Hebräisch und Jiddisch

Jahrhundertelang war das Jiddische eine vielgesprochene Sprache in Europa. Dann kam der Zweite Weltkrieg und die Shoah und das Jiddische verschwand beinahe vollständig. Doch Spuren davon sind heute noch überall zu finden, besonders im Wienerischen Dialekt.

Vom Schlamassel bis zur Schickse:
Eine kurze Geschichte des Jiddischen in Wien

Wer mit seinem Hawara zu lange im Beisl gesessen ist und sich nun in einem Schlamassel befindet, weil er am nächsten Tag malochen muss, tut dies in diesem Satz fast ausschließlich auf Jiddisch. Hawara (jid.: „Chawer“, Freund), Beisl (jid.: „bajiss“, Haus), Schlamassel (jid.: „Schlimasel“, Unglück) und malochen (jid.: „Melocho“, Arbeit) sind alles Worte aus dem Jiddischen, die in Wien zur Umgangssprache gehören.

Als einstige Metropole der Habsburgermonarchie galt Wien über Jahrhunderte als Knotenpunkt kultureller und sprachlicher Vielfalt. Dass so viele „typisch“ Wienerische Ausdrücke aus dem Jiddischen stammen, zeigt, wie tief die Spuren sind, die das Jiddische in Wien gezogen hat und noch immer zieht.

Ein deutscher Dialekt?

Jiddisch ist jenen, die Deutsch können, nicht völlig fremd. Jiddisch zählt in der germanischen Gruppierung der indogermanischen Sprachen nicht als Dialekt, sondern als eine eigene Sprache, wie das Englische oder Afrikaans.

Das mit hebräischen Buchstaben von rechts nach links geschriebene Jiddisch ist eng verbunden mit der Zerstreuung des jüdischen Volkes. Seinen Ursprung hat es im 9. Jahrhundert, als jüdische Gemeinschaften aus Nordfrankreich und Norditalien in den deutschsprachigen Raum wanderten und dort mittelhochdeutsche Dialekte, hebräisch-aramäische Elemente und romanische Sprachen zum sogenannten „Alt-Jiddisch“ fusionierten.

Slawische Worte und Grammatikstrukturen fanden ihren Weg in das heutige Jiddisch, als im Rahmen der Kreuzzüge erstmals Pogrome gegen Juden in Europa stattfanden und die Pest wütete – für die Juden und Jüdinnen zum Sündenbock gemacht wurden. Dies trieb jüdische Gemeinschaften abermals in die Flucht, diesmal in den slawischsprachigen Osten Europas. Dort entstand aus dem Westjiddisch das Ostjiddisch, beeinflusst von slawischen Sprachen.

Es galt außerdem lange als „Sprache der Frauen“, oder „Vaybertaytsh“, also „Weiberdeutsch“, da es im Gegensatz zum Hebräischen, der gelehrten Sprache der Männer, auch von Frauen gesprochen wurde, denen religiöse Bildung verwehrt blieb. Trotz dem regen Wandel, dem seine Sprecher:innen unterworfen waren, konnte sich Jiddisch über Jahrhunderte halten und war vor dem Zweiten Weltkrieg die Muttersprache (jid.: „Mameloshn“) von elf Millionen Juden und Jüdinnen. (Steinmetz 1986, Stern 2000, Fiedermutz 2002)

Jiddisches Wort Mensch

Jiddsche Wörter werden mit hebräischen Buchstaben von links nach rechts geschrieben.
Mentsh bedeutet Mensch, ist aber auch ein Kompliment und Bezeichnung für
eine aufrichtige Person.

Rotwelscher Transport

Ihren Weg in die standardisierte deutsche Sprache fanden jiddische Worte oft über das sogenannte „Rotwelsch“. Unter Rotwelsch versteht man Varianten von Geheimsprachen, die verschiedene sozial benachteiligte Gruppen verwendeten – von Bettlern bis zu Räubern, aber auch Händler. Bereits seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) griffen die Sprecher:innen des Rotwelschen auf jiddisches Sprachmaterial zurück.

Das Jiddisch in Wien wurde vor allem durch die im späten 19. Jahrhundert sich ansiedelnde Juden und Jüdinnen aus den östlichen Kronländern des Habsburgerreiches, Bukowina und Galizien, mitgebracht. Um 1890 war weniger als die Hälfte der Bürger:innen Wiens auch tatsächlich in Wien geboren, etwa 150.000 davon waren jüdischer Herkunft.

