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Obwohl die irische Hungersnot über 175 Jahre zurückliegt, zeigen sich noch heute ihre Auswirkungen - unter anderem auch in der psychischen und phyischen Gesundheit der Nachfahren.

Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Was wir (ver)erben, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit dem menschlichen Erbe auseinandersetzen.

Eine Frau, die tot am Straßenrand liegt. Auf der Leiche schläft ihr etwa siebenjähriges Kind. Die Frau ist eines von einer Million Opfer der irischen Hungersnot. Eine solche Szene ist in vielen Gegenden Irlands des Jahres 1847 keine Seltenheit, verhungerte Menschen finden sich entlang der Straßen oder liegen seit Wochen tot in ihren Häusern, angeknabbert von Mäusen und Hunden (Kennedy et al., 2023).

Die „Great Irish Famine“, auf Irisch „An Gorta Mór“ (dt. der Große Hunger) wütete von 1846 bis 1852 in Irland, wobei der nordöstliche Teil der Insel fast unbeschadet davonkam. Insbesondere die Jahre 1846 bis 1847 stellten einen traurigen Höhepunkt dar, da auch England, von dem Irland abhängig war, eine Wirtschaftskrise durchlebte (Ó'Gráda, 2012).

Das Urtrauma der Hungersnot, das eng mit der englischen Kolonisation verbunden wird, schlägt bis heute Wellen in der irischen Gesellschaft. Im Sinne eines kollektiven „Wir“ werden heute alle Iren und Irinnen als Erben und Erbinnen der Hungersnot dargestellt, auch wenn nicht alle gleich schwer betroffen waren und Millionen der tatsächlich Betroffenen keine Nachfahren in Irland hinterließen, sondern in der Emigration. Diese Narrative erleichtert die Weitergabe der irischen Identität zwischen den Generationen (Orjuela, 2021).

Nachwirkungen der irischen Hungersnot finden sich aber nicht nur auf einer ideellen Ebene. Dr. Mubin Syed, der sich besonders mit den Hungersnöten in Südostasien beschäftigt (Indien litt unter englischer Vorherrschaft zwischen 1765 und 1947 an zwölf großen Hungersnöten) betont: „Die Exposition gegenüber einer Hungersnot hat einen generationsübergreifenden Effekt und verursacht Stoffwechselstörungen wie Diabetes, Hyperglykämie und kardiovaskuläre Erkrankungen."

Das Wort „Erbe“ ist ein vielschichtiges, welchem mit der engen Verbindung zu Finanzen fast Unrecht getan wird. Jeder von uns ist Erbe und Erbin immaterieller Werte und historischer Erfahrungen. Ob in Liedern und Gedichten weitergegeben oder schwerwiegender, durch vererbte Krankheiten – Hungersnöte können ein belastendes Erbe hinterlassen. Die Auswirkungen reichen weit über die unmittelbare Notlage hinaus und prägen das Leben nachfolgender Generationen auf komplexe Weise. Das Erbe von Hungersnöten offenbaren die tief verwurzelten Spuren, die solche Katastrophen in den betroffenen Gemeinschaften hinterlassen.

Die letzte große Hungersnot

Mitte des 19. Jahrhunderts stellte die Kartoffel, reich an Nährwerten, das wichtigste Grundnahrungsmittel der irischen Bevölkerung dar. Erwachsene verzehrten bis zu sechs Kilo Kartoffeln am Tag. Die Zerstörung der Kartoffel durch einen über die USA übertragenen Pilz führte zu der letzten großen Hungersnot in der westlichen Welt.

Besonders für die Ärmeren war die Kartoffel das einzige verfügbare Lebensmittel, Mitte des 19. Jahrhunderts war das ein Drittel der acht Millionen Menschen in Irland. 2024 zählt Irland fünf Millionen Einwohner:innen, das Land hat sich von den Verlusten der Hungersnot bis heute nicht erholt. Eine Million kamen durch Hunger und Krankheiten ums Leben, circa zwei Millionen wanderten aus, die meisten nach Nordamerika, viele nach England.

Die irische Bevölkerung verzeichnete aufgrund hoher Sterblichkeit und Auswanderung in sechs Jahren einen demographischen Rückgang von 25 Prozent. Kinder unter zehn Jahren und ältere Menschen über sechzig waren überrepräsentiert unter den Hungertoten – sie machten weniger als ein Drittel der Bevölkerung aus, aber drei Fünftel der Todesfälle (Curran & Fröling, 2010; Ó'Gráda, 2012).

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Hungernde Iren verabschieden sich von ihren Liebsten, die in einem neuen Land ihr Glück suchen.

Leere Mägen, volle Schiffe

Das Ausmaß der Hungersnot liegt nicht allein an den Missernten, sondern ist das Resultat von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umständen.

Seit dem 16. Jahrhundert unter englischer Vorherrschaft lebend, waren irische Bauern und Bäuerinnen hauptsächlich Pächter:innen. Als die Missernten sich mehrten und die Pachtenden keine Mittel mehr hatten, wurden sie von den anglo-irischen Großgrundbesitzern vertrieben und obdachlos, zwischen 250.000 und 500.000 Menschen soll dieses Schicksal getroffen haben.

