Multifunktionslarven der Mehlwürmer in Händen der Wissenschaftlerin

Die Larven des Mehlwurms sind vielseitig einsetzbar - und bieten eine nachhaltige Alternative zu viele herkömmlichen Produkten. Ein Forschungsprojekt versucht, diese Vielseitigkeit nutzbar zu machen.

Warum das wichtig ist: Die Vereinten Nationen erwarten bis zum Jahr 2050 eine Population von etwa 9,7 Milliarden Menschen auf unserem Planeten (United Nations, 2019) – daher wird auch der Bedarf an Nahrung steigen. Die Nachfrage an tierischen Proteinen wird sich folglich in diesem Zeit-raum um 70 bis 80 % erhöhen (Oonincx & de Boer, 2012). Diese beziehen wir derzeit hauptsächlich aus dem Fleisch konventioneller Nutztiere wie Rinder, Schweine, Hühner und Co., was einen enormen ökologischen Fußabdruck hinterlässt: So werden 70 % der gesamten landwirtschaftlichen Flächen der Erde für die Nutztierhaltung gebraucht. Eine nachhaltige Proteinquelle ist nötig. Eine Möglichkeit: Anthropo-Entomophagie, der Verzehr von Insekten.

Insekten gelten als nachhaltige Alternative zu traditionellen Eiweißquellen und bieten sowohl ökologische als auch ökonomische Vorteile. Weltweit sind ungefähr 2.000 Insektenarten bekannt, die von ungefähr 2 Milliarden Menschen in über 130 Ländern regelmäßig gegessen werden. So sind in Mexiko 500 Insektenarten Teil der traditionellen Ernährung (Ramos Elorduy et al., 2008). Auch in China, Indien, Thailand, Brasilien und in weiten Teilen Afrikas stehen Insekten auf dem Speiseplan. Doch kommerziell werden bislang nur wenige Insektenarten gezüchtet: Beispiele dafür finden sich bei den Käfern (Mehlkäfer, Großer Schwarzkäfer), Zweiflügler, (Schwarze Soldatenfliege, Gewöhnliche Stubenfliege), Heuschrecken und Schmetterlinge (Wachsmotten, Seidenspinner). Eine vielversprechende Art ist der Mehlkäfer, der an der FH JOANNEUM in Graz gezüchtet wird. Das Projekt spi³ (Sustainable Protein: Integrierte Insekten Innovationen; Projektleitung: Simon Berner) erforscht, wie Protein aus den Larven der Mehlkäfer über die gesamte Lebensmittelwertschöpfungskette – von der Produktion der Futtermittel am Acker bis hin zu den Konsumierenden – in Österreich nachhaltig und effizient erzeugt werden kann.

Der Mehlkäfer: Ein Käfer mit vielen Gesichtern

Mehlkäfer (Tenebrio molitor LINNAEUS, 1758) durchlaufen unterschiedliche Stadien: Eier, Larven, Puppen und adulte Käfer. Verarbeitet oder gegessen werden aber nur die Larven, die gemeinhin als „Mehlwürmer“ bezeichnet werden. Anders als es dieser Name vermuten lässt, zählen sie zur Familie der Schwarzkäfer innerhalb der Klasse der Insekten und sind somit keine „Würmer“. Im Gegensatz zu diesen besitzen die Larven der Mehlkäfer sechs gegliederte Beinchen, einen Kopf mit Augen, Antennen und kauenden Mundwerkzeugen und ein chitinhaltiges Außenskelett. Unter optimalen Bedingungen dauert der gesamte Lebenszyklus der Mehlkäfer 75 bis 90 Tage: Ein Weibchen legt im Durchschnitt 200-500 Eier, nach wenigen Tagen schlüpfen die circa zwei Millimeter kleinen, weißen Larven, die sich zwischen 9 und 23 Mal häuten, bis erntefähige Larven entstehen (Ribeiro, 2018). Aus den Larven, die nicht weiter verarbeitet werden, entwickeln sich die nahezu unbeweglichen Puppen, aus denen wiederum nach ungefähr einer Woche die ausgewachsenen Käfer schlüpfen. Mehlkäfer stammen ursprünglich aus dem östlichen Mittelmeerraum, sie sind aber mittlerweile weltweit verbreitet und fühlen sich vor allem in der Nähe menschlicher Behausungen wohl.

