Freud mit Patientin auf der Couch

Auch 84 Jahre nach seinem Tod ist Sigmund Freud der wohl bekannteste Psychoanalytiker der Welt. Das Leben und Wirken des österreichischen Arztes sind eng mit unserer Hauptstadt Wien verbunden. Daher widmen wir uns in diesem Artikel seinem Lebenswerk: der Psychoanalyse. Ist diese hundert Jahre nach ihrer Entwicklung noch zeitgemäß? Oder gilt sie als wissenschaftlich überholt?

Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Wien: eine Untersuchung, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit der schönsten Stadt der Welt auseinandersetzen. 

Leben und Wirken des Sigmund Freud

Sigismund Schlomo Freud war gebürtig kein Wiener. Er wurde am 6. Mai 1856 im heutigen Tschechien als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns geboren. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie nach Wien, wo er zunächst die Schule und anschließend die Medizinische Fakultät der Universität Wien besuchte, bevor er seinen Namen änderte.

Während er zunächst im Labor für Gehirnanatomie tätig war, brachten ihn spätere Forschungsreisen nach Paris, wo er die Behandlung verschiedener psychiatrischer Erkrankungen mittels Hypnose kennenlernte.

1886 ließ er sich dann in Wien in der Berggasse 19 (9. Wiener Gemeindebezirk) mit seiner eigenen Praxis nieder. In den nächsten Jahren, bis zu seiner Emigration nach London im Jahre 1938, sollte er hier wohnen und arbeiten und seine Freizeit gelegentlich im Café Landtmann verbringen. In der Berggasse 19 befindet sich heute das Siegmund-Freud-Museum, das Teile seiner alten Praxisräume und Ausschnitte seines Lebens zeigt.

Mit seinem Werk „Traumdeutung“ legte er im Jahre 1900 den Grundstein für die Methode der Psychoanalyse, als deren Begründer er angesehen wird.

Was ist Psychoanalyse?

Kernpunkt der Psychoanalyse ist die Annahme, dass menschliches Verhalten von biologisch vererbten Trieben oder anderen Kräften entspringt. Jeder Mensch befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen seinen inneren Trieben und den Anforderungen der Gesellschaft, in welchen er sich bewegt. So verfolge ein Säugling zunächst nur alle seine Triebe und würde sich dann schrittweise in die Gesellschaft mit all ihren Gesetzen und Normen einfügen, was die Entwicklung des eigenen Ichs erst ermögliche. (Paukert, 2020)

Das Freudsche Modell von Es, Ich und Über-Ich

Das Persönlichkeitsmodell teilt den Menschen in 3 Ebenen ein: Das Es verkörpert hierbei die Triebe und Lüste und alle unbewussten Prozesse. Dem gegenüber stehe das Über-Ich, eine Verkörperung der Werte und Normen unserer Gesellschaft, welches zunächst von den Erziehungsberechtigten verkörpert werden. Durch Verbote und Gebote werden so die „richtigen Verhaltensweisen“ dargestellt. Zuletzt bezeichnet das Ich die individuelle Persönlichkeit, die sich aus unseren bewussten Handlungen und Vorstellungen zusammensetzt.

Dem Ich, der Persönlichkeit, kommt die Aufgabe zu, die Spannung zwischen den Trieben, sowie das moralische Gewissen miteinander in Einklang zu bringen. Laut Freud ergeben sich Neurosen, wenn die Auflösung dieser Spannung nicht gelingt. Dies geschieht unbewusst und bereits in der Kindheit.

Der Mensch nimmt diesen inneren Konflikt nicht bewusst wahr und kann ihn somit auch nicht ohne Hilfe auflösen. Um diese bereits in der Kindheit erlebten Konflikt aufzulösen, muss man in das Unterbewusstsein eintauchen. Dies wurde von Freud zunächst mittels Hypnose versucht. Im Laufe seiner Karriere nutzte er zusehends die freie Assoziation statt der Hypnose, um zum Unbewussten vorzudringen. (Paukert,2020)

Kritik an der Psychoanalyse

Freuds Psychoanalyse wurde bereits seit ihren Anfängen kritisiert. So warf ihr der bekannte Philosoph Sir Karl Popper Unwissenschaftlichkeit vor. Denn eine wissenschaftliche Theorie würde stets jene Kriterien mitliefern, unter denen sie widerlegbar ist (Falsifizierbarkeit).

