozialen Umfeld leben und arbeiten können.
Ronja ist seit ihrer Diagnose in Therapie für Frauen mit Asperger-Syndrom und kann mit ihrer Therapeutin über alltägliche Herausforderungen, speziell für autistische Frauen, sprechen und individuelle Lösungen finden.

Das weibliche Aspie-Verhalten, vor allem im sozialen Bereich, unterscheidet sich häufig vom männlichen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb Frauen viel seltener diagnostiziert werden (Simone, 2010; Attwood, 2016). Die hohen sozialen Erwartungen an junge Mädchen und Frauen machen viele Autistinnen schon früh zu gekonnten Schauspielerinnen und sogenannten „Social-Chameleons“.

Autistische Jungen und Männer haben häufig Probleme, die Mimik ihres Gegenübers zu lesen und Augenkontakt zu halten. Viele können sich häufig nicht in andere Menschen hineinversetzen, haben Schwierigkeiten dabei, ihre Emotionen zu kommunizieren und Freunde zu finden.
Auch weibliche Autistinnen empfinden Stress in zwischenmenschlichen Situationen, doch aufgrund der hohen sozialen Erwartungen lernen sie, Interaktionen zu intellektualisieren, zu analysieren und sich anzupassen.

Manche „Aspergirls“ sind sehr beliebt, weil sie sich geschickt an die soziale Situation und das Gegenüber anpassen. Das Einhalten der sozialen Konventionen, wie Augenkontakt und die korrekte Mimik, sind jedoch keine natürlichen Reaktionen auf das Gegenüber, sondern oft unbewusst antrainiert und zielsicher eingesetzt. Dieses Verhalten wird als Masking bezeichnet und es erfordert viel Energie und großen psychischen Aufwand. Nicht selten muss sich die Betroffene danach zurückziehen, um sich von der Interaktion physisch und psychisch zu erholen (Simone, 2010).

Masking ist ein Phänomen des Autismus

Besonders Autistinnen können sich oft perfekt dem Gegenüber anpassen - dieses Phänomen wird als Masking bezeichnet. Dass sie sich dabei verstellen, merken sie zunächst nicht - doch dieser Prozess kostet viel Kraft. 

Zu Hause gehen viele autistische Frauen, so auch Ronja, anstehende soziale Interaktionen im Geiste durch und überlegen alle möglichen Gesprächsverläufe, um vorbereitet zu sein. Dabei merken die meisten gar nicht, dass dieses Verhalten nicht der Norm entspricht, sie empfinden allerdings starke Erschöpfung durch diesen Aufwand.

„Wenn man sein ganzes Leben nach einem antrainierten Skript lebt und jede:m das vorspielt, was gerade situationsadäquat ist, vergisst man schnell sich selbst und die eigenen Bedürfnisse.“ Ronja fühlt sich häufig wie der Spiegel ihrer Gegenüber. Vor ihrer Diagnose hatte sie kaum Selbstempfinden. „Lange Zeit habe ich nicht gewusst, dass ich schauspielere. Ich wurde einfach automatisch zu der Person, die die Situation und der Gesprächspartner und dessen Bedürfnisse verlangten.“

Wie andere Autist:innen hat auch Ronja durch das Masking eine überdurchschnittlich hohe Empathie. Die Gefühle der anderen werden als die eigenen empfunden und priorisiert. Autistische Frauen werden daher oft zu People Pleasern, die es dem Gegenüber stets recht machen wollen (Simone, 2010).

Dass sie nicht der sozialen Norm entspricht, merkt Ronja, wie viele andere Apies, auch an ihrer Gender-Identität (Furlong, 2021). „Menschen in meiner Community fühlen sich oft von sozialen Konventionen eingeengt, vor allem wenn es für uns keine logische Rechtfertigung dafür gibt“, sagt sie dazu. „Es wird gesagt, Frauen müssen sich schminken und Männer dürfen nicht weinen, aber es gibt keine Begründung dafür. Das frustriert mich.“ Aus diesem Grund kann sie sich nicht mit den binären sozialen Geschlechtern identifizieren.

Supergenie oder einfach anders?