Die rechtlichen Verbesserungen für Juden und Jüdinnen der Mittelschicht im 18. und 19. Jahrhundert führten vermehrt zu jüdisch-christlichem Sprachkontakt, insbesondere in urbanen Zentren wie Berlin und Wien. Jiddische Begriffe wurden Teil der Alltagssprache. Unter den assimilierten, deutschsprechenden Juden und Jüdinnen in Wien genoss das Jiddische keinen hohen Stellenwert, es galt als Sprache der vermeintlich weniger gebildeten „Ostjuden“.

Jiddisch war damals wie heute ein Politikum, eng verknüpft mit Fragen von Identität. Abgelehnt wurde es neben assimilierten Gemeinden vor allem von Zionist:innen (Befürworter:innen eines jüdischen Nationalstaats), die ein modernes Hebräisch als Symbol einer nationalen Wiedergeburt bevorzug(t)en. (Stern 2000, Hödl 2017)

Jiddisch RVKH

Khvr, ausgesprochen "Khaver" heißt Freund, Genosse und ist der Urpsrung von dem Wiener "Hawara". Aus dem Hebräischen übernommene Worte werden im Jiddischen oft ohne Konsonanten geschrieben, weil das Hebräische oft auf Konsonanten verzichtet.

פֿאַרלוירענע ירושה / Varlorene Yirushe /
Verlorenes Erbe

Dem Jiddischen wurde das Überleben im Habsburgerreich nicht unbedingt einfach gemacht: Es galt nie als offizielle Sprache. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde damit gedroht, all jene, die nicht beweisen können, Teil der „deutschen Kultur“ zu sein, gen Osten abzuschieben. Trotz der miserablen Situation Österreichs nach dem Zerfall Österreich-Ungarns und den zusätzlichen Hürden für Juden und Jüdinnen entstand im Nachkriegs-Wien eine kleine, aber florierende jiddische Kulturszene.

Neben jiddischem Theater, das sich schon seit dem späten 19. Jahrhundert etabliert hatte, wurden jiddische Zeitschriften und Verlage gegründet, hauptsächlich in den heutigen Bezirken Leopoldstadt und Brigittenau. Jiddische Kulturschaffende setzten sich dafür ein, die Sprache zu erhalten. Lyriker:innen etwa, die andere Muttersprachen hatten, entschieden sich bewusst dazu, auf Jiddisch zu schreiben. Eng verknüpft war die jiddische Literaturszene mit der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus. Der studierte Mediziner und Lyriker Melech Chmelnizki (1885-1946, in New York) beschreibt in seinem Gedicht „der ershter may“ die Sehnsucht nach einer Revolution.

Heute finden sich nur mehr wenige Spuren dieser Kulturszene in Wien, dabei haben sie den sogenannten „Wiener Schmäh“ nachhaltig geprägt, weiß Theaterwissenschaftlerin Brigitte Dalinger. „In Wien kam die pointierte, kritische nestroysche Komik mit jiddischen Ausdrücken zusammen. Der feine und bewusste Umgang mit Worten und das Zuspitzen von Sprache liegt in der jüdischen Tradition." Auch zur besonderen Beziehung der Stadt Wien mit dem Tod hat die jiddische Lyrik beigetragen, in Gedichten von Max Neugröschel lauert der Tod als ständiger Begleiter der Wiener Bevölkerung. (Kohlbauer-Fritz 2018)

Neugröschel, der als wichtigster Vertreter der expressionistisch-jiddischen Literatur in Wien gilt, und die Zeitung „Jiddisch“ herausgab, sowie Chmelnizki emigrierten in die USA. Neugröschl erst, nachdem er einen Aufenthalt im KZ Buchenwald überlebt hatte, Chmelnizki verließ Wien bereits 1939. Mit dem wachsenden Antisemitismus wurde die Zahl der jiddisch sprechenden Bevölkerung immer kleiner, 1938 wurden die letzten Theater geschlossen und das letzte Buch auf Jiddisch erschien in Wien. Die Shoah verursachte eine Zäsur in der jiddischen Sprache und Kultur, 85 Prozent der im „Khurbn“ (jiddische Bezeichnung für den Holocaust, „Zerstörung“) ermordeten Juden sprach Jiddisch.

