Eine 60-jährige Frau und ihr Neffe im schwedischen Schnee. Ganz aufgeregt führen sie komplizierte physikalische Berechnungen durch. Die Frau hat gerade Versuchsergebnisse aus dem fernen Berlin erhalten: Nach dem Beschuss von Uran mit Neutronen konnte Barium als Spaltprodukt nachgewiesen werden.
So oder so ähnlich könnten die ersten Momente einer bahnbrechenden Entdeckung abgelaufen sein. Es handelt sich dabei um die physikalische Erklärung der Versuche von Otto Hahn und Fritz Straßmann - die Entdeckung der Kernspaltung. Ihre Entdeckerin heißt Lise Meitner.
Kindheit in Wien zu Kaisers Zeiten
Begonnen hat die Geschichte jener Frau, die später einmal von Albert Einstein als die „deutsche Madame Curie“ bezeichnet werden sollte, am 17. November 1878 in Wien. Elise Meitner wurde als drittes von später acht Kindern des Rechtsanwalts Dr. Philipp Meitner und seiner Frau Hedwig geboren (Kerner, 1999). Im Laufe ihres Lebens wurde aus Elise nicht nur Lise Meitner, sie wurde auch zehn Tage älter. Das „E“ und die „1“ verschwanden aus den offiziellen Dokumenten und Lise Meitners Geburtsdatum wurde zum 7. November. So feierte sie schließlich ihren Geburtstag am selben Tag wie die berühmte Marie Curie (Lewin Sime, 2001).
Obwohl in der Familie eine klassische Rollenverteilung herrschte, waren beide Elternteile darauf bedacht, dass nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter eine gute Ausbildung erhielten. Zu jener Zeit war das nicht gerade üblich, in Österreich war Frauen bis Ende des 19. Jahrhunderts der Zugang zu höheren Schulen und Universitätsstudien gesetzlich untersagt (Lewin Sime, 2001).
Lise, die schon als Schulkind Naturphänomene beobachtete und hinterfragte, wollte studieren. Da sie als Mädchen kein Gymnasium besuchen durfte, absolvierte sie zuerst die Volks- und Bürgerschule, um sich dann in Privatkursen auf die sogenannte „externe Matura“ vorzubereiten. Der Vater forderte zur Absicherung ihrer Zukunft, dass sie das Examen als Französisch-Lehrerin an einer „Höheren Töchterschule“ ablegen sollte, unterstützte sie aber ansonsten in ihren Plänen. Auch ihre Schwestern wurden berufstätig, als Komponistin, Ärztin und Chemikerin (Kerner, 1999; Sexl & Hardy, 2002).
Mit fast 23 Jahren wurde Lise Meitner am 11. Juli 1901 das Matura-Zeugnis ausgestellt. Im Oktober desselben Jahres begann Lise das Studium der Physik und Mathematik an der philosophischen Fakultät der k. k. Universität zu Wien. Die Zulassung von Frauen zum Studium in Österreich war erst zwei Jahre zuvor, ab 1899, möglich geworden.
Sofort war Lise fasziniert von der Welt, die sich ihr eröffnete. Sie bewunderte ihre Lehrer, unter anderem der theoretische Physiker Ludwig Boltzmann, die in ihr die Leidenschaft für die Physik entzündeten (Kerner, 1999).
Ab dem 1. Februar 1906 war Lise Meitner eine von vier weiblichen Doktorinnen in Österreich. Auch nach dem Studium war es für Wissenschaftlerinnen nicht leicht, da sie eine Ausnahmeerscheinung darstellten – bisher hatten nur zwei Frauen in Physik promoviert (Lewin Sime, 2001; Kerner, 1999).
Radioaktivität in Berlin
Obwohl schon bald ihre ersten Veröffentlichungen erschienen, wollte Lise weiterlernen und versuchte zunächst bei Madame Curie an der Sorbonne in Paris unterzukommen. Als diese sie jedoch ablehnte, entschied sie nach einem Treffen mit Max Planck für die Forschung über Radioaktivität nach Berlin zu gehen. Plancks Vorlesungen unterschieden sich grundlegend von jenen Boltzmanns in Wien – auf Lise wirkten sie sehr nüchtern und unpersönlich. Doch auch er wurde bald einer ihrer prägendsten Lehrer.
