Flagge der Ukraine

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 kursieren in den Medien viele Falschinformationen oder Behauptungen über die Ukraine, die verkürzt und im falschen Kontext dargestellt werden. alexandria hat drei solcher Behauptungen - den Rechtsextremismus, die angebliche Diskriminierung der russischen Bevölkerung und die Korruption - genauer analysiert. 

Kriege finden nicht bloß auf dem Schlachtfeld statt, sondern auch in der Informationssphäre von Medien und Internet. Das gilt auch für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Russland investiert viel Geld und Ressourcen in Informationskampagnen, um das Narrativ über das Kriegsgeschehen zu beherrschen. In der EU fällt sie damit auf fruchtbaren Boden, wie Dietmar Pichler vom Zentrum für Digitale Medienkompetenz meint. Versuche, die russische Propagandamaschine zu kontern, finden erst in letzter Zeit statt (etwa mit dem von der EU aufgebauten Medienportal "EUvsDisinfo"). Zahlen und Fakten sowie kontextuelle Einordnungen gehen in so einem Informationskrieg schnell verloren.
alexandria hat drei Behauptungen genauer untersucht, die für eine bessere Einschätzung des Konflikts eine wichtige Rolle spielen.

1. Sind neo-nationalsozialistische &
rechtsextreme Bewegungen in der Ukraine
stark ausgeprägt?

Die „Denazifizierung“ der Ukraine war das von Wladimir Putin ausgerufene Ziel des Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Doch die Fakten sprechen ein klares Bild: Rechtsextremistische und neo-nationalsozialistische Tendenzen sind in der Ukraine nicht besonders ausgeprägt.

Die Maidan-Proteste 2014 versammelten all jene Menschen, die gegen die Politik des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch protestierten. Dazu gehörten auch kleinere, rechtsextreme Gruppierungen, die in ihrer nationalistischen Ausrichtung die pro-russische Politik des Präsidenten ablehnten. Die Medien zeigten damals gerne Bilder von vermummten und militant gekleideten Demonstranten. Doch wie einflussreich sind diese Gruppen tatsächlich?

Die beiden größten als rechtsextrem eingestufte Parteien der Ukraine sind Swoboda (dt. Freiheit) und der Prawyj Sektor (dt. Rechter Sektor). Die Partei Swoboda existiert seit 1991 und kämpft nach eigener Aussage gegen den russischen Imperialismus. Die Partei sieht den umstrittenen ukrainischen Freiheitskämpfer Stepan Bandera als Vorbild, der während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis gegen die Sowjetunion kollaborierte.
Der Rechte Sektor ist jünger. Die Partei gab verschiedenen rechtsextremen, paramilitärischen Gruppen, die während der Maidan-Proteste in Kontakt kamen, ein politisches Zuhause.

Während beide Parteien für sich beanspruchen, eine wichtige Rolle bei den Maidan-Protesten gespielt zu haben, halten das diverse Politikwissenschaflter:innen für eine starke Übertreibung. So meinte der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland in einem Interview mit DW, dass der Einfluss dieser Parteien in den Medien überbewertet wurde und wird.

Die Zahlen bekräftigen dies: Bei der Präsidentschaftswahl 2014, also nach Janukowytschs Absetzung, erzielte der Parteivorsitzende von Swoboda, Oleh Tjahnybok, 1,16 Prozent; der Anführer des rechten Sektors, Dymtro Janosch, erzielte gar nur 0,7 Prozent.
Bei den vergangenen Parlamentswahlen 2019 erreichte Sowobda in einem Bündnis mit anderen rechten Parteien bloß 2,4 Prozent und scheiterte an der 5-Prozent-Hürde, verpasste also den Einzug ins Parlament. Der Rechte Sektor erhielt noch weniger Stimmen.
Ein Grund für das schlechte Abschneiden wird u.a. in der EU-ablehnenden Haltung der Parteien gesehen.

