Im Monat Mai geht es bei alexandria um die Frage: Too good to be real? Dafür haben wir uns einige spannende Konzepte und Entwicklungen aus Wirtschaft, Medizin, Politik und Technik herausgesucht, die unser Leben nachhaltig verändern könnten. Sind sie die Zukunft - oder doch „too good to be real"?
Das ist Teil 3 einer Artikel-Reihe in drei Teilen. Hier findest du Teil 1 und hier Teil 2.
Die Klimakrise spitzt sich zu – und Wirtschaftswachstum scheint sie zu befeuern. Daher wollen Post-Wachstum-Ökonom:innen diesen Grundantrieb abstellen, wofür sie weitreichende Reformen fordern.
Im zweiten Teil dieser Artikelreihe sind wir in die Visionen der Degrowth-Unterstützer:innen eingetaucht, wo materielle Werte eine untergeordnete Rolle spielen, während basisdemokratische Bürgerräte darüber bestimmen, welchen Weg die Wirtschaft einschlagen soll.
Doch bereits weniger ambitionierte Veränderungsvorschläge stoßen auf heftigen Widerstand in den Bevölkerungen – und das, obwohl sich ein großer Teil der Menschen stärkeren Klimaschutz wünscht.
Offenbar sind wir trotz besseren Wissens nicht zu den notwendigen Maßnahmen bereit, wenn sie zu drastisch ausfallen. Wie könnten wir in dieser Situation Post-Wachstums-Ökonomien einführen – und haben diese Systeme überhaupt eine realpolitische Chance?
Wolfgang M. Schmitt bezweifelt grundsätzlich die Durchführbarkeit von Degrowth-Systemen: „Diese Konzepte mögen auf Dorf-Ebene klappen, wo man sich noch darüber einig werden kann, was wir nächste Woche brauchen – auf einer nationalen Ebene ist das jedoch unmöglich.“
Schmitt mahnt, nicht zu vergessen, wie global vernetzt die Wirtschaft ist. Ein Post-Wachstums-Land müsse sich daher von der restlichen Welt völlig abschotten, so der Wirtschaftspodcaster.
Wolfgang M. Schmitt analysiert in seinem Podcast "Wohlstand für alle" wirtschaftliche Theorien. Die Umsetzbarkeit von Degrowth-Ansätzen sieht er kritisch - sie sind ihm nicht radikal genug. (© Robert Sakowski)
Vielleicht liegt jedoch gerade darin ein entscheidender Vorteil.
„Es geht darum, Infrastrukturen aufzubauen, die lokal und darum emissionsarm sind, die auch nachbarschaftlich verwaltet sind“, erklärt Ökonomin und Transformationsforscherin Verena Wolf von der Uni Jena. „So kommen wir weg von globalen Abhängigkeiten, die wahnsinnig krisenanfällig sind.“
Man denke nur an die Lieferengpässe für Produkte „Made in China“, die uns während der Corona-Pandemie einmal mehr die Abhängigkeit Europas vor Augen geführt hat.
Strategien für den Wandel
Ohnehin ist für Wolf klar, dass „Degrowth eine große Utopie ist, die realpolitisch nicht von heute auf morgen umsetzbar ist.“ Eine Träumerei sollen Post-Wachstums-Ökonomien aber auch nicht bleiben: Gemeinsam mit Kolleg:innen aus der Post-Wachstums-Community haben Wolf und Livia Regen, ökologische Ökonomin bei Degrowth Vienna, letztes Jahr das Buch „Degrowth & Strategy“ herausgegeben. Der Band sammelt Strategien für verschiedene Bereiche samt konkreter Beispiele, wie der Wandel zumindest eingeleitet werden kann.
Zunächst finden sich im Buch Strategien, die auf lokaler Ebene funktionieren: Ökodörfer, Energiepartnerschaften, aber auch Initiativen, die etwa den Bau einer Flughafenerweiterung blockieren – und Möglichkeiten für das Personal fordern, sich zu klimafreundlichen Berufen umschulen zu lassen.
