Auto in Wiese

Kann die Entkopplung der Wirtschaft vom Wachstumsparadigma gelingen? Degrowth sagt ja - und schlägt Alternativen vor. alexandria analysiert die Utopien für eine Post-Wachstums-Ökonomie. 

Im Monat Mai geht es bei alexandria um die Frage: Too good to be real? Dafür haben wir uns einige spannende Konzepte und Entwicklungen aus Wirtschaft, Medizin, Politik und Technik herausgesucht, die unser Leben nachhaltig verändern könnten. Sind sie die Zukunft – oder doch „too good to be real"?

Das ist Teil 2 einer Artikel-Reihe in drei Teilen. Teil 1 kannst du hier lesen.

Teil 2: Die Utopien

Wirtschaftswachstum ist seit Jahrzehnten das oberste Ziel vieler Politiker:innen. Und das nicht ganz überraschend: Einerseits sorgt Wachstum dafür, dass sich Investitionen auszahlen, andererseits wird Wachstum mit Wohlstand gleichgesetzt.
Wie wir in Teil I dieses Artikels gesehen haben, ist diese Gleichsetzung umstritten: Nur zusammen mit resoluter Umverteilung kann Wachstum Menschen aus der Armut heben – doch könnte das nicht auch Umverteilung ohne Wachstum?

Deutlicher ist dagegen der Zusammenhang zwischen Wachstum und Naturverbrauch. Wachstum ist eine Grundvoraussetzung unseres Wirtschaftssystems, wir können es nicht einfach von heute auf morgen abschalten. Daher müssen Degrowth-Anhänger:innen weitreichende Reformen der Wirtschaft, unserer Politik und Gesellschaft entwerfen, die uns vom Zwang des Wachsens wegbringen sollen.

Post-Wachstum beginnt mit einer Frage, so Verena Wolf, Ökonomin und Transformationsforscherin an der Uni Jena: „Wenn wir uns eine Utopie ausmalen müssten, was würde dann dazugehören? Sind es wirklich die zwei SUVs in der Garage? Was macht denn ein erfülltes, gutes Leben aus – im Gegensatz zum Leben, das durch Konsum bestimmt ist?“
Damit wollen Degrowth-Ökonom:innen zunächst einen Wertewandel einleiten: Statt materiellen Reichtum sollen die Menschen etwa Zeit-Wohlstand schätzen lernen.

Eine Abkehr vom Wachstum führe zu weniger Arbeitsdruck, argumentiert Wolf: „Das schafft Zeit für Kreativität und Raum für zwischenmenschliche Beziehungen.“
So gut das klingt, für Wirtschaftspodcaster Wolfgang M. Schmitt ist diese Argumentation anmaßend: „Hier werden eigene Lebensvorstellungen verabsolutiert.“

SUV in Blumenwiese

Was wir brauchen

Menschen haben plurale Lebensentwürfe, die mit vielfältigen Bedürfnissen einhergehen – so weit, so selbstverständlich. Für eine Wirtschaft, die diese stillt, besteht eigentlich keine Notwendigkeit, weiter zu wachsen – auch das leuchtet ein.
Doch wer legt in einer Post-Wachstums-Ökonomie fest, welche Wünsche sich noch erfüllen lassen, welche Sektoren der Wirtschaft ausgebaut und welche einer Schrumpfungskur unterzogen werden?

„Die Idee ist nicht, dass solche Fragen technokratisch von oben entschieden werden, sondern die Bürger:innen möglichst repräsentativ in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen“, erklärt Livia Regen, ökologische Ökonomin bei Degrowth Vienna.
Als Beispiel dafür nennt die Ökonomin Energy Communities, in denen sich Anrainer:innen mit Gemeinden und Stromproduzent:innen zusammentun, um lokal hergestellte Energie zu teilen – wer wann wie viel Strom braucht, entscheiden im besten Fall alle gemeinsam.

„Das Konzept sieht also vor, über Bürgerräte oder Konvente Einigkeit über gewisse Ziele und Politiken herzustellen“, sagt Schmitt. Bedenkt man, wie flexibel solche genossenschaftlich verfassten Kollektive auf Veränderungen reagieren müssten, bedeutet das, „man wäre eigentlich in einen permanenten Konvent eingebunden.“
Nun scheint dies zunächst im schlimmsten Fall unpraktisch, für Schmitt sitzt das Problem aber tiefer: „Die naive Annahme ist, dass über diesen deliberativen Weg ein Volonté Générale entsteht, den alle als vernünftig erachten.“

Energie Community

In einer Energy Community wird gemeinsam über den Energieverbrauch entschieden.

Degrowth oder Sozialismus?