Die Zahlen zeigen also, dass die rechtsextremen Parteien in der Ukraine kaum Zustimmung in der Bevölkerung finden. Doch wie steht es mit Antisemitismus in der Gesellschaft?
In einer Diskussion nach den Maidan-Protesten 2014 erklärten Josef Zissels, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen in der Ukraine, und Viacheslav Likhachev, Historiker und Rechtsradikalismus-Forscher, dass der Antisemitismus in der Ukraine seit 2006 konstant rückläufig sei.

FAZIT: In der Ukraine lassen sich, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, rechtsextreme, neo-nazistische Parteien finden, die in ihrer Rhetorik teilweise dem Faschismus nahestehen.
Doch für die Behauptung, diese Parteien seien einflussreicher als anderswo und würden eine wichtige Rolle in Politik und Gesellschaft spielen, gibt es keine Grundlage. Genauso wenig für die Behauptung, in der Ukraine herrsche ein starker Antisemitismus, wie auch Avraham Wolff, der Oberrabbiner von Odessa, in einem Interview mit dem Standard bekräftigte.
Vielmehr gehört diese Erzählung zu einer russischen Propaganda, die ukrainische Politik delegitimieren und den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine legitimieren will.

2. Werden russische Minderheiten in der Ukraine
diskriminiert?

Eine Behauptung, die Russland gerne mit dem Rechtsextremismus-Narrativ (sh. Punkt 1) verbindet, lautet, dass russischsprachige Menschen in der Ukraine der Diskriminierung ausgesetzt seien. Besonders im Osten des Landes, in den derzeit besetzten Regionen Donbass und Luhansk, leben viele russischsprachige Menschen. Was ist also dran an dem Vorwurf? Werden sie tatsächlich diskriminiert?

Zunächst muss man festhalten, dass in der Ukraine sprachliche und nationale Identität nicht zwingend übereinstimmen müssen. Nur weil Ukrainer:innen Russisch sprechen, bedeutet das nicht, dass sie sich auch als Russ:innen betrachten. Eine Studie aus dem Jahre 2013 zeigte, dass sich nicht nur 90 Prozent aller Befragten (unabhängig von ihrer Erstsprache) im ukrainischen Westen und der Mitte des Landes als Ukrainer:innen betrachteten, sondern auch über 70 Prozent im Osten und Süden – also in Gebieten, in denen überwiegend Russisch gesprochen wird.

Der ukrainische Psychologe Vadym Vasiutynskyi fragte mehr als 1.300 russischsprechende Einwohner:innen von Kyiv, Luhansk, Odessa und Simferopol danach, wie sie sich selbst einordnen würden. 37 Prozent bezeichneten sich als „Ukrainische Bürger“, weitere 34 Prozent als „russischsprachige Bürger:innen der Ukraine“. Die Sprache stellte also kein Hindernis dar, sich als Ukrainer:in zu identifizieren.

Karte Konflikt Ukraine Russland

Die umkämpften Gebiete in der Ukraine (Stand 15. März 2023) 

Zudem ist Russisch die Erstsprache einiger hochrangiger Politiker:innen, etwa von der früheren Premierministerin Juliya Tymoschenko und dem gegenwärtigen Präsidenten Volodymyr Zelenskyy. Dieser Umstand hat die ukrainischen Wähler:innen nicht abgeschreckt und zeigt, dass die Erstsprache nicht im Vordergrund für Wahlentscheidungen steht. Auch in der ukrainischen Armee, die gegen die russischen Invasoren kämpft, finden sich russischsprachige Soldat:innen.