Mehlkäfer als nachhaltige Proteinquelle

Im Vergleich zu konventionellen Nutztieren zeichnen sich Mehlkäfer durch höhere Reproduk-tionsraten aus, haben einen geringeren Platzbedarf, eine bessere Futterverwertung und verursachen weniger Treibhausgase (Oonincx & de Boer, 2012). Außerdem ist es bei der Zucht nicht notwendig Chemikalien, Antibiotika oder Hormone zu verwenden. Die Larven bestechen durch sehr gute Nährwerte: Sie haben einen hohen Proteingehalt, besitzen alle für den Menschen essentiellen Aminosäuren, beinhalten viele ungesättigte Fettsäuren und wichtige Mikronährstoffe wie Zink, Magnesium sowie verschiedene Vitamine. Während beispielsweise beim Rind nur etwa 40% des gesamten Tieres gegessen werden, liegt der essbare Anteil der Mehlkäferlarven bei 100%.

Mehlwürmer in verschiedenen Stadien

Abbildung 1: Die verschiedenen Stadien des Mehlkäfers (© Autorin)

Wie werden Mehlkäfer gehalten?

Die Tiere werden an der FH JOANNEUM in einem klimatisierten Raum bei 25 bis 28 Grad Celsius und ungefähr 65-70 % relativer Luftfeuchtigkeit im Dunkeln (der Gattungsname Tenebrio bedeutet „lichtscheue Gestalt“. [lat.]) gehalten. Alle Stadien leben getrennt in ein-fachen Plastikboxen direkt in trockenen Substraten wie Weizenkleie mit Karotten. Sie benötigen kein zusätzliches Wasser und ihre Nahrung ist auch ihr Lebensraum. Eine Herausforderung bei der Zucht stellt die Trennung der einzelnen Stadien dar. Eine Trennung ist notwendig, da Kannibalismus zwischen den Stadien häufig auftritt. Im Rahmen des Projektes spi³ wurde eine Siebmaschine konzipiert und gebaut, die es ermöglicht, die einzelnen Fraktionen Kot, Substrat, Larven und Puppen voneinander zu trennen. Eine Bilderkennungssoftware hilft, männliche von weiblichen Puppen zu unterscheiden. In Zukunft soll ein Roboterarm die Puppen nach Geschlecht trennen, um die Reproduktion zu optimieren.

Der Mehlkäfer ist, was er frisst

Der erste Schritt zur nachhaltigen Produktion tierischer Proteine mit Mehlkäfern stellt die Identifizierung geeigneter Stoffströme zur Fütterung der Tiere dar (Derler et al., 2021). Die Stoffströme sollten in einer bestimmten Quantität vorhanden, regional verfügbar und nicht in Konkurrenz zur menschlichen Ernährung stehen. Auch die juristische Situation muss be-achtet werden: Es sind keine Abfallprodukte (Küchen- oder Speiseabfälle, Fleisch oder Knochenmehl), sondern nur zugelassene Futtermittel erlaubt, denn Mehlkäfer gelten als Nutztiere. Im Zuge des Projektes wurden mittlerweile über 30 unterschiedliche Substrate getestet. Das Menü reichte von Brennnesseln, Hanfpresskuchen, Sägemehl, Kürbiskernpresskuchen, Biertreber, über Stroh, unterschiedlichen Kartoffelsorten, Kaffeesatz bis hin zur steirischen Käferbohne. Einige Stoffe sind sowohl zur Fütterung als auch für die Eiablage geeignet, wie zum Beispiel Bruchmaroni, Malzkeimpellets, Altbackwaren, Maisschleifmehl, Weizenkeime und Süßkartoffeln. Die Käfer können also vielfältig zur Reststoffverwertung bei-tragen.
An der FH JOANNEUM soll nun genauer erforscht werden, wie sich die ernährungsphysiologische Zusammensetzung (Fett- und Aminosäuren) der Larven mit dem Futter ändern kann. Auch der Geschmack der Larven lässt sich mit dem Futter beeinflussen: Larven, die mit Chilis gefüttert wurden, schmecken scharf. Versuche mit Ingwer, Pilzen, diversen Kräutern und Zimt führten ebenso zu interessanten Geschmackswahrnehmungen.

Was passiert mit den geernteten Larven?