In Berlin traf sie bald nach ihrer Ankunft den jungen Chemiker Otto Hahn, der sofort mit ihr zusammenarbeiten wollte. Beinahe hätte Lises Geschlecht diese - später so erfolgreiche -Zusammenarbeit verhindert. Hahns Institutsleiter stand Frauen in der Wissenschaft sehr skeptisch gegenüber. Die erforderliche Zustimmung zur Zusammenarbeit erteilte er nur unter der Voraussetzung, dass sich Lise Meitner nicht in den Institutsräumen blicken lassen durfte. So kam es dazu, dass die beiden in der sogenannten „Holzwerkstatt“ im Keller mit ihren Experimenten begannen. In der „Holzwerkstatt“ gab es einen separaten Eingang, durch den Lise täglich zur Arbeit erschien. Auch Damentoiletten gab es im ganzen Institut keine. Lise musste dafür in einem benachbarten Wirtshaus Zuflucht suchen (Kerner, 1999).
Erst als 1909 auch in Preußen (als letzter deutscher Staat) Frauen zur Ausbildung an der Universität offiziell zugelassen wurden, durfte Lise Meitner das Chemische Institut offiziell betreten (Rife, 1990).
Für Lise Meitner stand trotz dieser Widrigkeiten nur die Arbeit im Mittelpunkt. Ihre kleine Arbeitsgruppe machte sich bereits in den ersten beiden Jahren einen Namen in der Fachwelt. Beachtliche neun Veröffentlichungen konnte sie vorweisen, alle zum Thema radioaktive Strahlung (Kerner, 1999). Bei einer Tagung in Salzburg lernte Lise Meitner Albert Einstein kennen. Dieser zeigte sich beeindruckt von der 31-jährigen. 1912 wurde sie schließlich Max Plancks wissenschaftliche Assistentin. Während Otto Hahn akademische Anerkennung erhielt und eine gefestigtere Position in der Wissenschaftsgemeinschaft hatte, musste sich Lise bis zu dieser Anstellung ihre Arbeit mit Stipendien finanzieren.
Als sie ein Angebot aus Prag bekam, erkannte man auch in Berlin, was man an Lise Meitner hatte und sie wurde wie Hahn wissenschaftliches Mitglied des Instituts (Kerner, 1999; Rife, 1990).
17.November 1878 Geburt in Wien (laut Geburtsregister der Israelitischen Kultusgemeinde Wien)
1906 Promotion in Physik (als 2. Frau in Österreich)
1907-1917 Forschung am Chemischen Institut der Universität Berlin
1918 Entdeckung des Elements Proactinium (mit Otto Hahn)
1917-1933 Leitung der physikalisch-radioaktiven Abteilung am Kaiser Wilhelm Institut Berlin
1922 Habilitation in Physik (als 2. Frau Deutschlands)
1933 Entzug der Lehrbefugnis durch die Nationalsozialisten
1934-1938 Forschung zur Bestrahlung von Uran mit Neutronen (mit Otto Hahn und Fritz Straßmann)
1938 Flucht aus Deutschland
1938/39 Physikalische Deutung der Kernspaltung (mit Otto Robert Frisch)
1966 Verleihung des Enrico Fermi-Preis (mit Otto Hahn und Fritz Straßmann)
27.Oktober 1968 Tod in Cambridge
Hähnchen, sei still
Im 1. Weltkrieg meldete sich Lise Meitner freiwillig als Röntgenschwester zur österreichischen Armee (Kerner, 1999). Was sie dort zu sehen bekam, erschütterte sie. Schwerer wog für sie allerdings, dass der Krieg ihr die Wissenschaft genommen hatte. 1916 griff die deutsche Heeresleitung für die Forschung zur chemischen Kriegsführung verstärkt auf das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut zurück. So wurde auch Lises und Otto Hahns Labor vom Militär übernommen, was beiden große Sorgen bereitete. Mit fast 38 Jahren beantragte Lise Meitner die Freistellung von ihren Aufgaben in der Armee und kehrte nach Berlin zurück (Rife, 1990).
