Innenhof der Währingerstraße 17 – Fakultät für Isotopenphysik

Was haben Korallen aus der Karibik, Dürer-Zeichnungen und Schwarzwälder Torfmoor-Kerne in einem niedrigen Innenhofgebäude des 9. Wiener Gemeindebezirks verloren? Direkt hinter der an einen Gemeindebau erinnernden Fassade der Währingerstraße 17 treffen diese und andere teils weitgereiste Materialien ein. Auf den ersten Blick vermutet man gar nicht, womit man es zu tun hat. Es ist dieser Ort, an dem das vielfältige Reich der Isotopenphysik beginnt.

Über einem Teppich von fernem Verkehrsrauschen hört man in diesem kleinen Innenhof nur die leisen Stimmen der Bewohner:innen aus den umliegenden Wohnungen. In dieser Ruhe drücke ich unter den Arkadenbögen des Gebäudeeingangs auf den roten Klingelknopf. Bald öffnet ein Masterstudent die Holztüre und führt mich über einen kleinen, prunkvollen Stiegenaufgang zu einem Büro. Unsere Schritte hallen in dem schmalen, aber hohen Gang nach.

Der Innenhof der Währingerstraße 17 – Fakultät für Isotopenphysik

Der Innenhof der Währingerstraße 17 – Fakultät für Isotopenphysik

Karin Hain begrüßt mich sehr herzlich. Sie ist Assistenzprofessorin für Isotopenphysik an der Universität Wien und Leiterin der gleichnamigen Forschungsgruppe hier im Haus. Sie wird mich durch die Laborräume führen und mir von ihrem vielfältigen Forschungsgebiet erzählen.

Kein Grund zur Panik

Um zu verstehen, womit man es in der Isotopenphysik zu tun hat, muss man wissen, dass einzelne Elemente in der Umwelt in verschiedenen Formen vorkommen können. Die Neutronenanzahl von Atomen des gleichen Elements kann verschieden sein, das Element besitzt mehrere Isotope. Einige dieser Isotope, genannt Radioisotope, sind instabil und zerfallen mit gewisser Halbwertszeit. Das bedeutet, dass man bei Kenntnis des Anteils eines Radioisotops in einem Material zu Beginn eines Zerfallsprozesses, durch späteres „Zählen“ dieses Isotops auf die verstrichene Zeit schließen kann. Die Anzahl der interdisziplinären Anwendungsmöglichkeiten dieser Methode ist groß. Ein prominentes Beispiel ist die Radiokarbonmethode mit der Radioisotope 14C. Abgestorbene Organismen nehmen keinen Kohlenstoff mehr aus der Umwelt auf, daher fällt der 14C Anteil gemäß Zerfallsgesetz ab. In der Archäologie kann somit das Alter von Funden bestimmt werden.

Karin Hains Forschungsschwerpunkt sind Radioisotope, die vom Menschen freigesetzt werden – zum Beispiel aus Kernwaffentests nach dem zweiten Weltkrieg. Die Tests haben die atmosphärische Zusammensetzung hinsichtlich langlebiger Radioisotope deutlich verändert. Der sogenannte Bomb-Peak, also die erhöhte Konzentration dieser Isotope durch die Auswirkung der Tests, ist unter anderem sichtbar, wenn man die unterschiedlichen Ringe oder Schichten von Baumstämmen oder Korallen analysiert. „Das darf nicht wieder passieren, aber die Radionuklide, die nun bereits freigesetzt wurden, kann man wenigstens verwenden, um etwas über unsere Umwelt zu lernen.“, so Hain. Urankonzentrationen im Meer können als Tracer für die Analyse von Meeresströmungen verwendet werden und sind somit hilfreich für die Klimaforschung. Hierbei dient der Bomb-Peak als zeitlicher Fixpunkt. Hain verdeutlicht: „Es sind zwar Radioisotope, aber wir messen keine Radioaktivität“. Die Umweltkonzentrationen sind dafür zu gering.