Die geernteten Larven werden als Futtermittel oder Lebensmittel verwendet: Beispielsweise sollen Regenbogenforellen, einer der beliebtesten Speisefische Österreichs, der vorwiegend mit Proteinen aus marinen Lebewesen gefüttert wird, zumindest teilweise mit nachhaltig erzeugtem Mehlwurmmehl ernährt werden. Neben ganzen Larven, die entweder blanchiert zum Kochen oder getrocknet als Snack angeboten werden, soll auch bald Mehlwurmmehl im Supermarktregal stehen: Damit lässt sich hervorragend backen und kochen. An der FH JOANNEUM wurden bereits Prototypen von Muffins, Eis, Nudeln, Burger-Patties, Suppenwürfel, Waffeln, Proteindrinks usw. aus den Larven erzeugt. Sind diese erst geschmacklich konkurrenzfähig, soll die Produktion in größerem Maßstab erfolgen.
Mehlkäferlarven sind nicht nur eine nachhaltige Proteinquelle, sie können auf verschiedens-te Weisen genutzt werden: Der Kot kann als wertvoller Pflanzendünger dienen, während mit den in den Larven enthaltenen Ölen Seifen oder sogar Biodiesel (Zheng et al., 2013) herge-stellt werden können. Ein nützlicher Inhaltsstoff der Larven verbirgt sich in ihren Außenpan-zern: das Biopolymer Chitin (Hudson & Jenkins, 2002) wird als Filtermaterial in Kläranlagen verwendet oder kann zu bio-basiertem Kunststoff (Schaumstoffe, Folien, Fasern) weiterver-arbeitet werden. Die Larven sind außerdem in der Lage unterschiedliche Kunststoffe (z.B. Polystyrol) abzubauen und könnten in Zukunft eine wichtige Rolle im biologischen Abbau von Plastik spielen (Peng et al., 2019; Wu et al., 2019; Yang et al., 2015).

An der FH Joanneum arbeiten Wissenschaftler:innen an Mehlwürmern

Abbildung 2: An der FH Joanneum arbeiten Wissenschaftler:innen daran, Mehlwürmer zu einer nachhaltigen Proteinquelle zu machen
 (© Autorin)

Warum essen wir noch keine Larven? Rechtliche Rahmenbedingungen und psychologische Barrieren

Mit der Novel-Food-Verordnung ist es seit dem Jahr 2018 auch innerhalb der EU möglich, insektenbasierte Produkte auf den Markt zu bringen. Ein weiterer wichtiger Meilenstein wurde im Jänner 2021 gelegt: Die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit beurteilte die Mehlkäferlarven als sicher, gibt allerdings etwaige allergische Reaktionen zu bedenken (EFSA, 2021). Ähnliche Proteine, die Allergien gegen Krusten- und Schalentiere oder gegen Milbenkot auslösen können, bieten auch eine erhöhte Gefahr auf essbare Insekten zu reagieren (Barre et al., 2019). Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen gilt es in Europa auch psychologische Barrieren zu überwinden: Der „Ekel-Faktor“ bleibt eine der größten Hürden in unseren Breiten (Jensen & Lieberoth, 2019).
Eine insektenbasierte Ernährung wird in Europa in den nächsten Jahren konventionelle Pro-teinquellen nicht komplett ersetzen können, Insekten bieten allerdings eine spannende Alternative: Probieren Sie die knusprig gerösteten, frisch geernteten Mehlkäferlarven einfach aus.

Andrea Lienhard hat Ökologie und Evolutionsbiologie an der Karl-Franzens-Universität in Graz studiert. Im Rahmen ihres Studiums sowie bei nachfolgenden Projekten an der Universität Graz hat sie sich unter anderem mit der Evolutionsgeschichte von Hornmilben, die Felsspalten in den österreichischen Alpen oder Algenpolster in den Meeren der Karibik bewohnen, mit der Thermoregulation von Bienen und Wespen, dem genetischen Fingerabdruck von Libellen und der Beschreibung neuer Hornmilbenarten in Europa beschäftigt. Seit zwei Jahren ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit der der Zucht von Mehlkäfern an der FH JOANNEUM in Graz betraut.

Barre, A., Pichereaux, C., Velazquez, E., Maudouit, A., Simplicien, M., Garnier, L., Bienvenu, F., Bienvenu, J., Burlet-Schlitz, O., Auriol, C.,
     Benoist, H., & Rougé, P. (2019). Insights into the allergenic potential of the edible yellow mealworm (Tenebrio molitor). Foods, 8(10),
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Derler, H., Lienhard, A., Berner, S., Grasser, M., Posch, A., & Rehorska, R. (2021). Use Them for What They Are Good at: Mealworms in
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