1918 gelang der Gruppe Meitner-Hahn die Entdeckung des Elements 91, das sie Protactinium nannten. Lise Meitners Aufgabenbereich umfasste die Quantenphysik und deren theoretische Feinheiten, während Hahn für die chemischen Analysen verantwortlich war. In persönlichen Diskussionen über ihre gemeinsame Forschung soll sie bisweilen zu Otto Hahn gesagt haben: „Hähnchen, sei still, von Physik verstehst du nichts.“
Noch im selben Jahr erhielt Lise Meitner eine eigene physikalisch-radioaktive Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut und die Zusammenarbeit mit Otto Hahn ging zu Ende – vorerst (Kerner, 1999; Rife, 1990). Mit 44 Jahren wurde sie als erste Frau Preußens zur Dozentin ernannt (Rennert & Traxler, 2018).
Obwohl sie sich von Politik fernhielt, entgingen Lise Meitner die antisemitischen Strömungen in der Bevölkerung nicht, die auch vor befreundeten Wissenschaftlern, unter anderem Einstein, nicht Halt machte. Ihre eigene Familie war jüdischer Abstammung, lebte diese Religion allerdings nicht aus und alle Meitner-Kinder waren evangelisch getauft worden. Ihre knappe Freizeit widmete Lise Meitner vor allem der Musik. Zeit ihres Lebens galt Lise als eine zurückhaltende Frau. In Gesellschaft ihrer Physiker-Kollegen war sie jedoch stets locker und selbstbewusst. Sie galt als die freundliche Kettenraucherin, die alle am Institut versorgte und umsorgte (Rife, 1990).
In den 1920er Jahren stieg Lises Publikationsrate nicht nur auf etwa zehn Veröffentlichungen pro Jahr, sie erhielt 1924 auch zwei Wissenschaftspreise. Außerdem wurde das Team Hahn-Meitner 1924 und 1925 für den Chemie-Nobelpreis nominiert. Max Planck setzte sich auch in den Jahren von 1929 bis 1934 für die beiden beim Nobelpreiskommitee ein (Rennert & Traxler, 2018; Rife, 1990).
Abbildung 1: Lise Meitner war maßgeblich an der Endteckung der Kernspaltung beteiligt. Eine Entdeckung, die nicht immer in ihrem Sinn genutzt wurde.
Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus
Als Adolf Hitler 1933 die Macht in Berlin ergriff, glaubte die 55-jährige Lise Meitner immer noch daran, dass schließlich doch Vernunft und Ordnung die Oberhand behalten würden (Rife, 1990).
Selbst nachdem schon viele andere Wissenschaftler Deutschland verlassen hatten, blieb Lise Meitner aus Pflichtbewusstsein und bestärkt durch viele Kollegen am Kaiser-Wilhelm-Institut. Doch im September 1933 wurde ihr von den Nationalsozialisten die Lehrbefugnis entzogen. Die Versuche zahlreicher ihrer Kollegen, diese Entscheidung rückgängig zu machen, blieben erfolglos. Im gleichen Jahr diskutierte sie bei der Solvay-Konferenz in Brüssel erstmals die Möglichkeit eines Weggangs aus Berlin nach Kopenhagen mit Niels Bohr. Auf ebendieser Konferenz waren neben ihr nur zwei andere Wissenschaftlerinnen zu Gast, Marie Curie und Irene Joliot-Curie. Alle drei hatten sich durch ihre Expertise, unabhängig von ihrem Geschlecht, einen Namen in der Physik gemacht (Rennert & Traxler, 2018).
Letztere inspirierte Lise zur Suche nach sogenannten Transuranen. Die Forschung an der Kernspaltung führte sie wieder mit Otto Hahn zusammen, diesmal auch mit dem jungen Chemiker Fritz Straßmann. Die beiden Chemiker führten die chemischen Versuche durch, während Lise für die theoretische Physik zuständig war.
