Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Wien: eine Untersuchung, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit der schönsten Stadt der Welt auseinandersetzen.
Außerdem ist der Beitrag Teil einer Reihe, in der wir dir wissenschaftliche Stadtspaziergänge präsentieren. Route 1 kannst du hier finden, Route 2 hier.
Route 3: Wissenschaftliche Prachtstraße
Reine Gehzeit: 1, 25 Stunden (5 Kilometer) + 20 Minuten Straßenbahnfahrt
Für unseren letzten Stadtspaziergang treffen wir uns mitten im geschäftigen Treiben bei der U-Bahn- und Straßenbahnhaltestelle Schottentor. Unser Ausgangspunkt thront unübersehbar neben dem von den Wiener:innen liebevoll Jonasreindl genannten Stationsgebäude und ist wohl das Ziel vieler der hier vorbeieilenden Studis.
Station 1: Hauptgebäude Universität Wien -
Universitätsring 1
Wir starten mit dem Herzen des heutigen Wiener Wissenslebens, dem Uni Wien Hauptgebäude. Der von Heinrich Ferstel geplante und 1884 fertiggestellte Prachtbau ist berüchtigt für seine weitläufigen Räumlichkeiten, in denen sich schon so manche Studierende am Weg zur Vorlesung verlaufen haben. Der zentrale Arkadenhof bietet nicht nur ein wenig Grün zur Erholung zwischen den Seminaren, sondern auch den Pantheon der Universität.
Gemeint sind damit Büsten und Plaketten für die wichtigsten Absolvent:innen der Uni. So begegnen wir etwa Erwin Schrödinger wieder, aber auch Physiker Ludwig Boltzmann und Josef Stefan sind hier verewigt, so wie Komponist Anton Bruckner, Mediziner Karl Landsteiner und Philosoph Karl Popper. Meist sind Männer dargestellt, und erst beschämend spät begann die Universität auch ihren verdienstvollen Abgängerinnen hier Denkmäler zu errichten. Wir erkennen etwa Berta Karlik wieder oder ihre Kollegin Lise Meitner, eine der Entdeckerinnen der Kernspaltung.
Der Arkdadenhof der Universität Wien im Herbst
(© Hubertl / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0)
Ein düsteres Schlaglicht wirft die Inschrift auf dem Mittelabsatz der prunkvollen Philosophenstiege auf die Geschichte der Universität: Auf den Stufen, die links vom Haupteingang zum Festsaal hinaufführen, erschoss im Juni 1936 ein Student den Philosophen Moritz Schlick, einen der Hauptvertreter des Wiener Kreises, dem auch Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein angehörten. Als Motiv gab der Täter an, Schlicks Denken hätte seine moralischen Überzeugungen erschüttert. Von austrofaschistischen und nationalsozialistischen Kreisen beklatscht, wurde der Mörder nach dem „Anschluss“ enthaftet.
Wir verlassen das Uni Hauptgebäude und passieren auf der Ringstraße das neogotische Rathaus und das Parlament im Stile der Neorenaissance. Unmittelbar hinter der Straßenbahnstation Volkstheater befindet sich unser nächster Halt.
Station 2: Die Bühlers im Palais Epstein –
Dr. Karl Renner Ring 1
Das bis 1873 von Theophil von Hansen erbaute Palais wurde im Roten Wien zu einem Angelpunkt der Wiener Wissenschaft. Dafür verantwortlich war maßgeblich das Psychologen-Ehepaar Karl und Charlotte Bühler, die im Epstein das Psychologische Institut Wien gründeten. Dort leisteten die Bühlers einerseits bahnbrechende Forschung auf dem Gebiet der Entwicklung- und Sprachpsychologie, andererseits begleitete das Institut die sozialreformistischen Bestrebungen der Wiener Stadtregierung empirisch.
Vor allem Charlotte Bühler bewies ein Gespür darin, brillante Forscher:innen an sich zu ziehen. So gehören etwa die Sozialpsychologin und Pionierin der Marktforschung Herta Herzog zu ihren Protegés, aber etwa auch der spätere Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, der am ebenfalls von den Bühlers aufgebauten Pädagogischen Institut im Palais Epstein promovierte und hier seine Frau Anna Henninger kennenlernte.
