Vor einer Gedenkstätte

Die heutige Erinnerungskultur ist historisch betrachtet ein relativ junges Phänomen. In der Antike und im Mittelalter waren das Vergessen traumatischer Ereignisse nicht nur erwünscht, sondern sogar verpflichtend. Wie gelangten wir vom Vergessen zum Erinnern? Und wie viel Vergessen benötigt eine Gesellschaft?

Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. erlebte der griechische Tragiker Phrynichos (540 - 479 v. Chr.) das, was man heute als Cancel Culture bezeichnen würde. Sein Theaterstück „Der Fall von Milet“ wurde von den Behörden verboten und der Dichter musste eine Geldstrafe zahlen. Sein Vergehen? Er hatte es gewagt, an die Zerstörung der Stadt Milet zu erinnern – in einer Zeit, in der das Vergessen nicht nur bevorzugt, sondern regelrecht verordnet war. Der „Vater der Geschichtsschreibung“, Herodot (490/480 - 430/420 v. Chr.), berichtet, dass das Stück das gesamte Publikum zu Tränen rührte. Eine emotionale Reaktion, die man in der damaligen Gesellschaft vermeiden wollte.

Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs leben wir heute in einer gänzlich anderen Erinnerungskultur. Die Imperative des „Nie wieder“ und „Gegen das Vergessen“ prägen den gesellschaftlichen Umgang mit Krieg, Gewalt und insbesondere dem Holocaust. Doch was uns heute als moralisches Gebot erscheint – die Pflicht zum Erinnern – ist historisch betrachtet eine junge Entwicklung.

Vergessen als politisches Instrument

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Über Jahrtausende hinweg war das politisch verordnete Vergessen die bevorzugte Strategie zur Bewältigung von Konflikten. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die „Attische Amnestie" aus dem Jahr 403 v. Chr. Nach einem blutigen Bürgerkrieg und dem Sturz der als „Dreißig Tyrannen“ bekannten Oligarchen, entschlossen sich die Athener zu einer radikalen Maßnahme: dem offiziellen Vergessen aller während des Konflikts begangenen Untaten. Die Tyrannen hatten etwa fünf Prozent der Bevölkerung Athens töten lassen und viele der verbliebenen Bürger in ihre Verbrechen verstrickt. (Meier, 2010; Wolpert, 2002)

Nach ihrem Sturz legte man fest, dass „keinem Bürger vergangenes Unrecht nachgetragen werden soll“ – mit Ausnahme der Tyrannen selbst. Dieses verordnete Nicht-Erinnern wurde nicht nur öffentlich erwartet, sondern auch rechtlich verbindlich gemacht. Der Althistoriker Christian Meier bezeichnete diesen Akt angesichts der vorangegangenen Gewalt als „fast übermenschliche Leistung“. Doch es funktionierte, Athen fand zurück zu einem stabilen Frieden (Meier, 2010).

Die Rachegöttinnen der griechischen Mythologie, die Erinnyen (bei den Römern „Furien“), gelten als „Erinnernde an das Unrecht“ und ruhen nicht, bis Schuldige bestraft werden. An Unrecht zu erinnern, heißt daher auch, Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen. Die Bürger unterhalb des Olymps waren pragmatischer: Um den sozialen Frieden wiederherzustellen, musste ein Schlussstrich gezogen werden. In einer Gesellschaft, in der ehemalige Gegner wieder zusammenleben mussten, durften keine neuerlichen Vorwürfe entstehen oder gar Rache geübt werden. Die schwersten Verbrecher waren von der Amnestie ohnehin ausgenommen. Das soll uns aber kein naives Bild der Menschen damals geben. Sie wussten sehr wohl, dass viel Unrecht ungesühnt blieb, stellten aber den sozialen Frieden über eine mögliche Gerechtigkeit durch Aufarbeitung (Meier, 2010; Wolpert, 2002).

Besucherin der Shoah Gedenkstätte

Eine Besucherin des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin, eine Stätte der
Erinnerung

Roter Faden des Vergessens

Schlussstriche standen hoch im Kurs und zogen sich auch im Mittelalter weiter. Der deutsche Mediävist (Mittelalterforscher) Gerd Althoff (1997) spricht von einer „Kultur der Konfliktbewältigung durch Rituale", bei denen die öffentliche Versöhnung wichtiger war als die Klärung von Schuldfragen.