Generell können solche Datierungsmethoden aus der Isotopenphysik wichtige Informationen für viele andere Forschungsgebiete liefern. Wie genau misst man aber den Anteil eines Isotops in einem Material? Dafür gehen wir wieder hinunter durch das schmale Stiegenhaus. In einem Gang hinter einer Seitentüre stellt Karin Hain unter Piepsen mein Dosimeter ein, ein Gerät zur Messung der Exposition gegenüber Strahlung, das man am Körper trägt. Sie beruhigt: „Im Grunde messen wir hier im Labor sogar weniger Strahlung als draußen.“. Wir gehen durch eine enge, weiße Türe, und ein lautes Brummen ertönt.

Zu Besuch bei VERA

Wir stehen in einem vollen, verwinkelten Raum. Eine lange Bahn mit allerhand Bauteilen, Rohren und Kabeln kurvt zwischen den Wänden umher. In der Mitte sitzt ein fünf Meter großer, horizontaler Zylinder. Hier am Vienna Environmental Research Accelerator, kurz VERA, wird mit Beschleuniger-Massenspektrometrie gearbeitet. Hain erklärt, was das bedeutet: “ Wir verwenden die ganze Anlage als einen großen Filter“. Das Ziel ist es, mit Hilfe von hohen Teilchengeschwindigkeiten am Ende die Konzentration eines gewissen Isotops in einer Materieprobe zu bestimmen.

Wir gehen zum Beginn der langen Bahn, zum Ort, an welchem die Proben in das System eingesetzt werden. Wegen Hochspannung ist der Bereich durch ein blaues Gitter abgegrenzt. Vor dem Einsetzen muss das Probenmaterial chemisch aufbereitet werden. Hain zeigt auf die 40 kleinen Hülsen im Einsatzrad - ich bin verblüfft, wie klein sie sind. „Die sind von einer 14C-Messung. Das sind bloß ein paar Milligramm. So gut muss die Chemie also sein“.

VERA-Anlage

Karin Hain demonstriert das Einsetzen der Proben am zur Reinigung auseinandergebauten Beginn der VERA-Anlage

Nach dem Einsetzen des Probenrads wird das Material negativ ionisiert, also negativ geladen. Grob erklärt funktioniert das durch Beschuss mit positiven Cäsiumatomen - Cäsium deshalb weil dieses Element gerne Elektronen abgibt. Wenn das Probenmaterial auf diese Weise aus der Hülse geschlagen wird, nimmt es mit gewisser Wahrscheinlichkeit zusätzliche Elektronen auf. Bei Elementen wie den Aktiniden, eine Gruppe von schwereren Elementen aus dem Periodensystem zu welcher beispielsweise Uran gehört, liegt die Ionisierungsquote lediglich bei 0,5%. Das ist etwas, dass die Physikerin gerne verbessern würde. Optimierungsbestrebungen wie diese haben auch zum Ziel, die erforderliche Umweltprobengröße zu reduzieren. „Bei der Analyse von Korallen möchte man nur minimal invasiv eingreifen, bei Wasserproben ist zudem der Platz auf dem Forschungsschiff begrenzt.“

Probenrad mit Probenhülsen

Probenrad mit Probenhülsen: Um die einzelnen Hüllen herum sind die Spuren des Cäsium-Beschusses zu sehen

Auch hier in den brummenden Räumlichkeiten des Labors ist der Platz nicht unendlich groß. Wir gehen weiter. Vereinzelt huschen Forscher:innen hin und her, der Ort hat sein eigenes Treiben. „Es ist alles sehr logisch, aber man muss auf vieles achten.“, so Hain. Sie erklärt, dass das laute Brummen durch Vakuumpumpen verursacht wird. „Im Durchschnitt möchten wir erreichen, dass ein Teilchen beim Passieren der gesamten Anlage nur einmal mit einem Gasmolekül zusammenstößt.“