Atome mit einer höheren Ordnungszahl als jene von Uran (Nr. 92) werden Transurane genannt. Da die Ordnungszahl abhängig von der Masse ist, sind diese Atome schwerer als Uran. Die meisten Transurane haben eine kurze Halbwertszeit (Zeit, die für den Abbau benötigt wird), sind radioaktiv und in der Natur schwer nachweisbar. Transurane können aus Elementen mit hoher Ordnungszahl hergestellt werden, indem die Atomkerne mit Neutronen oder anderen Atomkernen beschossen werden, die dabei auftretende Kernverschmelzungen ergeben Transurane.
Protactinium ist ein radioaktives Zerfallsprodukt von Uran und kommt in Form von zwei Arten (Isotopen) vor. Das langlebigere von beiden wurde von der Forschungsgruppe Meitner/Hahn 1918 entdeckt.
Trotz der zunehmenden Gewaltakte der Nazis und der Gefahr für jüdische Wissenschaftler wollte Lise bei ihren Kollegen und vor allem bei ihrer Arbeit bleiben. Mit dem Anschluss Österreichs 1938 wurde aus Lise Meitner eine deutsche Jüdin – nun musste sie um ihre Zukunft und ihr Leben fürchten. Zuvor war sie als Österreicherin jüdischer Abstammung aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft vor den antisemitischen Maßnahmen der Nazis weitegehend verschont geblieben (Kerner, 1999; Rife, 1990).
Im Sommer konnte Lise Meitner bereits nicht mehr einfach ins Ausland ausreisen, da sie in ihrem Pass als Jüdin gekennzeichnet war. Ihre Berliner Freunde beschlossen deshalb, sie illegal über die Grenze in Sicherheit zu bringen. Der ursprüngliche Plan, zu Niels Bohr nach Kopenhagen zu gehen, wurde durch die Verweigerung eines Einreisevisums zunichte gemacht (Rennert & Traxler, 2018).
Am 12. Juli 1938 ging Lise wie jeden Morgen ins Institut. Unermüdlich arbeitete sie den ganzen Tag und packte abends nach 8 Uhr ihre Sachen. Nervös und unter größter Vorsicht machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof und schaffte es mit Hilfe von Freunden, einen Zug Richtung Niederlande zu nehmen. Über ihr schwebte beständig die Gefahr, als Jüdin entdeckt zu werden. Doch Lise Meitner gelang die Flucht und sie reist über die Niederlande weiter nach Kopenhagen. Ihr Leben hatte sie gerettet, doch die beruflichen Aussichten waren trotz ihrer Reputation düster. Freunde vermittelten ihr eine Stelle am Nobel-Institut in Stockholm (Kerner, 1999).
Eine bahnbrechende Entdeckung – mit schrecklichen Folgen
Lise Meitner hatte alles verloren: die Heimat, ihre Arbeit in Berlin, ihre Freunde. Ihr Leben, wie sie es kannte, hatte sie im nationalsozialistischen Deutschland zurücklassen müssen (Rennert & Traxler, 2018).
In gedrückter Stimmung und überschattet von den Novemberprogromen 1938 („Reichskristallnacht“) feierte Lise im November ihren 60. Geburtstag in Schweden. Auch die Stelle am Nobel-Institut entsprach nicht Lise Meitners vorheriger Position. Nicht nur, dass ihr Gehalt nur dem eines/er Universitätsassistent:in entsprach, auch die einfachsten Apparate für ihre Arbeit und Mitarbeiter:innen fehlten. Ihr Vorgesetzter Manne Siegbahn war keine große Unterstützung. Weiterhin stand sie in regem brieflichem Kontakt mit Otto Hahn, der ihr auch über die Fortschritte der Experimente in Berlin berichtete. Gegen alle Zeichen der Zeit versuchte Hahn unermüdlich, seiner ehemaligen Kollegin eine sichere Rückkehr nach Berlin zu ermöglichen (Rife, 1990).