Ebenso richtungsweisend war die Arbeit von Paul Lazarsfeld, der sich mit seinem Abschluss in angewandter Mathematik als Charlotte Bühlers Assistent der Verbindung von exakten Wissenschaften und Sozialforschungen widmete. Gemeinsam mit einer anderen Bühler-Studentin, Marie Jehoda, untersuchte er mit innovativen, quantitativen Methoden die psycho-sozialen Auswirkungen von kollektiver Langzeitarbeitslosigkeit, wie sie im geschrumpften Österreich der Zwischenkriegszeit vorkam.
Im Palais Epstein gründete das Ehepaar Bühlers das Psychologische Institut Wien.
(© Thomas Ledl)
Nur wenige Gehminuten weiter liegt unser nächster Stopp am prachtvollen Maria-Theresia-Platz. Hier liegen die Zwillingsmuseen, Kunsthistorisches Museum links, Naturhistorisches Museum rechts. Beide sind einen Besuch wert, wir betreten aber das Naturhistorische und wenden uns in der Eingangshalle nach rechts. Einige Stufen bringen uns in die Mineraliensammlung, die wir durchqueren, bis wir Saal Fünf erreichen.
Station 3: Meteoritensaal des Naturhistorischen
Museums – Burgring 7
Hier befindet sich die größte Meteoritenschau der Welt: Über eintausend vom Himmel gefallene Steine in allen Formen und Größen lassen sich hier bewundern. So wiegt der berühmte Knyahinya-Meteorit fast 300 Kilogramm. Die Sammlung umfasst auch einige besonders exotische Exemplare, wie etwa Mars- und Mondmeteoriten. Dabei handelt es sich um Gestein, das selbst von einem Einschlag auf dem anderen Himmelskörper ins All geschleudert wurde und später auf die Erde niederging.
Viele der metallischen Meteoriten sind zudem angeschnitten und poliert, sodass sich deren bizarre Formen im Inneren offenbaren, die Fachleute als Widmanstätten-Strukturen bezeichnen. Sogar Meteorite, die selbst Kristalle enthalten, sind hier zu bestaunen. Infotafeln erläutern die Entstehung des Sonnensystems, aus dessen Frühphase manche der Himmelssteine stammen. Ihr Alter übertrifft mitunter das aller irdischen Gesteine.
Auch der Saal selbst ist einen genaueren Blick wert: Wie alle Räume besticht er nicht nur durch seine gegliederte Decke, sondern auch durch Gemälde, die in Beziehung zu den ausgestellten Stücken stehen. Othmar Brioschi hat so im Saal Fünf den Fall des Gesteinsmeteoriten Knyahinya künstlerisch festgehalten, der 1866 in den ukrainischen Karpaten zur Erde stürzte.
Wir verlassen das Museum und spazieren weiter die Ringstraße entlang, vorbei an Hofburg und Staatsoper, bis wir zum Schwarzenbergplatz gelangen. Wir biegen rechts ab und halten auf den Hochstrahlbrunnen zu. Hier halten wir uns links, um auf den Rennweg zu gelangen. Wir folgen der Straße, die uns am Unteren Belvedere vorbeiführt, bis zur Praetoriusgasse, in die wir rechts einbiegen. Wo die Gasse eine Linkskurve macht, liegt unsere nächste Station.
Station 4: Botanischer Garten – Mechelgasse 2
Der botanische Garten der Uni Wien lädt nicht nur zum Verweilen unter den uralten Baumriesen des Arboretum ein, hier lassen sich auch die Highlights heimischer und exotischer Flora entdecken. So soll ein eigenes Alpinum Pflanzen gebirgsähnliche Bodenbedingungen bieten und den Wiener:innen Enzian und Almrausch mitten in Wien ermöglichen.
