Nahtoderfahrung Licht am Ende des Tunnels

Dank moderner medizinischer Maßnahmen gelingt es immer öfter, Menschen ins Leben zurückzuholen. Viele, die für einige Minuten bereits als klinisch tot galten und erfolgreich reanimiert wurden, berichten von Nahtoderfahrungen. Bis heute sind die Ursachen dafür unklar. Aktuelle Studien versuchen, eine Antwort zu finden.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des alexandria-Themenschwerpunkts Leben nach dem Tod, in dem wir uns diesem Thema aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven nähern. 

Es ist ein Donnerstag wie jeder andere. Martin S. fährt zu seinem Fußballtraining. Während des Trainings fühlt sich der 27-jährige Team Captain nicht in seiner besten Form. Plötzlich bricht er leblos zusammen. Es werden lebensrettende Sofortmaßnahmen eingeleitet und Martin wird noch an Ort und Stelle erfolgreich reanimiert.

Im Krankenhaus wird der bisher gesunde Patient einer Reihe von Untersuchungen zur Ursachenfindung unterzogen. Bereits dem Notarzt, der die erfolgreiche Reanimation leitet, wird Martin S. von einer seltsamen Erfahrung berichten. Während der Reanimation hatte er das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu schweben und den Rettungskräften bei der Arbeit zuzusehen. Auch die Kompressionen auf seine Brust sowie den Schock des Defibrillators hätte er gespürt. Der Notarzt wird notieren: „Patient hatte eine out-of-body-experience.“

Martin ist nicht allein mit dieser Erfahrung. Seit jeher gibt es Berichte von Menschen, die an der Schwelle zum Tod ähnliche Erfahrungen erlebten. Derzeit wird geschätzt, dass etwa 43 bis 48 Prozent, also knapp die Hälfte aller Erwachsenen, und 85 Prozent aller Kinder, die in Lebensgefahr schwebten, solch eine Nahtoderfahrung machten. (Hashemi et al., 2023)

Es gibt zahlreiche Versuche, für diese Nahtoderfahrungen (englisch: near death experiences, kurz NDE) eine Erklärung zu finden. Während manche in diesen Erfahrungen einen Gottesbeweis sehen, interpretieren andere sie als Halluzinationen aufgrund eines akuten Sauerstoffmangels.
In den letzten Jahren widmeten sich zahlreiche Studien der Beschreibung sowie der Erklärung solcher Nahtoderfahrungen. Neueste Erkenntnisse könnten Hinweise darauf liefern, welche neuropsychologischen Effekte diese Erfahrungen verursachen.

Reanimation

Während der Reanimation haben Patient:innen oft das Gefühl, diese miterleben zu können, obwohl sie nicht bei Bewusstsein sind. Diese out-of-body-experiences könnten mit einer Überfunktion des Gehirns zu tun haben.

Jeder Kultur ihre eigenen Nahtoderfahrungen?

Eine Forschungsgruppe aus dem Iran unter der Leitung von Hashemi Amirhossein durchsuchte in einer systematischen Analyse sämtliche Studien zum Thema Nahtoderfahrung zwischen den Jahren 1980 und 2022.
In den meisten Fällen handelt es sich um Case Reports, also Fallbeschreibungen, einzelner oder mehrerer Individuen, die im Rahmen einer akuten lebensbedrohlichen Situation oder bereits nach einem Herzstillstand eine Nahtoderfahrung erlebten. Die Forschungsgruppe versuchte, die geschilderten Erfahrungen wie das Verlassen des Körpers, die Betrachtung der Welt von außen, Gottesbegegnungen sowie weitere Phänomene zu kategorisieren.

Insgesamt wurden 54 Publikationen auf Gemeinsamkeiten in der Beschreibung der Nahtoderfahrungen analysiert. Es wurden Fallbeschreibungen aus aller Welt und in verschiedenen Sprachen untersucht, um so auch Unterschiede nach religiösem oder ethnischem Hintergrund zu berücksichtigen. Es ließen sich so vier Arten von Nahtoderfahrungen beschreiben.

