Essay Armbruester Postmoderne Titelbild

Ulrich Armbrüster untersucht in seinem Essay den Zusammenhang zwischen Postmoderne und Postfaktizität

Im Zuge der ersten alexandria-Printausgabe "Das erste Mal" haben wir gemeinsam mit dem Blog Future Potentialis einen Essaywettbewerb ins Leben gerufen.
Es liegt in der Natur eines Essays, mitunter von den Regeln und Methoden strengen wissenschaftlichen Arbeitens abzuweichen und Raum zu bieten für Spekulation und literarische Formulierungen. Obwohl das nicht der Arbeitsweise von alexandria entspricht, haben wir uns entschieden, die Essays mit so wenig Eingriffen wie möglich zu publizieren. Entscheidend für die Wahl der Texte durch die unabhängige Jury waren Einfallsreichtum, Innovation und Stilistik der Beiträge. Diesen Eigenschaften möchten wir mit der Veröffentlichung Rechnung tragen.
Die Positionen der Essays entsprechen demnach nicht zwingend der Auffassung der alexandria-Redaktion.

Postmoderne und der Anfang alternativer Fakten

Mit Donald Trump wurden Fake News salonfähig. Alternative Fakten geistern durch Presse und Internet, Verschwörungstheorien reüssieren. All dies sind Kennzeichen für ein postfaktisches Denken. Aber womit nahm dies seinen Anfang? Kommt mit der Postmoderne auch das Postfaktische zum ersten Mal auf und ist es vielleicht sogar ein notwendiges Übel der Postmoderne? Diese Frage soll hier untersucht werden.
Mit seinem Buch Das postmoderne Wissen hat Jean-François Lyotard den Terminus Postmoderne in die philosophische Diskussion eingebracht. Vorher war dieser Begriff schon in Architektur und Kunst bekannt, nun bringt Lyotard damit eine durchaus selbstironische Zuspitzung des „Neo-dies, Neo-das, Post-dieses, Post-jenes“ ins Spiel und gleichzeitig eine Zusammenfassung verschiedener Denkrichtungen von Derrida über Foucault und Levinas bis hin zu Deleuze auf den Punkt. Grundlegend wird die postmoderne Wissenschaft durch Paralogien und Widerstreite gekennzeichnet und läutet somit eine Art Wahrheitskrise ein. Diese Paralogien und Widerstreite, die Kennzeichen einer nicht eindeutigen Wahrheit und notwendig auftretender Risse darin sind, bilden bei Lyotard das Kernstück der philosophischen Postmoderne. Davon soll hier das Postfaktische unterschieden werden, mit dem durchaus Verwechselungsgefahr besteht, da auch Postfaktisches einen Aspekt einer Wahrheitskrise darstellt.

Paralogien

In Das postmoderne Wissen arbeitet Lyotard mit dem Ausdruck der Paralogie – also Unschlüssigkeiten oder Lücken im wissenschaftlichen Diskurs – der das postmoderne Wissen charakterisiert. Die Suche nach Paralogien wird dabei von ihm zur wissenschaftlichen Methode erhoben.
Dies ist nicht nur als wissenschaftstheoretische Aussage zu verstehen. In seinem Artikel „Kurze Bemerkung zur Verwirrung der Vernunft“ erklärt Lyotard seine Verwendung des Ausdrucks Vernunft (raison). Er beschränkt ihn auf den „Umkreis dessen, was seit Galilei Wissenschaft genannt wird“.
Weiter erläutert er:

„Innerhalb dieser Grenze kann man Vernunft das Ensemble der Regeln nennen, die ein Diskurs zu beachten hat, wenn er einen Gegenstand (seinen Referenten) erkennen […] will.“ (Lyotard, 2009)