Der ehemalige Präsident Wiktor Janukowytsch erließ 2012 das sogenannte Kivalov-Kolesnychenko-Gesetz, das unter dem Vorwand, regionale Sprachen und Sprachen von Minderheiten zu schützen, an vielen Stellen die russische Sprache anstelle der ukrainischen setzte. 2018 wurde dieses Gesetz als verfassungswidrig eingestuft und 2019 durch ein neues Gesetz ersetzt.
Michael Moser, Professor für Slawistik an der Universität Wien, vermerkte dazu, dieses neue Gesetz sei nicht nur Ausdruck der ukrainischen Zivilbevölkerung (im Gegensatz zu jenem von 2012), sondern etabliere Ukrainisch auch als offizielle Staatssprache. Das sei ein wichtiges Zeichen, denn während der Zeit der Sowjetunion war die ukrainische Sprache verboten und ukrainische Schriftsteller:innen wurden verfolgt und ermordet – das bekannteste Beispiel dafür ist wohl die Erschossene Renaissance.

Doch das Gesetz aus dem Jahre 2019 diskriminiert die russische Sprache nicht. So gibt es in der Ukraine etwa russischen Unterricht und große russischsprachige Medien. 2020 wurde im Fernsehen mehr Russisch als Ukrainisch gesprochen. Einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine, Andrej Kurkow (ein vehementer Kritiker Russlands, dessen Werke in Russland verboten sind), schreibt auf Russisch.

FAZIT: Was ist also dran an der Behauptung Putins, Russland müsse die unterdrückte russischsprachige Bevölkerung der Ukraine mit Waffengewalt beschützen? Wie die Fakten zeigen, nichts.
Es gibt in den Regionen Donetsk und Luhansk durchaus pro-russische Einwohner:innen, doch der Großteil der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine sehen sich selbst als Ukrainer:innen. Belege für eine rechtliche oder gesellschaftliche Diskriminierung des Russischen in der Ukraine lassen sich nicht finden.
Andersherum gilt das nicht: In Russland ist – obwohl es Gesetze gäbe, die Ukrainisch als Sprache anerkennen – Ukrainisch de facto verboten. In den von Russland besetzten Gebieten wird versucht, die ukrainische Sprache aus dem öffentlichen und privaten Leben, also etwa aus Schulen und Medien, zu verdrängen. Etwa eine Million Ukrainer:innen wurden aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland zwangsumgesiedelt, um so jeglichen Kontakt zur ukrainischen Sprache und Kultur zu unterbrechen.

3. Wie korrupt ist die Ukraine wirklich?

Eine weitere Behauptung, die immer wieder auftaucht, lautet: Die Ukraine ist ein korrupter Staat. Dieses Argument dient dazu, Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für die Ukraine als sinnlos darzustellen. Es würde, so das Argument, die Unterstützung ohnehin „versickern“. Doch wie korrupt ist die Ukraine wirklich?

Im Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) der NGO Transparency International liegt die Ukraine auf Platz 116 von 180 (Stand 2022). Dieser Index basiert auf der Einschätzung diverser Expert:innen aus Politik und Gesellschaft, Risikoanalyst:innen und Geschäftsleuten. Diese Platzierung sieht auf den ersten Blick nicht so gut aus. Zum Vergleich: Die ersten drei Länder sind Dänemark, Finnland und Neuseeland. Deutschland liegt auf Platz 9, Österreich auf Platz 22. Russland liegt auf 137. Doch kaum ein anderes Land ist in den letzten zehn Jahren so viele Plätze in dem Ranking nach oben geklettert wie die Ukraine.

Korruption ist in der Ukraine eine Folge der langen sowjetischen Herrschaft. Ein eindrückliches Bild davon gab der Präsidentenpalast ab, den sich Wiktor Janukowytsch während seiner Zeit als Präsident errichten ließ. Diese Korruption war einer der Hauptgründe für die Maidan-Proteste 2014. Die ukrainische Zivilbevölkerung wollte diesen Zustand nicht mehr länger hinnehmen und engagierte sich aktiv für politische Reformen.