Freuds postulierten Annahmen von Ich, Es und Über-Ich werden als Grundlage genutzt und nicht hinterfragt. Damit lässt sich in Freuds Theorie scheinbar widerstrebende Zustände erklären: Sowohl Hass als auch überhöhte Liebe für die Mutter würden sich beide auf das gleiche Kindheitstrauma zurückführen lassen. Und eine Theorie, die im Nachhinein scheinbar alles erklären kann, ohne Vorhersagen liefern zu können, ist laut Popper redundant und banal. (Popper, 2005)

Doch auch Kolleg:innen bzw. Schüler:innen von Freud wandten sich im Laufe der Jahre von ihm ab und gründeten eigene Schulen der Psychoanalyse. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Carl Gustav Jung, der Freud jahrelang unterstützte, sich jedoch aufgrund der dominanten Rolle der Sexualtheorie in Freuds Lehren von diesem abwandte und die analytische Psychologie, eine weitere Psychotherapie-Form, begründete (Goddemeier, 2011).

Psychoanalyse heute

So entwickelten sich über die letzten Jahrzehnte zahlreiche Abspaltungen von der Psychoanalyse und neue psychotherapeutische Schulen. Bereits in den 80er wurden Diskussionen darüber geführt, ob sich die verschiedenen Schulen überhaupt noch auf Gemeinsamkeiten einigen könnten (Wallerstein, 1988).

So wurde die Triebtheorie, welche für Freud den Kern seiner Analyse darstellte, teilweise aufgegeben. Auch das oftmals bekannte Modell von Es, Ich und Über-Ich sowie die damit einhergehenden Ebenen des Bewusstseins werden in der heutigen Psychoanalyse nur noch selten verwendet.

Derzeit gibt es in Österreich 23 anerkannte psychotherapeutische Richtungen, wobei die Psychoanalyse bis heute praktiziert wird. Die Psychoanalyse oder Psychoanalytische Psychotherapie ist der von Sigmund Freud eingeführten Therapieform am ähnlichsten. Patient:innen werden dabei eingeladen, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen („freie Assoziation“). Diese werden dann von Analytiker:innen teilweise gedeutet, um den verborgenen Sinn zu entschlüsseln (PsyOnline, 2024).

Ein wesentlicher Kern ist jedoch geblieben: Das Ergründen der unbewussten Motive ist noch immer die Grundlage jedes psychoanalytischen Zugangs. Auch das klassische psychoanalytische Setting wird noch eingehalten (auf der Couch liegend, hohe Frequenz der Behandlungsstunden). Diese Konstellation wurde für die damals häufig genutzte Hypnose verwendet und bis heute geblieben. Auch die Aufgabe der Analytiker:in hat sich seither nicht verändert. Als neutrale außenstehende Person obliegt dieser das Fördern der freien Assoziation.

Analytiker mit Patient auf der Couch

Die Psychoanalyse in ihrer klassischen Form. Patient:innen liegen auf einer Couch und sehen die meist passiv zuhörenden Analytiker:innen nicht an, während sie ihren Gedanken freien Lauf lassen.

Neurobiologische Erkenntnisse

Als Freud die Psychotherapie begründete, steckte die neurowissenschaftliche Forschung noch in den Kinderschuhen. Viele seiner Grundsätze legte Freud nicht aufgrund neurobiologischer Erkenntnisse, sondern auf Basis seiner psychologischen Arbeit fest. Die menschliche Psyche ist jedoch bis heute aufgrund ihrer Komplexität nur in ihren Grundzügen erforscht. Dennoch machte er sich in seinen neuroanatomischen Studien bereits Gedanken, wo das Bewusstsein des Menschen sitzen könnte.

Da er dem Bewusstsein eine höhere Entwicklung zuschrieb, war er überzeugt, dieses in der Großhirnrinde zu finden. Heute wissen wir, dass das Bewusstsein tatsächlich im evolutionär „ältesten“ Teil unseres Gehirns, im Hirnstamm und im Mittelhirn, zu finden ist. (Solms, 2018) Mit „Bewusstsein“ ist hier die Gesamtheit aller mentalen Zustände eines Individuums - einschließlich der dazu nötigen Vigilanz (Wachheit) - gemeint. (Doccheck, 2024)

Auch heute versuchen Neurobiolog:innen Erklärungen für Entscheidungsprozesse und das Unbewusste zu finden. So gelang es mittels bildgebender Verfahren am lebenden Objekt zu zeigen, dass Entscheidungen bereits getroffen werden, bevor diese das Individuum überhaupt bewusst wahrnimmt.