Die Vernunft liegt also der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie gleichermaßen zugrunde, beide sind somit für Lyotard gleichgesetzt. Objekt seiner Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftstheorie ist der wissenschaftliche Diskurs. Die vermeintliche Sprache dieser Wissenschaft oder Erkenntnis ist die Sprache der axiomatischen Regeln, herrührend von Arithmetik und Geometrie. Darauf basierende Beweise sowie Wiederholbarkeit von Experimenten sind die Grundlagen des positivistischen wissenschaftlichen Diskurses. Viele Bereiche der Forschung wären damit allerdings von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgeschlossen. Lyotard nennt hier beispielsweise die Traumdeutung, ist sich aber darüber im Klaren, dass auch vermeintlich exaktere Wissenschaften wie die Physik oder Mathematik nicht den hohen Ansprüchen an die positivistische Vernunft als Grundlage der Erkenntnis genügen, man denke nur an Gödels Unvollständigkeitssätze oder die lediglich auf Wahrscheinlichkeiten basierende Quantenmechanik. Der Wissenschaftsbetrieb steht hier also auf wackeligen Beinen und ist im Grunde nicht geeignet, eine Erkenntnis in einem strengen Sinne zu erzeugen.
Lyotard fragt nun nach der Möglichkeit der Wissenschaft und den „Regeln der Erkenntnis. Sind sie gegeben, natürlich, notwendig, göttlich?“ (Lyotard, 2009) Ist unsere Vernunft dazu geeignet, die Erzeugung dieser Regeln der Erkenntnis zu deduzieren oder zumindest zu beschreiben, ohne sich in einen Zirkelschluss zu verstricken? Wenn die Vernunft der Wissenschaft zugrunde liegt, kann dann die Wissenschaft die Vernunft erklären? Lyotard geht dabei davon aus, dass die wissenschaftlichen Diskurse in den Regeln eines Sprachspiels (durchaus im Wittgensteinschen Sinne) stattfinden.
Er beobachtet eine Verschiebung von positivistischen Aussagen in Form von wahr/falsch hin zu einer „(pragmatischen) Achse von Sender/Empfänger. Was ich sage, ist wahrer als das, was du sagst, da ich mit dem, was ich sage, ‚mehr machen‘ kann“ (Lyotard, 2009). Das bedeutet, dass die bessere technische oder finanzielle Ausrüstung bessere Erkenntnis erzeugt, und die Vernunft sich in eine „Vernunft des Stärkeren“ (Lyotard, 2009), desjenigen mit besseren finanziellen Mitteln, verwandelt. Der Zustand der Vernunft ist geprägt durch ein Prinzip der Effizienz der Mittel und der Zwecke. Wissenschaftler:innen sind nichts weiter als Wissenschaftsarbeiter:innen. Erkenntnis wird produziert wie Textilien, und hat sich wie die Weber bei Karl Marx den Spielregeln des Kapitalismus zu subsumieren.
Dabei hält Lyotard die Diskurse von Staat und Kapitalismus einerseits und des Wissens andererseits allerdings für inkommensurabel, er spricht bereits von einer „Verwirrung der Vernunft“ und einem „Widerstreit der Vernunft“ (Lyotard, 2009)
Paralogien treten laut Lyotard systematisch auf und torpedieren insbesondere die exakten, vermeintlich widerspruchsfreien Wissenschaften. So bilden sie als Grundlagenkrise ein Kennzeichen für die Postmoderne, das eigentlich Fruchtbare, neue Erkenntnisse Hervorbringende ist die Paralogie, der Dissens, die Lücke, die Unstimmigkeit. Eine genauere, philosophische Begründung liefert Lyotard dann mit „Der Widerstreit“.

Postfaktisch Trump Amrbruester

Abbildung 1: Donald Trump hat Fake News salonfähig gemacht und Verschwörungstheorien immer wieder befeuert. Solche Phänomene zählt man zum Bereich des Postfaktischen, also zu einem Diskurs, in dem es keine Rolle mehr spielt, was wahr ist und was nicht. 

Widerstreit und Diskursarten

Ein Widerstreit (différend) ist für Lyotard im Gegensatz zu einem Rechtsstreit (litige) ein „Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt“ (Lyotard, 1989).
Am Beispiel des Films „Wo die grünen Ameisen träumen“ (Herzog, 1984) wird der Unterschied zwischen einem Widerstreit und Rechtsstreit sehr deutlich (Readings 1991). Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einer Bergbaufirma und den australischen Aborigines. Die Bergbaufirma hat die Grundrechte an einem Stück Land, das für die Aborigines heilig ist, da dort für sie sakrale Gegenstände vergraben liegen. Der Ausdruck Eigentum für dieses Stück Land bildet einen Widerstreit, denn ein Rechtsstreit vor einem Gericht kann die Rechte und Traditionen der Aborigines nicht verstehen oder berücksichtigen. Das Gericht ordnet sogar an, dass die Aborigines ihre Heiligtümer ausgraben mögen, um deren Existenz zu beweisen – ein Ding der Unmöglichkeit gemäß der Traditionen der Aborigines. Es gibt keine Möglichkeit, zwischen den Aborigines und dem australischen Recht zu entscheiden, ohne entweder die Traditionen oder das Recht zu brechen, beide sind vollkommen inkompatibel.
Dem liegt zugrunde, dass die Sprache heterogen ist, und es unterschiedliche Diskursarten gibt, wie beispielsweise „Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren…“ (Lyotard, 1989). Es gibt „keine Sprache [langage] im Allgemeinen, es sei denn als Gegenstand einer Idee“ (Lyotard, 1989). Verschiedene Aussagen und Sätze können also unterschiedlichen Sprachen oder Diskursarten angehören; eine gemeinsame Sprache, die alle Diskurse einschließen würde, gibt es nicht.
Ein Widerstreit entsteht nun dadurch, dass in bestimmten Situationen verschiedene Diskursarten verwendet werden, die nicht unter eine gemeinsame Diskursart subsumiert werden können. Es gibt keine universale Diskursart mit schlichtender Autorität, d.h. verschiedene Diskursarten bleiben inkommensurabel. Ein Rechtsstreit ist prinzipiell entscheidbar, ein Widerstreit nicht.