Weihnachten 1938 verbrachte Lise Meitner mit einer ihrer wenigen Freundinnen in Schweden. Als dort zeitgleich Lises Neffe Otto Robert Frisch, ebenfalls Physiker, und ein Brief Otto Hahns eintrafen, nahmen die Vorgänge und Überlegungen zur Entdeckung der Kernspaltung ihren Lauf.
Hahn und Straßmann hatten beim Beschuss von Uran mit abgebremsten Neutronen in den Spaltprodukten das Element Barium identifiziert. Nun wollte Hahn Lises physikalische Einschätzung dazu erfahren, da Barium um sehr vieles leichter ist als Uran oder die erwarteten Spaltprodukte. Diese war beeindruckt und schlussfolgerte, dass Barium als Spaltprodukt durchaus in Frage käme (Kerner, 1999). Gemeinsam mit Otto Robert Frisch stellte Lise weitere Berechnungen an. Das Ergebnis war bahnbrechend: Wenn die Spaltprodukte eine geringere Masse hatten als das Uranatom, musste gemäß Einsteins berühmter Formel E=m*c² die freiwerdende Energie zirka 200 Mio. Elektronenvolt betragen. Schließlich veröffentlichten die beiden ihre Arbeit über die Atomspaltung zeitgleich mit dem experimentellen Ergebnissen Hahns und Straßmanns (Kerner, 1999).
Abbildung 2: Bei der Kernspaltung wird ein Atomkern in zwei kleinere (leichtere) Atomkerne gespalten. Dabei wird Energie freigesetzt und die neu entstandenen Stoffe werden als Spaltprodukte bezeichnet. Die Kernspaltung ist nur bei Atomen mit einer großen Atommasse (schwere Atome) möglich. (Quelle: MikeRun - own work)
Zu Beginn des 2. Weltkrieges konnte Lise Meitner keinen rechten Sinn in ihrem Leben finden, da sie sich weder einer Nation und deren Streitkräften anschließen konnte, noch sich in Ruhe ihrer Forschung widmen (Rife, 1990). An ihrer Freundin Elisabeth Schiemann schrieb sie 1939 verzweifelt:
„Die fehlende Arbeit ist ein großer Schmerz, denn es bedeutet das Fehlen jeglichen Sinn in meinem Leben und das Fehlen der besten Hilfe für schwere Zeiten.“ (Lemmerich, 2010, S171)
Doch sie rechnete nicht damit, dass es ihre eigene Forschung sein würde, die ihr den größten Kummer brachte.
Mutter der Atombombe
In der Wissenschaftsgemeinde begannen gleich nach der Entdeckung der Kernspaltung die Überlegungen zu einer Kettenreaktion, um Atomenergie zu gewinnen. Lise selbst bleib weiterhin isoliert im fernen Schweden, als diese Kettenreaktion nicht nur zur Gewinnung von Energie gelang, sondern auch zum Bau einer Bombe.
Am 6. August 1945 fiel die erste Atombombe auf Hiroshima. In der Presse wurde Lise Meitner zur „Mutter der Atombombe“, obwohl sie mit der Entwicklung der Atombombe nicht das Geringste zu tun hatte (Kerner, 1999). Sie selbst befand sich am Tag des Abwurfs am Siljansee. In ihrer Erschütterung wollte sie nicht über das Ereignis sprechen. Trotz des Schocks, wozu ihre Entdeckung weiterentwickelt worden war, hatte sie weiterhin Vertrauen in die Wissenschaft. So wie sie es von ihren Mentoren Planck und Boltzmann gelehrt wurde, glaubte sie an die Notwendigkeit und den höheren Zweck der Wissenschaft, aber auch die soziale Verantwortung, die sie mit sich brachte (Rife, 1990).