Hier in der Kurve erfolgt die erste Masseselektion, von außen sieht man einen beigen Metallkasten. Mittels starkem Dipolmagnet und elektrischem Feld werden die negativ geladenen Ionen je nach Masse-Ladung-Verhältnis unterschiedlich stark abgelenkt. Der Teilchenstrom wird in diesem Kasten also aufgefächert. Die ausgefilterten Strahlen kann man mit sogenannten Faraday Cups, formmäßig wirklich als Becher vorstellbar, auffangen. Durch den Ionenstrom im Inneren des Bechers verschieben sich Ladungen an seiner Oberfläche, das wiederum kann einem Strommessgerät zur Auswertung zugeführt werden. Bei einem dieser Faraday Cups ist ein Kabel gerissen und wir sehen einen Kollegen, der an der Reparatur arbeitet.

Reparatur Faraday Cup

Ein gerissenes Kabel: Martin Martschini bei der Reparatur eines Faraday-Cups

Für mich ist der Elefant im Raum – größenmäßig ist das wohl nicht ganz verkehrt – die nächste Station: der zylinderförmige Teilchenbeschleuniger. Hierhin schaffen es nur mehr Teilchen mit gewünschter Masse. Die im Inneren des Zylinders generierte Hochspannung wird zwei Mal zum Beschleunigen der Ionen verwendet, deshalb spricht man hier von einem Tandembeschleuniger. Ein großer Vorteil ist das sogenannte Strippergas in der Mitte des Beschleunigers. Der Name ist passend, die negativ geladenen Ionen werden zur Mitte hin angezogen und verlieren bei der Kollision mit dem Gas eine gewisse Anzahl von Elektronen. Das sorgt einerseits für eine Umladung, wodurch die nun positiven Ionen nochmal von der Mitte des Zylinders Richtung Ausgang abgestoßen werden, andererseits werden die Moleküle aufgebrochen, im Optimalfall sogar alle. Am Ende treten dann positiv geladene Atome mit 10 000 km/s aus dem Beschleuniger. Das wäre eine Erdumrundung in vier Sekunden.

Tandembeschleuniger

Der Tandembeschleuniger von VERA

Nicht ganz so schnell schreiten wir vorbei an Kabeln und Monitoren in Richtung Ende der Anlage. Hain erklärt: „Nach dem Teilchenbeschleuniger ist der Aufbau von vorher nochmal dupliziert, nur größer angelegt, weil jetzt natürlich die Energien der Teilchen höher sind.“ Nach der zweiten Masseselektion ist bei leichten Isotopen die Trennung bereits vollständig vollzogen, der gesuchte Isotopenanteil kann durch einen Detektor bestimmt werden. Da bei schwereren Elementen wie den Aktiniden der Masse-Ladung-Verhältnisunterschied kleiner ist, können diese zur genaueren Erfassung nochmal in einen neueren Abschnitt mit einem zusätzlichen Magneten selektiert und zum abschließenden Detektor weitergeleitet werden.

Detektor

Im Detektor werden leichte Isotope erfasst 

„Was wir hier auf der anderen Seite haben, ist etwas ganz anderes.“ Wir bücken uns und klettern unter der Teilchenbahn durch zu einer Abzweigung am Ende der Anlage. Es ist mit VERA auch möglich, einen Protonenstrahl zu produzieren, der auf eine am Ende sitzende Probe geschossen wird. Für die Elementanalytik sitzt die Probe also nicht am Anfang, sondern am Ende der Anlage. Durch diesen Beschuss entsteht charakteristische Röntgenstrahlung, welche Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung der Probe erlaubt. Das wurde bereits für die Analyse von Silberstiftzeichnungen von Albrecht Dürer  angewandt - seinen Namen hätte ich an diesem Ort nicht erwartet.