Widerstreite entstehen zwangsläufig

Es kommt durch die Inkommensurabilität der Diskursarten zu einem Unrecht (tort), etwa durch Nicht-Fortsetzen, Nicht-Aufnehmen oder einen völlig neuen Ansatz – dies ist die notwendige Natur eines Widerstreits. Widerstreite entstehen für Lyotard also zwangsläufig, durch die Natur der Sprache und die Struktur des Wissens.
Das Auftreten eines Widerstreits als notwendig zu charakterisieren, ist eine starke Behauptung Lyotards; er schreibt dem Widerstreit damit quasi einen eigenen Wahrheitsstatus zu. Allerdings bleibt bei ihm die Frage offen, in welcher Diskursart er diese Behauptung der Notwendigkeit denn aufstellen will. Es müsste dann ja auch dazu die Möglichkeit eines Widerstreits geben und somit ein Unrecht entstehen.
Paralogien und Widerstreite sind jedoch durchaus im Zusammenhang zu sehen. Paralogien bilden Beispiele dafür, dass die (dogmatische) Herrschaft der technologischen Wissenschaft Lücken hat und nicht systematisch als Grundlage einer Erkenntnistheorie dienen kann. Sie bilden eine weitere mögliche Grundlage für das Entstehen eines Widerstreits.

Postfaktizität

Im postmodernen Ansatz bei Lyotard ist es also stets möglich, dass sich widersprechende Aussagen in ihrer jeweiligen Diskursart gültig sind. Das öffnet natürlich Tür und Tor für eine postfaktische Mentalität, gekennzeichnet durch Verschwörungstheorien, Fake News oder gezielte Desinformation, in der alles nur noch relativ wahr ist und immer auch das Gegenteil gelten kann!
Eine genauere Analyse von postfaktischen Argumentationen der Kreationisten findet sich im Artikel Latour, Foucault, and Post-Truth: The Role and Function of Critique in the Era of the Truth Crisis (Flatscher/Seitz 2020). Dort stellt sich heraus, dass bis auf isolierte Ausnahmen von den Kreationisten kein Gebrauch von postmodernen Konzepten gemacht wird. Vielmehr werden diese fast durchgehend abgelehnt und stattdessen von positivistischen Ansätzen ausgegangen. Teilweise kommt eine Verwirrung des Ausdrucks Theorie hinzu, die im wissenschaftlichen Kontext (wie beispielsweise der Evolutionstheorie) ein kohärentes Gedankengebäude bezeichnet, von Kreationisten aber als „bloße Theorie“ verstanden wird, die falsifizierbar oder sogar potenziell falsch sei.
Vertreter eines Kreationismus versuchen also, wissenschaftliche Standardmeinungen wie die Evolutionstheorie mit (pseudo-) wissenschaftlichen Mitteln zu falsifizieren, wie beispielsweise im aufschlussreichen Wikipediaartikel „Objections to Evolution“ illustriert wird. Dies scheitert aber dann in offensichtlicher Weise an besseren Argumenten der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
Würden sich postfaktische Ansätze hingegen bei Lyotard bedienen und durch Verwenden einer anderen Diskursart mit alternativen Grundlagenansätzen arbeiten, so wäre einer Verschwörungstheorie durch die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht in wissenschaftlicher Weise beizukommen. Die Lyotardsche Herangehensweise mit verschiedenen, inkommensurablen Diskursarten ist aber nicht das Modell, dass Verschwörungstheoretiker verwenden. Postmodern ist also nicht postfaktisch.

Flatscher, Matthias, and Sergej Seitz. "Latour, Foucault, and Post-Truth: The Role and Function of Critique in the Era of the Truth Crisis."
     Le foucaldien 6, no. 1 (2020): 6, 1–23. DOI: https://doi.org/10.16995/lefou.83
Lyotard, Jean-François : Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Übers. v. Otto Pfersmann. Wien: Passagen 1986.
- Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Übers. v. Dorothea Schmidt unter Mitarb. v. Christine Pries. Wien: Passagen
     2009.
- Der Widerstreit. München: Wilhelm Fink 1989 [franz. Ausgabe: Le Différend. Les Èditions de Minuit 1983].
Herzog, Werner: Wo die grünen Ameisen träumen (engl. Where the Green Ants Dream), Film von 1984.
Readings, Bill: Introducing Lyotard. London: Routledge 1991.

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