In einem Brief an Otto Robert Frisch beschrieb sie 1956 ihre ablehnende Haltung gegen Nuklearwaffen:
„Meine Liebe zur Atomenergie ist durch die Entwicklung der letzten Jahre sehr getrübt worden (…) Natürlich weiß ich, dass es nicht so etwas wie einen bösen Geist der Wissenschaft gibt, nur einen in uns Menschen, der leider sehr kampfkräftig und widerstandsfähig ist.“
(Brief von Lise Meitner an Otto Robert Frisch vom 2. März 1956, Churchill College Cambridge Archive Center, MTNR 5/24)
Im Oktober 1945 wurde Lise Meitner als ausländisches Mitglied in die Königliche Akademie der Wissenschaften Schwedens gewählt. In Amerika hielt sie Vorlesungen an verschiedenen Universitäten, sprach über ihre Arbeit in Schweden und über die Rolle der Frau in der Wissenschaft (Rife, 1990).
Am 10. Dezember 1946 erhielt Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie, für die Entdeckung der Kernspaltung. Lise Meitner würdigte die Königlich Schwedische Akademie jedoch nicht. Sie selbst hegte keinerlei Groll deswegen gegen Hahn und fand die Auszeichnung stets verdient, einzig die unterschiedliche Wahrnehmung der politischen Nachkriegssituation führte zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden. Lise war der Meinung, dass Otto Hahn und seine Kollegen zu wenig Widerstand gegen die Nazis geleistet hätten. Hahn hingegen rechtfertigte sich, immer das möglichste getan zu haben, um bedrohten Menschen, wie auch Lise selbst, zu helfen (Kerner, 1999).
Insgesamt wurde Lise Meitner 48 Mal für den Chemie- oder Physik-Nobelpreis nominiert, gewann jedoch nie (The Nobel Prize, 14.05.2021).
Abbildung 3: Auch Atomkraftwerke funktionieren durch Kernspaltung.
Sie wurde allerdings mit zahlreichen anderen Anerkennungen und Ehrungen bedacht. Gemeinsam mit Hahn erhielt sie die Max-Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und auch mit dem neu geschaffenen Otto-Hahn-Preis wurde sie ausgezeichnet. 1966 erhielten sie, Hahn und Straßmann die höchste Auszeichnung im Bereich der Kernphysik - den Enrico-Fermi-Preis (Sexl & Hardy, 2002; Rife, 1990)
Mit 82 Jahren übersiedelte sie nach Cambridge, wo ihr Bruder Walter und die Familie von Otto Frisch lebten. Am 27. Oktober 1968, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, starb die österreichische Physikerin, der erst ein Jahr zuvor das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst verliehen worden war (Sexl & Hardy, 2002).
Auf eigenen Wunsch wurde Lise Meitner in England neben ihrem Bruder Walter begraben. Auf ihrem Grabstein ist zu lesen: „A physicist who never lost her humantiy“ (deutsch: „Eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor“) (Kerner, 1999).
Victoria Lunz hat an den Universitäten Salzburg und Linz Molekularbiologie studiert und promovierte 2019 an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Das Leben und Wirken von Frauen in der Forschung interessiert sie auch abseits der allseits bekannten Nobelpreisträgerin Marie Curie. So viele großartige Wissenschaftlerinnen sind der Öffentlichkeit nicht in dem Ausmaß bekannt, wie es ihrer Arbeit entsprechen würde. Sie alle können den nächsten Generationen von Wissenschaftler:innen als Vorbild dienen.
Auf LinkedIn ist sie hier zu finden.
Kerner, C. (1999). Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte von Lise Meitner. Beltz Verlag
Lewin Sime, R. (2001). Lise Meinter. Ein Leben für die Physik. Insel Verlag
Lemmerich, J. (2010). Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann; kommentierter Briefwechsel 1911-194. ÖAW
Rennert, D., Traxler, T. (2018). Lise Meitner Pionierin des Atomzeitalters. Residenz Verlag
Rife, P. (1990). Lise Meitner. Ein Leben für die Wissenschaft. Claassen.
Sexl, L., Hardy, A. (2002). Lise Meitner. Rowohlt Taschenbuch Verlag
The Nobel Prize (14. Mai 2021). Nomination Database - Lise Meitner.