Die britischen Premierminister dieser Jahre entschieden außerdem, dass die Exporte von Nahrungsmitteln aus Irland nicht gestoppt werden sollten. Während Irland hungerte, wurde Essen aus Irland verkauft. Gepaart wurde dies mit einer laissez-faire Wirtschaftspolitik, staatliche Geldhilfen sollten unbedingt vermieden werden. Einer der Vertreter dieser Politik war der Sekretär des Finanzministeriums, Charles Trevelyan. Trevelyan war ein äußerst gläubiger Mann und der Meinung, dass die Hungersnot eine Bestrafung Irlands von Gott war, und daher sollte man – Gottes Wille geschehe – nicht eingreifen (Ó'Gráda, 2012).

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Schweres Erbe

Die Kinder glichen Skeletten, ihre Gesichtszüge waren durch den Hunger geschärft und ihre Gliedmaßen abgemagert […] und der glückliche Ausdruck der Kindheit war aus ihren Gesichtern verschwunden, zurückgeblieben war der besorgte Blick vorzeitigen Alters,“ so der Eindruck des Quäkers William Forster aus dem Jahre 1846.

Der Blick „vorzeitigen Alters“ ist mehr als eine Metapher, die Langzeitwirkungen von Hungersnöten auf Überlebende und Nachfahren umfassen physische und psychische Dimensionen.

Jahrzehnte bevor der Begriff „Transgenerationales Trauma“ überhaupt existierte, kam 1914 ein Bericht der „Inspectors of Lunatics“, „Inspektoren der Wahnsinnigen“, in Irland zu dem Schluss, dass eine besonders hohe Anzahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Jahren zwischen 1841 und 1851 geboren wurden. Dies korrespondiert mit der überdurchschnittlich hohen Zahl von Einweisungen in den Jahren 1857 bis 1868 in irischen Gemeinden, die besonders stark von der Hungersnot betroffen waren – in weniger bis nicht betroffenen Gemeinden findet sich kein solcher Anstieg (Kelly, 2012).

Nach dem momentanen wissenschaftlichen Stand ist es plausibel anzunehmen, dass Föten im Mutterleib einer von Hunger betroffenen Person ein weitaus höheres Risiko für psychische Krankheiten aufweisen, als jene, die keiner Hungersnot ausgesetzt sind. Besonders gut beobachtet wurde dies anhand der Nachfahren des Niederländischen Hungerwinters von 1944/1945 (ca. 20.000 Menschen verhungerten), wobei die häufigste Krankheit Schizophrenie war.

Weiters wurde festgestellt, dass jene Kinder im weiteren Leben einem höheren Risiko ausgesetzt sind, an Herzkrankheiten und erhöhter Fettleibigkeit zu leiden. Im Falle Irlands wurden die Nachfahren in der US-amerikanischen Emigration zwischen 1850 und 1970 untersucht. Man kam ebenfalls zu dem Schluss, dass ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen über mindestens zwei Generationen nach der Einwanderung nach der Hungersnot bestand. Transgenerationale Auswirkungen sind also möglich, bedürfen aber weiterer Untersuchungen (Kelly, 2012).

Anhaltende Bedrohung

Hungerkatastrophen hinterlassen nicht nur unmittelbare physische und demographische Folgen, sondern ebnen den Weg für ein langfristiges, sozio-kulturelles Erbe. Inwiefern Hungersnöte die körperliche und psychische Gesundheit folgender Generationen beschädigen können, ist ein Thema, an dem heute viel geforscht wird.

Die Langzeitfolgen von Hungersnöten offenbaren die tief verwurzelten Spuren, die solche Katastrophen in den betroffenen Gemeinschaften hinterlassen. Jene Spuren zeigen sich in einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen, die oft über Jahrzehnte hinweg bestehen bleiben.

Global werden mehr als genug Lebensmittel produziert. 1,3 Milliarden Tonnen werden jährlich weggeschmissen, dabei könnte diese Menge fast die doppelte Zahl der unterernährten Menschen weltweit ernähren. 2024 sind allein im gebeutelten Jemen mehrere Millionen Menschen von Hunger bedroht. Das betrübende Fazit: Das Erbe, das Hunger hinterlässt, beschäftigt die Menschen für viele Generationen.

Curran, D., Fröling, M. (2010): Large-scale mortality shocks and the Great Irish Famine
     1845-1852. Econ Model.
Kelly, B. (2019): The Great Irish Famine (1845–52) and the Irish asylum system:
      remembering, forgetting, and remembering again. Irish Journal of Medical Science.
Kennedy, L., MacRaild, D. M., Darwen, L., Gurrin, B. (2023): The Death Census of Black
      ’47: Eyewitness Accounts of Ireland’s Great Famine. Anthem Press.
Ó’Gráda, C. (2012): The Great Irish Famine. Cambridge University Press.
Orjuela, C. (2023): Remembering/forgetting hunger: towards an understanding of famine memorialisation. Third World Quarterly.

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