Hier setzt Schmitts Fundamentalkritik ein: „Welche Vorstellung von Demokratie ist das, die völlig ausblendet, dass es in einem kapitalistischen Staat widerstreitende Interessen gibt, nämlich ganz stark die zwischen Kapitalisten und Arbeitern, um die althergebrachten Begriffe zu bemühen. Deren Grundkonflikt kann nicht kommunikativ oder rational gelöst werden, sondern ist dem System eingeschrieben.“
Was Schmitt meint: Da höhere Löhne direkt die Gewinnmarge der Arbeitgeber:innen verringern, können Letztere Lohnerhöhungen nicht befürworten – Arbeitnehmer:innen müssen sie sich erstreiten.

Hört man von Bürgerräten und bedürfnisorientierter Wirtschaft, könnte man den Eindruck gewinnen, Degrowth-Anhänger:innen beschreiben den Sozialismus. Diese Nähe wollen Regen und Wolf nicht verneinen.
„Es gibt Parallelen zum Ökosozialismus. Der Unterschied liegt darin, dass Degrowth sich am Wachstumsprozess aufhängt“, sagt Wolf.
Im Gegensatz zu sozialistischen Vorstellungen wolle Degrowth aber kein vollständiges Gesellschaftssystem entwerfen, so Regen: „Das kann eine Schwäche, aber auch eine Stärke sein.“

Für Schmitt fallen damit Post-Wachstums-Ökonomien hinter den Sozialismus zurück: „Degrowth-Anhänger:innen analysieren die Probleme des kapitalistischen Systems mitunter sehr gut. Das führt aber nicht dazu, dass sie etwa über Vergesellschaftungen von Unternehmen nachdenken und so zu einer sozialistischen Wirtschaft gelangen. Sie glauben stattdessen, sie könnten Hand in Hand mit Unternehmer:innen Ausbeutungsverhältnisse abschaffen – in Wahrheit wollen sie sie nur leicht reformieren.“

Tatsächlich aber können Degrowth-Konzepte drastisch mit der bisherigen Ordnung brechen – und auch Wolf und Regen beziehen sich positiv auf Initiativen, die beispielsweise große Immobilienfirmen verstaatlichen wollen.
Festzuhalten ist: Degrowth-Systeme haben planwirtschaftliche Elemente, doch sie versuchen im Gegensatz zu historischen sozialistischen Beispielen nicht, Parteien die Entscheidungsmacht darüber zu überlassen, was produziert werden darf, sondern durch breitflächige Partizipation die Planwirtschaft demokratisch abzusichern.

Tempolimit 100

Das Tempo 100 auf Autobahnen ist in Österreich ein emotional debattiertes Thema – für die Degrowth-Bewegung eine von vielen Änderungen, die es braucht, um die Klimakrise einzudämmen.

Grünes Schrumpfen

Die wichtigste Frage blieb bisher unbeantwortet: Wäre Degrowth klimafit? Ironischerweise kommt es dabei aufs Wachstum an.
„Es wird Sektoren geben müssen, die weiter wachsen, weil sonst die Energiewende nicht gelingen kann“, erklärt Regen. „Manche Sektoren müssen aber auf jeden Fall schrumpfen – wie die fossile Industrie.“
Auch die Überproduktion von klimaschädlichen Produkten wäre in einer Post-Wachstums-Ökonomie Geschichte – damit könnten erhebliche Mengen an Treibhausgasen eingespart werden.

Das geht freilich mit Verzicht einher: Ob in einer Degrowth-Gesellschaft Billigflüge, Wegwerfmode und Formel-1-Rennen noch selbstverständlich sind, darf stark angezweifelt werden – zumal eine bloße Abkehr vom Wachstum allein wohl nicht ausreicht, um klimaverträglich zu werden.
„Selbst wenn wir in den reichen Ländern nur den Status quo erhalten wollen, wären die Emissionen auf einem zu hohen Niveau“, gibt Schmitt zu bedenken. Bei allem Zeit-Wohlstand stünden uns schmerzhafte Schrumpfungen samt sozialen Spannungen bevor, die abgefedert werden müssten.

Das Problem steckt allgemein im Konjunktiv: Abgesehen von kleinen regionalen Initiativen und Ökodörfern gibt es bislang noch keine Wirtschaftsräume, die sich von der Wachstumsdoktrin verabschiedet haben – ob Degrowth funktioniert, kann empirisch also nicht beurteilt werden.
Und angesichts des gesellschaftlichen Aufruhrs, für den allein die bescheidene Forderung nach der Reduktion des Tempolimits auf Österreichs Autobahnen sorgt, wirkt eine so weitgehende Reform wie die Post-Wachstums-Ökonomie komplett unerreichbar.

Doch in Verzweiflung zu verfallen, gilt nicht: Zu deutlich fordert die eskalierende Klimakrise zeitnahes und entschlossenes Handeln. Daher wird der dritte Teil dieser Artikelreihe untersuchen, mit welchen Strategien die Post-Wachstums-Ökonom:innen ihre Utopien verwirklichen wollen – und wie groß ihre Aussichten auf Erfolg sind.

Dieser Text wurde dankenswerterweise von Die Fehlerwerkstatt Korrektur gelesen.

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