Doch um der Klimakrise zu begegnen, braucht es systematische Veränderung. Darum fordern die Degrowth-Anhänger:innen etwa, private Banken zu verstaatlichen: Die öffentliche Kontrolle soll der Geldschöpfung, und damit dem Wachstum, Zügel anlegen.
„Und zuletzt gibt es noch Strategien, die konkret gegen Hegemonien und Machtverhältnisse Widerstand leisten, die aber auch Widersprüche aufzeigen“, sagt Wolf.
Ein Beispiel für solche Protestformen seien die vom Boulevard so getauften „Klimakleber“, die auf die ungerechte Bevorzugung von PKWs in Stadt- und Verkehrsplanung hinweisen – also darauf, dass die Gesellschaft Autos eigentlich nicht so viel frische Luft, Ruhe und Platz gönnen sollte. Ganz zu schweigen von den Emissionen, für die der PKW-Verkehr verantwortlich ist.
Klimaaktivist:innen kleben sich an Straßen, um den Verkehr lahmzulegen - und sehen in solchen Protestformen Wege, gegen das wirtschaftliche Wachstumsdogma anzukämpfen
„Es gibt aber keine universale Strategie für die Transformation“, gibt Wolf zu bedenken. „Kein Rezept, das in allen Sektoren und Gesellschaftsstrukturen funktioniert.“
Manchen dieser vielfältigen Ansätze kann Schmitt durchaus etwas abgewinnen, dennoch wirken für ihn die verschiedenen Strategien eher unausgegoren – zumal es, so Schmitt, undenkbar sei, dass die Bevölkerung Post-Wachstums-Ökonomien mitträgt. Der Podcaster resümiert: „Degrowth zu realisieren ist geradezu unmöglich. Wünschenswert ist es wahrscheinlich auch nicht.“
Für Ökonomin und Transformationsforscherin Verena Wolf gelingt Degrowth nicht von heute auf morgen. Es braucht Strategien, die sowohl auf lokaler als auch systematischer Ebene Veränderungen herbeiführen.
Grünes Wachstum?
Nun könnte es manche Leser:innen ohnehin seltsam vorkommen, dem Wirtschaftswachstum Fesseln anlegen zu wollen: Geben nicht sogar die Befürworter:innen von Degrowth zu, dass Wachstum nötig ist, um etwa die grünen Technologien zu entwickeln, die uns in Zukunft mit Energie versorgen und von A nach B bringen sollen? Wäre es nicht klüger, die vielbeschworene Innovationskraft des Kapitalismus auszunutzen, ihn aber mit strengen Regulierungen auf eine klimagerechte Welt auszurichten?
„Das ist das Paradigma der Industriepolitik“, sagt Schmitt. „Über Weichenstellungen in Form von Verboten oder Regulation, aber auch über die CO2-Bepreisung, wird die Wirtschaft in eine klimafreundlichere oder klimaneutrale Richtung gelenkt. Das muss nicht mit Wohlstandseinbußen einhergehen, immerhin gibt es bei grünen Technologien wie den Erneuerbaren Möglichkeiten, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.“
In diesem Bereich gehen die USA mit Riesenschritten voran, die EU versucht mit dem „Green Deal“ nachzuziehen.
Schmitt schränkt jedoch ein: „Diese Idee hat Grenzen, denn der Kapitalismus will nicht Probleme wie die Klimakrise lösen, sondern Profit machen – löst aber auf diesem Wege oft Probleme.“
Im Zweifel überwiegen also die kurzfristigen Interessen von Wirtschaftstreibenden, die über Lobbyismus starken Einfluss auf die Politik ausüben
Für Degrowth-Vertreter:innen sind solche Pläne ohnehin nur ein Versuch, das alte System über die Krise zu retten, wie Livia Regen sagt: „Man produziert dann halt anstatt von PKWs neue E-Cars.“ Dieses „Weiter so“ sei angesichts der Kopplung von Wachstum und Naturverbrauch zum Scheitern verurteilt.
Ökonomin Livia Regen hat gemeinsam mit Verena Wolf das Buch "Degrowth & Strategy" herausgegeben, worin sich Strategien zur Umsetzung von Degrowth finden. Auf Innovationen der Industrie zu vertrauen, um das Klimaproblem zu lösen, sieht sie kritisch.