Ein anschauliches Beispiel bietet einer der bedeutendsten Historiker des Mittelalters, Otto von Freising (1112 – 1158), der die Weisheit des römisch-deutschen Kaisers Friedrich Barbarossas lobt, weil Barbarossa, „zu vergessen weiß, was dem Frieden im Wege steht“. Nach jahrzehntelangen Kämpfen mit oberitalienischen Städten schloss Barbarossa 1183 den Frieden von Konstanz, in dem er ausdrücklich erklärte: „Wir erlassen allen Lombarden alle Beleidigungen und Missetaten, die sie gegen uns oder unsere Getreuen begangen haben“ (Jansen et al., 2011; Gesta Friderici I. imperatoris).

Solche „Oblivionsklauseln" (vom lateinischen „oblivisci" für „vergessen") waren sehr lange fester Bestandteil von Friedensverträgen. Sie sollten einen Neuanfang ermöglichen, indem sie die Verfolgung vergangener Taten ausschlossen. Man wusste: Eine umfassende Ahndung von Kriegsunrecht war oft nicht realisierbar – nicht zuletzt, weil Krieg über Jahrhunderte hinweg zum Alltag gehörte (Meier, 2010).

Dreißig Jahre Krieg vergessen machen?

Die vielleicht beeindruckendste Oblivionsklausel findet sich im Westfälischen Frieden von 1648, der den verheerenden Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) beendete. Nach drei Jahrzehnten religiös und machtpolitisch motivierter Gewalt, die weite Teile Mitteleuropas verwüstet und etwa ein Drittel der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches das Leben gekostet hatte, erklärten die Vertragspartner (das Heilige Römische Reich, Frankreich, Schweden, Spanien und die Niederlande): „Es soll auf beiden Seiten ein immerwährendes Vergessen und eine Amnestie all dessen gelten, was seit Beginn dieser Unruhen […] feindlich unternommen worden ist. Vielmehr sollen alle und jeder Einzelne […] durch Wort, Schrift oder Tat begangene Beleidigungen, Gewalttaten, Feindseligkeiten, Schäden und Kosten vollständig und ohne Ansehen der Person oder der Sache aufgehoben sein, sodass alles, was aus diesem Grund geltend gemacht werden könnte, durch ewiges Vergessen begraben sei“. (Instrumentum Pacis Osnabrugensis, Art. II)

„Sorry Seems to Be the Hardest Word“ weiß nicht nur Elton John, sondern auch die Polis der Antike und Staaten der Neuzeit, denn ein Nicht-Erinnern geht mit einem Nicht-Entschuldigen-Müssen einher. So mussten sich etwa die kaiserlichen Generäle Tilly und Pappenheim nie für die vollständige Zerstörung Magdeburgs 1631 im Zuge des Dreißigjährigen Krieges verantworten – eine Katastrophe solchen Ausmaßes, dass das Verb „magdeburgisieren“ als Synonym für „vollständig vernichten“ in den deutschen Sprachgebrauch einging. Die Einwohnerzahl Magdeburgs sank innerhalb weniger Monate von rund 35.000 auf nur noch 5.000 bis 10.000 Menschen. Das Magdeburger Beispiel zeigt aber auch: Nur weil öffentlich oder rechtlich nicht erinnert wurde, heißt das nicht, dass die Menschen vergessen.

Grenzen des Vergessens

Die Praxis des politisch verordneten Vergessens stieß historisch immer wieder an ihre Grenzen. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann betont, dass auch zivilgesellschaftliche Erinnerungskulturen „von unten“ existieren. Diese bestehen weiter, auch wenn die offizielle Linie auf Amnestie abzielt. Assmann verweist auf nicht-institutionalisierte Erinnerungsformen, die sich in mündlichen Überlieferungen, lokalen Bräuchen und religiösen Praktiken erhalten (Assmann, 2006).