Am häufigsten wurden übernatürliche Erfahrungen geschildert. Hierzu zählten vor allem das Betrachten des eigenen Körpers und der Geschehnisse von außen sowie das bekannte Zugehen auf ein helles Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels, aber auch die Wahrnehmung, gleichzeitig an verschiedenen Orten zu sein, und das körperlose Überwinden von Türen und Wänden. Dies wird oft von Betroffenen als das Loslösen der Seele vom Körper interpretiert.

Insgesamt tritt diese Erfahrung bei vielen Menschen unabhängig von Herkunft oder religiösem Hintergrund auf. Sowohl von Muslim:innen als auch von Buddhist:innen und Hinduist:innen wird dieses Phänomen beschrieben.

Die zweite große Kategorie machen religiöse Erfahrungen aus. Diese variieren stark nach dem religiösen Glauben der Personen, die eine Nahtoderfahrung erlebten. So begegnen vielen aus der westlichen Welt im Rahmen dieses Tunnels bereits verstorbene Angehörige, während Betroffene aus Thailand ein Treffen mit Yamatoo beschreiben, dem Überbringer des Todes.

Christ:innen berichten von Begegnungen mit Jesus Christus selbst oder mit den Aposteln. Eine weitere Studie unter schiitischen Muslim:innen beschrieb bei vielen ein Zusammentreffen mit schiitischen Imamen.

Allen religiösen Erfahrungen gemeinsam ist eine Verbundenheit mit dem Universum und das Gefühl, ein Teil aller Kreationen zu sein. Die Vorstellung, dass alles verbunden ist und Menschen ein Teil des Gesamten sind, findet sich in vielen unterschiedlichen Weltreligionen wieder.

Als dritte Kategorie beschrieben die Autor:innen kognitive Erfahrungen wie verstärkte Sinne, das Gefühl eines höheren Wissens oder auch den Rückblick auf das gesamte Leben. Insgesamt werden diese Erfahrungen wesentlich deutlicher und lebendiger beschrieben als zum Beispiel Träume. Das eigene Leben zieht an manchen Menschen in Form von Bildern, Filmen oder einzelnen Fragmenten vorüber.

Zusätzlich beschreiben viele Personen sehr starke Emotionen. Meist sind diese friedlich und positiv. Das innere Gefühl des Friedens wird teilweise als so stark beschrieben, dass Betroffene darüber nachdachten, ob sie überhaupt in die bekannte Welt zurückkehren sollen. Es werden jedoch auch negative Emotionen wie Momente in der Hölle oder das Erleben verstörender Erfahrungen beschrieben.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass out-of-body-experiences, das Durchschreiten eines Tunnels sowie verstärkte Sinneswahrnehmungen bei allen Menschen aus allen ethnischen und religiösen Gruppen ähnlich auftreten. Je nach kulturellem Hintergrund werden zusätzlich entweder bereits verstorbene Angehörige oder religiöse Figuren wahrgenommen.
So unterschiedlich Nahtoderfahrungen auch sind: Insgesamt haben wir bis heute keine Erklärung, wie es dazu kommt, sodass oft Antworten in religiösen Ursachen gesucht werden.
Aktuelle Studien versuchen mittels Messung der Hirnströme herauszufinden, ob es eine medizinische Erklärung für diese Erlebnisse gibt.

Die Aktivität von Hirnströmen steigt gegen
Lebensende an 

Eine Studiengruppe (Gang, et al., 2023) hat die Elektroenzephalogramme (EEGs) von vier Patient:innen während des Sterbeprozesses analysiert. Diese Patient:innen waren auf einer Intensivstation nach einem Herzstillstand noch einige Zeit künstlich beatmet worden.
Als die Beatmungsmaschinen schließlich abgedreht wurden, begann der Sterbeprozess. Während des intensivmedizinischen Aufenthaltes wurden die Patient:innen durchgehend mittels EEG überwacht.