Wir gehen quer durch die Anlage zurück zum Anfang und betreten einen kleineren Nebenraum, es wird etwas lauter. Hier steht ILIAMS, ein im Haus entwickelter Laser-Aufbau zur Ausfilterung ungewünschter Isotope vor Einspeisung in die restliche Anlage. ILIAMS ermöglicht die empfindliche Messung einiger zusätzlicher Isotope. Das Ziel ist es, mittels Laser richtiger Wellenlänge Elektronen ungewünschter Isotope zu entfernen, diese somit zu neutralisieren und von dem zu untersuchenden Isotop abzuscheiden. Dadurch kann im Voraus schon ausgefiltert werden, was die Erfassung der gesuchten Isotopenkonzentration durch die Anlage erleichtert. Die Interaktion der Probe mit dem Gas in der Anlage kann hier auch ein entscheidender Faktor sein.

ILIAMS

ILIAMS ermöglicht durch Laser-Neutralisierung die Messung zusätzlicher Isotope.             ©Forschungsgruppe Isotopenphysik

Von klein zu groß

Karin Hain erzählt von einem vielversprechenden Kandidaten für ILIAMS: dem Isotop Hafnium-182, welches besonders interessant für die Astrophysik wäre. Die astrophysikalischen Orte und Ereignisse, in denen Elemente schwerer als Eisen entstehen, sind teilweise noch umstritten. Um Erkenntnisse zu gewinnen, taucht man erstmal ab: Tiefseesedimente sind Archive fern vom menschlichen Einfluss. Sie konservieren die Zusammensetzung ihrer Umgebung über Millionen von Jahren hinweg, so auch Daten über kosmische Ereignisse wie Sternexplosionen. Das Element Eisen wird bei Supernovae  freigesetzt. „Für die schweren Aktinide sind Supernovae aber vermutlich nicht der Ort der Entstehung. Das war für mich schon sehr überraschend.“, so Hain. In Frage dafür kommen möglicherweise Neutronensternkollisionen. „Hafnium wäre schon deutlich schwerer als Eisen, aber leichter als die Aktinide“. Mit ILIAMS rückt Hafnium als Marker dieser Ereignisse vielversprechend nahe.

Regal mit Proben

Im Regal befinden sich unterschiedliche Proben, die in die VERA-Anlage eingesetzt werden können

Von den Tiefen der Meere zu Sternexplosionen im All: durch die Diversität der Anwendungsbereiche von VERA reist man an so manche Orte. Ein weiteres Beispiel sind Torfmoore. Wegen der Klimawirksamkeit dieser speziellen Art von Moore erhofft man sich, deren Wasserhaushalt mit geeigneten Radioisotopen analysieren zu können. Karin Hain erinnert sich, wie sie einst im Pürgschachener Moor die Probenentnahme begleitet hat und ihren Gummistiefel verloren hat. Sie erzählt von der Schönheit der Abwechslung in ihrem Fachgebiet. Auch sie muss sich bei den interdisziplinären Kooperationen immer wieder einlesen und hört nicht auf, Neues zu lernen. Ein andermal durfte sie in Australien bei der Bearbeitung eines Eisborkerns erfahren, was Arbeiten in einem begehbaren Kühlschrank, bei -15°C bedeutet.

Die Isotopenphysik erweist sich als vielseitiges Forschungsgebiet. Wir verlassen das Labor und es ist wieder stiller. In dem hallenden, schmalen Gang verabschiede ich mich von Frau Hain. Draußen im Innenhof angekommen, wird es bereits dunkel. Die Geräuschkulisse der Währingerstraße ersetzt das Brummen der Vakuumpumpen. Ich bin erstaunt, in welche Größen einen die Reise ins Kleinste führen kann. Kaum zu glauben, was für Spuren sich durch VERA im scheinbar Unscheinbaren entdecken lassen. Es ist wohl so, dass nicht nur wir Menschen ein Gedächtnis haben.

Video der Uni Wien gemeinsam mit Science Animated, das erklärt, wie Beschleuniger-Massenspektrometrie und ILIAMS an der Universität Wien funktionieren und welche Anwendungen es gibt. 

Webpage der Forschungsgruppe Isotopenphysik

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