Die neue Normalität
Der schöne Geburtstagskuchen angebrannt, der Fußball kurz vorm Tor vom Wind erfasst, die Kurve doch zu eng genommen – wie schon viele Menschen schmerzhaft lernen mussten, sind der Physik unsere Befindlichkeiten egal. So auch bei der Klimakrise: Die Natur setzt uns klare Randbedingungen. Überschreiten wir sie, wird es auf der Erde deutlich unangenehmer, ob wir uns nun auf eine neue Wirtschaftsweise geeinigt haben oder nicht.
Die von der Wissenschaft vorhergesagten Klimaveränderungen stellen viele Wirtschaftszweige vor Herausforderungen: Wer kauft Flüge zu den Malediven, wenn nur noch vereinzelte Sandbänke von diesem Inselparadies übrig sind?
Es sieht so aus, als stehe der Wirtschaft so oder so eine Schrumpfung bevor – wäre es da nicht klüger, schon jetzt vom Wachstum abzurücken und unter kontrollierten Bedingungen zu schrumpfen, anstatt abzuwarten, bis wir frontal gegen planetaren Grenzen prallen? Auch so könnte man für Degrowth argumentieren: Post-Wachstum als Vorsorgestrategie.
„Die Überlegung ist durchaus richtig“, sagt Schmitt. „Wenn wir so weitermachen, und damit meine ich jetzt nicht nur Deutschland oder Österreich, sondern global alle Staaten, dann führt das in eine Katastrophe, die dafür sorgen wird, dass Wohlstand für viele Leute schwindet. Für einige jedoch nicht: Einige werden sich in Gated Communities abschotten können.“
Das klingt stark nach Dystopie, blicken wir uns jedoch um, sehen wir bereits ähnliche Tendenzen: Den EU-Staaten könnte man mit ihren Forderungen nach strengen Außengrenzschutz eine solche Abschottung vorwerfen.
Nötige Anpassungen
Stichwort Dystopie: Angesichts des Tempos, mit dem der Klimawandel fortschreitet, befinden wir uns auf einem straffen Zeitplan punkto weitreichender Veränderungen. Dabei darf es laut Schmitt nicht mehr nur darum gehen, wie wir aus der Klimakrise herauskommen – egal ob Degrowth oder Ökosozialismus den Karren aus dem Dreck ziehen sollen – sondern zunehmend auch um Anpassungen: „Wir sollten so ehrlich sein und uns jetzt national und international über Anpassungsmaßnahmen verständigen.“
Schmitts eigenes Plädoyer für „Klimaanlagen für Alle“ sorgte kürzlich auf einer Klimakonferenz noch für Gelächter – das uns wohl bald im Halse stecken bleiben wird. Die Befürchtung ist jedenfalls groß, dass manche Anpassungsmaßnahmen den Klimawandel weiter vorantreiben – wenn etwa Klimageräte mit Kohlestrom betrieben werden. Dass nicht alle Menschen Zugang zu solchen Technologien haben werden, steht im Übrigen auch fest: Die Chance, in einer womöglich klimaverheerten Welt zu überleben, ist eine Klassen- und Herkunftsfrage.
Muss die Diskussion um die Klimakrise stärker um die Anpassung an sie kreisen? Und werden wir bald alle Klimaanlagen benötigen, um die heißen Sommer auszuhalten?
Die Klimakrise ist ein Problem, das, obwohl menschgemacht, zunehmend unseren Möglichkeiten entgleitet. Doch um zu verzweifeln, fehlt uns die Zeit: Echte Veränderungen müssen her. Post-Wachstum-Ökonom:innen setzen dabei an der Wurzel an, doch drohen sie in die gleiche Wachstums-Fixierung zu verfallen wie die Wirtschaft, die sie reformieren wollen – nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Und während Degrowth-Anhänger:innen zumindest für Systemwandel eintreten, schieben die meisten Menschen die Klimakrise weit von sich weg – solange sie es noch können.
„Die Lage ist zum Verzweifeln“, sagt Regen. „Wir wissen aber, dass das aktuelle System nicht funktioniert. Daher gibt es keine Alternative, als über eine Alternative nachzudenken.“