Das Elektroenzephalogramm (kurz: EEG) misst elektrische Ströme im Gehirn. Hierfür wird eine Vielzahl an Elektroden am Kopf platziert. Hirnströme unterscheiden sich im Wach- und Schlafzustand und können auch durch einfache Bewegungen, wie das Schließen der Augen, beeinflusst werden.
Bei einem epileptischen Anfall kommt es entweder in bestimmten Bereichen oder im gesamten Gehirn zu unkontrollierten Entladungen der Nervenzellen. Diese pathologischen Hirnströme kann man mittels EEG ableiten und so eine Epilepsie diagnostizieren. Besonders wichtig sind EEGs auch zur Hirntoddiagnostik. Erst wenn keine Hirnströme mehr ableitbar sind und weitere Faktoren zutreffen, darf eine Person für hirntot erklärt und zur Organspende freigegeben werden.

EEG

Ein Elektroenzephalogramm im Einsatz: Mit diesem Gerät können Gehirnströme aufgezeichnet werden. Psychologie Uni Graz)

Bei zwei der Patient:innen, also der Hälfte, kam es ab dem Stopp der Beatmung zu bestimmten Veränderungen im EEG. Diese deuteten auf eine vermehrte Aktivität in manchen Hirnregionen hin. Laut den Autor:innen sind diese Veränderungen verantwortlich für Träume, aber auch für visuelle Halluzinationen und out-of-body-experiences bei Epilepsie-Patient:innen.
So berichten in manchen Studien etwa 6 Prozent der Befragten, während eines epileptischen Anfalls schon einmal subjektiv den eigenen Körper verlassen und sich selbst von außen betrachtet zu haben. (Greyson et al., 2014)

Insgesamt interpretierten die Autor:innen die Veränderungen im Gehirn bei Nahtoderfahrungen nicht als epileptische Anfälle, doch sie konnten dies auch nicht mit Sicherheit ausschließen. Bei der sehr kleinen Untersuchungsgruppe von nur vier Patient:innen zeigten nur zwei die entsprechenden Veränderungen.

Aufgrund der geringen Anzahl an untersuchten Patient:innen kann man keine eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse ableiten. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass es im sterbenden Gehirn durchaus noch zu einem Anstieg der Hirnaktivität kommen kann. Interessant ist auch, dass diese Aktivitäten ähnlich jenen Strömen sind, welche bei out-of-body-experiences im Rahmen eines epileptischen Anfalls auftreten. (Gang et al., 2023)

Eine aktuelle Studie beschäftigte sich mit den Erlebnissen von Patient:innen während einer laufenden Reanimation. Auch hier wurde das EEG als diagnostisches Tool eingesetzt. Es wurden zahlreiche Patient:innen in verschiedenen amerikanischen Krankenhäusern in die Studie eingeschlossen. Während der Reanimation wurde parallel zu der laufenden Herzdruckmassage ein EEG angelegt, um die Hirnströme zu messen. Von zunächst 576 eingeschlossenen Patient:innen überlebten etwa 53 Patient:innen (9,3 Prozent).

Eine langfristige Überlebensrate von etwa 10 Prozent ist die durchschnittliche Erfolgsrate für Reanimationen. Für Interviews zu den Erlebnissen während der Reanimation konnten aufgrund des Gesundheitszustandes nur 28 Patient:innen befragt werden. Elf der Befragten gaben Erinnerungen an die Reanimation an.
So beschrieben sie etwa, die Schockabgaben oder die Thoraxkompressionen gespürt zu haben. Sechs Personen gaben Nahtoderfahrungen an. Auch hier wurden out-of-body-experiences und das Gefühl, nach Hause zurückzukehren, beschrieben. Insgesamt ähneln diese Beschreibungen jenen aus der Studie von Hashemi und seinen Kolleg:innen.

“I could see what was going on [. . .] I stood next to the bed, it was very odd.”

“I remember when I came back and they were putting those two electrodes to my chest, and I remember the shock.”

“I was no longer in my body. I floated without weight or physicality. I was above my body and directly below the ceiling of the intensive therapy room. I observed the scene that was taking place below me ... I, who no longer was the body that had belonged to me just a moment prior, found myself in a position which was ... more elevated. It was a place that had nothing to do with any kind of ... material experience.”