So bewahrten etwa Hugenotten (französische Protestant:innen) in Südfrankreich die Erinnerung an Verfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts in Liedern und Familienüberlieferungen, obwohl offizielle Toleranzedikte ein Vergessen anordneten: „Wir verbieten allen Unseren Untertanen […] die Erinnerung daran aufzufrischen [...] über das, was vergangen ist, [...] vielmehr sollen sie sich friedlich mit einander wie Brüder halten.“
Aber auch in der jüdischen Kultur findet sich eine lange Tradition des Erinnerns. Seit Jahrhunderten kultiviert das Judentum eine intensive Erinnerungskultur, etwa durch das Pessach-Fest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, oder das biblische Gebot „Zachor!" („Erinnere dich!").

Wo das Erinnern beginnt

Der grundlegende Wandel von einer Kultur des Vergessens zu einer Kultur des Erinnerns vollzog sich nicht plötzlich, sondern in einem mehrstufigen Prozess. Mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert und der Demokratisierung europäischer Gesellschaften, veränderte sich die Basis der Kriegserinnerung. Krieg wurde zu einer nationalen Erfahrung.

Der Erste Weltkrieg markiert hier einen entscheidenden Bruch mit der Tradition des Vergessens. Die massenhafte Beteiligung der Zivilbevölkerung und die industrialisierte Kriegsführung führten zu einer neuen Dimension des Gedenkens. Der Versailler Vertrag von 1919 brach endgültig mit der Tradition der Amnestie und führte mit seinem Kriegsschuldartikel (Artikel 231) eine explizite Schuldzuweisung ein. Schuldige waren das Deutsche Reich und seine Unterstützer, „Urheber für alle Verluste und Schäden".

Erinnern, wie wir es kennen

Der eigentliche Durchbruch zur modernen Erinnerungskultur erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. In einem langwierigen Prozess entstand ein neues gesellschaftliches Paradigma: Nicht das Vergessen, sondern das Erinnern wurde zur moralischen Pflicht erklärt.

Dieser Übergang verlief jedoch nicht geradlinig. Die frühe Nachkriegszeit war in vielen Ländern von widersprüchlichen Tendenzen geprägt. In Westdeutschland dominierte zunächst das Bestreben, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen, also zu vergessen – man hatte ja „nichts von dem Geschehenen gewusst“. Erst in den 1960er Jahren, nicht zuletzt durch die sogenannte „68er-Bewegung“, begann eine intensivere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen.

Proteste der 68er für eine Erinnerungskultur

Ein Demozug der 68er, die für die Etablierung einer Erinnerungskultur eintraten

Erinnern oder Vergessen?

Über Jahrtausende hinweg galt Vergessen als Voraussetzung für sozialen Frieden. Erst die jüngere Geschichte – mit den Erfahrungen zweier Weltkriege und dem Holocaust – machte das Erinnern zur gesellschaftlichen Verpflichtung. Heute herrscht der Konsens: Nur wer sich erinnert, kann verhindern, dass sich das Grauen wiederholt.

Doch ist das wirklich so? Haben sich Gräueltaten nicht immer wieder ereignet, trotz Mahnmalen, Gedenktagen und Schulunterricht?
In einer Zeit neuer globaler Konflikte und erstarkender autoritärer Kräfte, die die Geschichte für ihre Zwecke missbrauchen, ist die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Erinnern und Vergessen besonders aktuell. Die Geschichte zeigt, dass sowohl Erinnern als auch Vergessen eine berechtigte Rolle im Umgang mit Gewalt spielen. Die Herausforderung liegt darin, einen Weg zu finden, der sowohl der Wahrheit als auch dem sozialen Frieden dient.

Althoff, G. (1997). Spielregeln der Politik im Mittelalter: Kommunikation in Frieden
     und Fehde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Assmann, A. (2006). Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und
     Geschichtspolitik
. C.H. Beck.
Jansen, K.L., Drell, J. & Andrews, F. (2011). Medieval Italy:
     Texts in Translation
. University of Pennsylvania Press.
Meier, C. (2010). Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns:
     Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.
Siedler Verlag.
Wolpert, A. (2002). Remembering Defeat: Civil War and Civic Memory in Ancient
     Athens
. Johns Hopkins University Press.

Neue Beiträge