Die UNESCO sieht Jiddisch heute als eine gefährdete Minderheitensprache. Es gibt aber verstärkt auch in Wien Bemühungen, das Jiddische als Bestandteil der kulturellen Identität beizubehalten. Besonders hervorzuheben ist die Organisation „Young Yidish Wien“ mit Sitz im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Young Yidish richtet sich besonders an junge Menschen und widmet sich der Förderung der Sprache durch Sprachkurse und kulturelle Veranstaltungen. Darunter sind „Shmieskrayze“, also „Redekreise“, in denen gesprochenes Jiddisch geübt werden soll, und Klezmerkonzerte. Auch Kooperationen mit wissenschaftlichen Institutionen und Kulturvereinen tragen dazu bei, die jiddische Sprache in Wien wieder sichtbarer zu machen – wie beispielsweise das Yiddish Culture Festival oder Konzerte der Wiener Musikerin Isabel Frey.

Der erschter Maj von Melech Chmelnizki

Sse roojscht un rasch’t doss Filk, wie Schturm zehlichte Jamen,
woss rejssen Schtiker Breg, farflejzen wild dem Hafen –
Zum Himmel weht die Fahn mit glohend rojte Flamen.
Mit schtolze Schteren geht a schwarze Machne Schklafen.
Un ss’husschet, hilcht a Lid – a Duner in Gewitern,
a Lid fun Zar un Zorn, fun Rojges un fun Treren!
Fargliwert schwajgt di Schtodt un hojche Turemss zitern.
O saj gegebnscht mir, Kraft, woss wesst di Schtodt
zeschteren!

Erster Mai (deutsch)
Es rauscht und lärmt das Volk, wie aufgewühltes Meer,
reißt Land vom Ufer, überflutet wild den Hafen –
Zum Himmel weht die Fahn mit göühend-roten Flammen,
erhobnen Hauptes gehen Scharen schwarzer Sklaven.
Ein Lied erklingt, schwillt an – ein Donner im Gewitter,
ein Lied von Schmerz und Leid, von Wut und Tränen!
Die Stadt erstarrt, die hohen Türme zittern.
O sei gesegnet, Kraft, du wirst die Stadt zerstören.

Dalinger, Brigitte. (2002). Jiddisches Theater – ein Grenzgänger zwischen den Sprachen
     und Kulturen: Gastspiele jiddischer Truppen in Böhmen, Mähren und der Slowakei von
     1910 bis 1938. In: Maske und Kothurn: Internationale Beiträge zur
    Theaterwissenschaft, 47,3-4 (2002), S. 89–100.
Fiedermutz, Aron. (2002). Jiddisch. In: Okuka, Miloš (Hg.): Lexikon der Sprachen des
     europäischen Ostens
. Klagenfurt: Wieser, 175–182 (= Wieser Enzyklopädie des
     europäischen Ostens 10).
Hödl, Klaus. (2009). Juden in der Wiener Kultur. Zur (Un-)Angemessenheit dichotomer
     Kategorisierungen. Aschkenas, 18-19(1), 127-146.
Hödl, Klaus. (2017). Zwischen Wienerlied und Der kleine Kohn. Juden in der Wiener
      populären Kultur um 1900. Vandenhoeck & Ruprecht.
Kohlbauer-Fritz, Gabriele. (2018). Die jiddische Subkultur in Wien und die jüdische
     Arbeiterbewegung. In: Börner, Markus; Jungfer, Anja; Stürmann, Jakob (Hg.):
     Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte
     des 20. Jahrhunderts. De Gruyter Oldenbourg, 51-63.
Soxberger, Thomas. (2010). Literatur und Politik – Moderne jiddische Literatur und
     "Jiddischismus" in Wien (1904 bis 1938). Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades
     der Philosophie (Dr. phil.). Wien: Universität Wien.
Steinmetz, Sol. (2016). Yiddish & English: The Story of Yiddish in America. University of
     Alabama Press.
Stern, Heidi. (2000). Wörterbuch zum jiddischen Lehnwortschatz in den deutschen
     Dialekten. De Gruyter.

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