So wurden Proband:innen aufgefordert zu entscheiden, ob sie einen Knopf mit der rechten oder linken Hand drücken möchten. Außerdem sollten sie auch angeben zu welchem Zeitpunkt die Entscheidung subjektiv gefallen ist. Anhand von MRT-Bildern, die während des Entscheidungsprozesses angefertigt wurden, konnte gezeigt werden, dass die Entscheidung im Gehirn bereits getroffen wurde, bevor sie den Proband:innen bewusst wurde. So konnte das Forschungsteam die Entscheidung oftmals voraussagen. (Soon et al., 2008)

Der Nachweis des Unterbewusstseins, das für Freuds Theorien und Modelle eine wichtige Grundlage bildete, ist somit gelungen.
Dennoch gelang es bis heute noch nicht, neurowissenschaftliche Grundlagen der Psychoanalyse bzw. ihre Wirkung auf Abläufe des Gehirns zu erforschen.

Psychoanalyse wirkt

Auch ohne die genaue Erklärung der Wirkmechanismen ist die Wirksamkeit von Psychotherapie und auch der Psychoanalyse in zahlreichen Studien belegt worden. So beton Mark Leonard Solms, der sowohl Psychoanalytiker als auch Neurowissenschaftler ist, dass Psychotherapie generell eine sehr effektive Therapie ist. So ist diese wirkungsvoller als die meisten Antidepressiva. (Beauregard, 2014).

In einer seiner Publikationen nennt er zahlreiche Metaanalysen, die zeigen, dass die Psychoanalyse genauso effektiv wie andere psychotherapeutische Richtungen, wenn nicht sogar effektiver ist (Solms, 2018).

Ob dieser Erfolg Freuds Theorien und Modellen oder der Gesprächstherapie an sich zu verdanken ist, kann heute noch nicht abschließend beantwortet werden. Doch ohne endgültigen Nachweis des Wirkmechanismus gilt es kritisch zu bleiben.

Doch noch nicht ganz überholt

Um die neurobiologische Wirkung der Psychoanalyse nachzuweisen, müsste erst die Funktionsweise der Psyche vollständig erklärt werden können. Bisher publizierte Forschungsergebnisse bezüglich der Wirksamkeit geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass Freuds Arbeitsweise funktioniert – auch mehr als hundert Jahre nach seiner Wirkungszeit in Wien.

So mögen manche Aspekte seiner Arbeit, wie die Sexualtheorie, in der heutigen Psychoanalyse keine Anwendung mehr finden, doch Siegmund Freud hat unser Verständnis der Traumaverarbeitung revolutioniert und den Weg für die Psychotherapie bereitet.

Zukünftige Forschungsprojekte der Neurowissenschaften werden uns noch mehr Aufschluss darüber geben, in welchen Aspekten sich Sigmund Freud geirrt hat und welche Teile seiner Psychoanalyse auch weiter Bestand haben werden.

Beauregard, M. (2014). Functional neuroimaging studies of the effects of psychotherapy.
     Dialogues Clin. Neurosci. 16, 75–81.
Siong Soon, C 1 , Brass, M., Heinze. H.-J., Haynes, J.-D. (2008). Unconscious
     determinants of free decisions in the human brain. Nat Neurosci 11(5), 543-5.
Doccheck (2024). Vigilanz. DocCheck Community GmbH
Goddemeier, C. (2011). Themen der Zeit. Carl Gustav Jung: Vom kollektiven
     Unbewussten und den Archetypen. Deutsches Ärzteblatt. PP 10, 310.
Habermas, T. (2007). Die Aktualität Freuds für die Psychoanalyse. In W. Mauser & J.
     Pfeiffer (Eds). Freuds Aktualität. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 26.
     Königshausen & Neumann, 23-31.
Paukert, H. (2020). WEGE ZUM ICH. Grundlagen der Psychologie. FBDS-Druck.
Solms, ML. (2018). The Neurobiological Underpinnings of Psychoanalytic Theory and
     Therapy. Front. Behav. Neurosci. 12, 294.
Solms (2018). The scientific standing of psychoanalysis. BJPsych International. 15(1).
Wallerstein, R.S. (1988). One psychoanalysis or many? International Journal of
     Psychoanalysis. 69, 5-21.

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