“I remember entering a ... tunnel. The feelings I experienced ... were much more intense than [usual]. The first feeling was a feeling of intense peace. It was so calm and serene with an incredible amount of tranquility. All of my ... worries, thoughts, fears, and opinions were gone. The intensity of the tranquility was so incredible and overwhelming that there was no fear in what I was experiencing. I had no fear about where I was going and what to expect when I arrived there. Then I felt warmth ... Then there was the desire to be home.”

(Beschreibungen von Menschen mit Nahtoderfahrungen)
Licht am Ende des Tunnels

Ein Tunnel, an dessen Ende weißes Licht scheint – so beschreiben viele Menschen das, was sie während ihrer Nahtoderfahrung erlebt haben. Wie es zu diesen Bildern kommt, ist unklar – womöglich spielt die Kultur eine Rolle.

Was zeigen uns die EEGs während der
Reanimation?

Von den 576 gemonitorten Reanimationen konnten 56 EEGs analysiert werden. Es zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Dauer der Reanimation und den abgeleiteten EEG-Strömen.
Während in den ersten 10 Minuten der Reanimation bei 70 Prozent der Patient:innen noch physiologische, also gesunde, Hirnströme gemessen werden konnten, waren es nach einer halben Stunde nur noch 30 Prozent.
Nach einer Stunde laufender Reanimation zeigten etwa 80 Prozent der Patient:innen keinerlei physiologische Hirnströme mehr. Zusätzlich kam es bei 12 bis 24 Prozent aller reanimierten Patient:innen nach etwa 10 Minuten zu epileptogenen Mustern im EEG. (Parnia et al., 2023).

Die Autor:innen interpretieren dies wie folgt: Im Rahmen der Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, bei der man eigentlich ein Einstellen der Hirnfunktion erwarten würde, könnte es zu einer von Sauerstoffmangel bedingten Überaktivität im Gehirn kommen. Eventuell ist hier ein Zusammenhang mit den Nahtoderfahrungen zu suchen. Die genaueren neurophysiologischen Ursachen und deren Auswirkung auf out-of-body-experiences und andere NDE sind jedoch nach wie vor unbekannt.

Die Studie zeigt sehr deutlich, dass normale Gehirnaktivitäten auch während einer langen Reanimation gegeben sind und Patient:innen diese somit durchaus bewusst wahrnehmen können. Ein sensibler Umgang mit den Menschen, um deren Leben man in dieser Notsituation kämpft, ist zwingend notwendig und auch ein klarer Appell der Autor:innen.

Möglicherweise kommt es im Rahmen der Sauerstoffunterversorgung während einer Reanimation zu Entladungen im Gehirn, ähnlich wie bei einem epileptischen Anfall, bevor die Nervenzellen absterben. Aufgrund des derzeitigen Wissensstandes gibt es Hinweise, dass hier eine Verbindung zu Nahtoderfahrungen möglich ist. Für finale Aussagen ist der derzeitige Forschungsstand jedoch eindeutig noch zu gering.

Somit bleiben Nahtoderfahrungen auch weiterhin ein Rätsel der Menschheit, das es zu lösen gilt. Bis es so weit ist, werden die Interpretationsmöglichkeiten von Halluzinationen bis zu Gottesbeweisen nicht abnehmen. Doch nun gibt es erste Hinweise, dass die Erklärung für diese besonderen Erlebnisse in unseren Köpfen zu finden ist.

Dieser Text wurde dankenswerterweise von Die Fehlerwerkstatt Korrektur gelesen.

Hashemi, A., Oroojan, A. A., Rassouli, M., & Ashrafizadeh, H. (2023). Explantation of
     near-death experiences: a systematic analysis of case reports and qualitative research.
     Frontiers of Psychology, 14, 1048929.
Gang, Xu et al. (2023). Surge of neurophysiological coupling and connectivity of gamma
     oscillations in the dying human brain. PNAS, 120(19), e2216268120.
Parnia, S. et al. (2023). AWAreness during REsuscitation - II: A multicenter study of
     consciousness and awareness in cardiac arrest. Resuscitation, 191, 109903.
Greyson, B. et al. (2014). Out-of-body experiences associated with seizures. Front Hum
     Neuroscience, 13
(8), 65.

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