Asperger-Autist:innen weisen häufig einen hohen Grad an fluider Intelligenz auf, die bei der Erkennung von Mustern hilft. Das ist auch der Grund für den stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. „Wenn alle Menschen gleich sind, aber einer anders behandelt wird, zum Beispiel aufgrund des sozialen Geschlechts, fällt uns das stark als Bruch des Musters auf“, erklärt Ronja. „Neurotypische Menschen merken solche Widersprüche oft gar nicht. Vieles, was ihnen schwer fällt, fällt mir sehr leicht. Dafür habe ich umgekehrt Schwierigkeiten mit Situationen, die für Neurotypische zum Alltag gehören.“

Zu Ronjas Stärken gehört auch ihre Fähigkeit, sich lange intensiv mit einer einzigen Tätigkeit auseinanderzusetzen. Der autistische Hyperfokus ermöglicht eine derart konzentrierte Beschäftigung, dass die Betroffenen gänzlich die Umwelt und ihre physischen Bedürfnisse vergessen können. Von dieser autistischen Besonderheit kommen die geläufigen Vorstellungen des obsessiven Autisten.

Aber nicht nur technische oder naturwissenschaftliche Themen können einen autistischen Hyperfokus entfachen. Auch in Hobbies wie Malen oder Basteln, das Recherchieren geschichtlicher Ereignisse, dem Erkunden von fiktionalen Welten und Charakteren, Bands oder Sportarten können Aspies sich verlieren. Vor allem bei Frauen sind die Obsessionen oft sozial akzeptiert und bleiben deshalb als Symptom unerkannt (Simone, 2010).

„Meine Schwester war als Teenager besessen von Johnny Depp“, erzählt Ronja. „Sie hatte alle seine Filme auf DVD und kannte seine ganze Familiengeschichte. Alle Zeitungsartikel, wo er oder sogar nur ein:e Darsteller:in aus einem seiner Filme erwähnt wurde, hat sie ausgeschnitten und aufbewahrt. Das haben natürlich alle als klassischen Mädchen-Schwarm gedeutet.“

Ronja selbst brennt momentan für die Architektur des Jugendstils und bastelt in jeder freien Minute ihre liebsten Fassaden in Papiermodellen nach. „Ich kann oft tagelang nicht schlafen oder mich auf nichts anderes konzentrieren, weil ich nur an meine momentane Leidenschaft denke. Es kann dann leicht passieren, dass ich vergesse zu essen und mich stundenlang nur mit diesem Hobby beschäftige. Meine ganze Wahrnehmung ist dann von dem Hobby eingenommen. Ich erkenne zum Beispiel plötzlich Jugendstil-Musterungen in meinem Kaffeeschaum oder ich bilde mir ein, die Namen bekannter Jugendstil-Architekten irgendwo zu lesen, obwohl dort ein anderes Wort geschrieben steht.“

Was für Autist:innen wie Ronja eine übliche Art der Beschäftigung darstellt, wirkt auf neurotypische Menschen meist sonderbar, aber genial. Dieser Hyperfokus sowie der starke Gerechtigkeitssinn erklären zum Beispiel, wie Greta Thunberg sich seit Jahren unermüdlich mit der Klimakrise auseinandersetzen und für den Umweltschutz kämpfen kann.

kreativer Hyperfokus

Der autistische Hyperfokus ermöglicht die lange und intensive Auseinandersetzung mit einem gewissen Thema.

Zwar haben einige Asperger-Autist:innen tatsächlich einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten, aber die geläufige Auffassung des autistischen Nerd-Genies beruht hauptsächlich auf den sichtbaren Unterschieden zu dem neurotypischen Gegenüber (Attwood, 2016).

Ein introvertierter Aspie mit sensiblem Geruch, der jede Zutat eines Parfüms riechen kann, allerdings Schwierigkeiten hat, mit anderen auf Parties Small-Talk zu führen und ein besonderes Interesse und Wissen zur Sprache der Delfine hat, sticht innerhalb seiner Community nicht heraus. Auf die neurotypische Umwelt wirkt er jedoch schrullig, seltsam und brillant.

„Die wahre autistische Superkraft”, findet Ronja „ist, dass wir uns jeden Tag in einer Welt herumschlagen, die nicht für uns gemacht ist.“ Die Studentin wünscht sich, dass die Wissenschaft in der Autismus-Forschung weiter voranschreitet und so hilft, gefährliche Stigmata und Klischees in der Psychologie und der Gesellschaft zu entkräften, damit neurodiversen Menschen mit mehr Toleranz und Verständnis begegnet wird.

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