Der gegenwärtige Präsident Volodymyr Zelenskyy baute sein Wahlprogramm rund um das Thema Korruption auf. In den letzten Jahren sind einige wichtige Schritte im Kampf gegen Korruption unternommen worden. So wurden das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU), eine Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft und das Hohe Antikorruptionsgericht gegründet.

Korruptionswahrnehmungsindex Ukraine Russland

Im CPI-Ranking hat die Ukraine seit 2012 7 Punkte gut gemacht. Dies ist auf den kontinuierlichen Kampf gegen Korruption zurückzuführen. Im gleichen Zeitraum hat die Korruptionsbekämpfung in Russland stagniert.  

Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine kamen diese Reformen nicht zum Erliegen – im Gegenteil, sie rückten noch stärker in die öffentliche Wahrnehmung. So entließ Zelenskyy Anfang des Jahres einige Politiker, die im Verdacht stehen, Fördergelder veruntreut zu haben. Auch Oligarchen wie Ihor Kolomoisky, einstmals Besitzer der größten ukrainischen Bank PrivatBank und Teilhaber der Ölfirmen Ukrnafta und Ukrtatnafta, sind nicht länger immun gegen die Justiz, wie Hausdurchsuchungen beweisen.
Dabei ist der Fall Kolomoisky besonders bedeutend: Er war Besitzer des Fernsehsenders, in dem Zelenskyy vor seiner politischen Karriere als Comedian auftrat. Für viele Beobachter:innen war es ein wichtiges Zeichen, dass Kolomoisky’s persönliche Bekanntschaft mit dem Präsidenten die Untersuchung nicht verhindern konnte.

Maria Popova, Professorin für Postsowjetische Politik an der kanadischen McGill Universität, sieht diese Entwicklungen positiv. In den letzten Jahren wurden Institutionen geschaffen, mit denen sich Korruption effektiv bekämpfen ließe. Seit Kriegsbeginn sind sie wichtiger denn je. Aus mehreren Gründen: Zum einen muss die Ukraine ihren Partner beweisen, dass militärische und sonstige Güter auch wirklich dorthin kommen, wo sie hinsollen. Zum anderen hat die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft dem Kampf gegen die Korruption neuen Schwung verliehen. Und zuletzt hält sich die Zivilbevölkerung nicht mit Kritik zurück, falls die Regierung bei Korruptionsverdacht nicht ermittelt.
Das NABU kann auf ein Netzwerk aus investigativen Journalist:innen und NGOs zurückgreifen, die sich ebenfalls dem Kampf gegen die Korruption verschrieben haben.

FAZIT: Die Behauptung, die ukrainische Politik sei korrupt, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Doch die Politik und vor allem die Gesellschaft haben Korruption als großes Problem erkannt und sowohl Institutionen wie Infrastruktur – freie Medien und NGO’s – geschaffen, mit denen dieses Problem bekämpft werden kann. Dass selbst während Kriegszeiten Korruptionsfälle verfolgt werden, ist positiv zu bewerten.

- In dem Podcast "Erklär mir die Welt" spricht die Osteuropaexpertin Kerstin Susanne Jobst über die Geschichte der Ukraine
- Die EU hat mit "EUvsDisinfo" eine Medienplattform ins Leben gerufen, die sich v.a. mit russischer Propaganda auseinandersetzt. Hier etwa ist ein Faktcheck über "Zwölf Mythen über den Krieg Russlands in der Ukraine"
- Einen Überblick von den Anfängen des ukrainischen Staates bis in die Gegenwart bietet Historiker Timothy Snyder in dieser sehenswerten Vorlesung "The Making of Modern Ukraine" (englisch)
- "UkraineWorld" ist ein multimediales Projekt, das über verschiedene gesellschaftliche Ereignisse in der Ukraine berichtet (englisch)
- "The Kyiv Independent" ist eine unabhängige Zeitung aus der Ukraine, die auf Englisch über tagesaktuellen Geschehnissen berichtet und einen Newsletter über den Fortgang des Krieges anbietet

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