Entlang der Jacquingasse befinden sich die Heil-, Nutz- und Giftpflanzen, bei denen wohl so manchen Hobbygärtner:innen und Kräuterhexen die Herzen höher schlagen. Glashäuser beinhalten Exoten wie den Titanenwurz, dessen gigantische, meterhohe Blüte nur alle paar Jahre ihren fauligen Duft verströmt – ein botanisches Großereignis, für das Menschen stundenlang Schlange stehen.
Im botanischen Garten findet freilich Forschung rund um Botanik und Biodiversität statt, aber auch der Erhalt von bedrohten Arten gehört zu den Aufgaben des Gartens. Zudem locken Veranstaltungen wie Raritätenbörsen oder Kurse alle Pflanzenfreunde. So können Interessierte etwa den Geschmack der Bäume kennenlernen und von Waldökolog:innen lernen, wie man Birkensirup, Rindenkekse oder Kiefernnadeln-Pesto zubereitet.
Der Botanische Garten lädt mit seinen schattigen Bäumen auch im Sommer zum Flanieren und Verweilen ein.
(© Gugerell / Wikimedia Commons)
Unsere letzte Station erreichen wir mit der Straßenbahnlinie 71 in Richtung Kaiserebersdorf. Wir gehen vor zum Rennweg und besteigen dort die Tram, die uns bis weit hinaus in den elften Wiener Gemeindebezirk, nach Simmering, führt. Wir steigen bei der Haltestelle Zentralfriedhof, 2. Tor, aus.
Station 5: Zentralfriedhof – Simmeringer
Hauptstraße 234
Am Wiener Zentralfriedhof liegen unzählige Berühmtheiten aus Kunst, Kultur und Politik. Doch wir wollen drei wissenschaftlichen Persönlichkeiten einen Besuch abstatten, die auf dem über zwei Quadratkilometer großen Gelände ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Die erste Grabstätte liegt in Gruppe 14 C und hat die Nummer 1: Es handelt sich um das Grab von Ludwig Boltzmann.
Der 1844 in Wien geborene Boltzmann war Professor für mathematische Physik an den Universitäten Graz, München und Wien und leistete vor allem im Gebiet der Thermodynamik und der statistischen Physik Epochemachendes, wie die Formel für Entropie auf seinem Grabstein andeutet. Schwer depressiv schied Boltzmann 1906 bei einem Urlaub in Duino durch seine eigene Hand aus dem Leben.
Die zweite Grabstätte, Gruppe 33 G, Nr. 80, ist außergewöhnlich: Silberne Kugeln auf silbernen Stangen bilden, wenn man genau schaut, eine Maske, die über dem Grab von Hedy Lamarr schwebt. Die Hollywood-Diva wurde nicht nur wegen ihrer Schönheit berühmt, sie war 1942 auch Miterfinderin des Frequenzsprungverfahrens, das die Funk-Steuerung von Torpedos ermöglichte. Die Technologie kam im Zweiten Weltkrieg zwar nicht mehr zum Einsatz, inspirierte aber den Bluetooth-Standard.
Das Ehrengrab von Hedy Lamarr am Wiener Zentralfriedhof besticht durch sein
futuristisches Design.
(© Haeferl / Wikimedia Commons)
Zuletzt statten wir einem Bekannten von der ersten Tour einen Besuch ab. Das Grab in Gruppe 76 B , Reihe 23, Nr. 27 gehört Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie. Er hat auf dem alten, jüdischen Teil des Zentralfriedhofs seine letzte Ruhe gefunden.
Zwischen den Friedhofsbesucher:innen können wir uns jetzt in der Konditorei am Haupteingang eine süße Belohnung gönnen, immerhin haben wir auf drei Spaziergängen gut dreizehn Kilometer kreuz und quer durch Wien zurückgelegt und haben mehr als zehn wissenschaftliche Disziplinen gestreift, in denen Menschen Herausragendes geleistet haben – und immer noch leisten.
Heute gibt es rund 190.000 Studierende in der Stadt. Was diese Köpfe bald wohl erforschen, entwerfen, entwickeln? Wir dürfen gespannt sein, wohin uns die Wiener Wissenswege noch führen werden.