Dieser Artikel ist Teil des Themenschwerpunkts "Menschlichkeit", in dem sich die alexandria-Redaktion fragt, was uns menschlich macht und was wir als menschlich wahrnehmen.
„Tene me ne fugia(m) et revoca me ad dom(i)num Viventium in ar(e)a Callisti.“ – „Halte mich fest, damit ich nicht fliehe, und bringe mich zurück zu meinem Herrn Viventius im Bereich des Callistus.“ Diese Inschrift, eingraviert in ein Metallhalsband aus dem 4. Jahrhundert nach Christus, ist ein grausames Zeugnis dessen, was Sklaverei bedeutet: den vollständigen Verlust von Autonomie, die Reduktion des Menschen auf ein bloßes Objekt.
Heuchlerische Philosophen?
Denken wir heute an Sklaverei, kommt uns meist das Bild von Baumwollplantagen in den USA in den Sinn, verbunden mit einem dehumanisierenden Rassismus. Die antike Sklaverei hingegen erscheint uns „weniger schlimm“. Das liegt vor allem daran, dass ihre Auswirkungen heute weniger greifbar sind. Die antike Sklaverei liegt sehr lange zurück und basiert nicht auf modernem Rassismus, daher entsteht bei manchen der Eindruck, es sei weniger gewaltsam gewesen. Dabei spielte sie eine zentrale Rolle in der römischen Gesellschaft. Schätzungen zu Folge machten versklavte Menschen 10 bis 15 Prozent (möglicherweise sogar bis zu 20 Prozent) der Gesamtbevölkerung aus. Dadurch nahm der Sklavenhandel auch einen Platz im alltäglichen Leben der Antike ein. Tatsächlich werden viele von euch, die diese Zeilen lesen, schon einmal auf einem ehemaligen Sklavenmarkt gewesen sein: dem Forum Romanum. Im Herzen Roms wurden Menschen verkauft.
„Wer also von Natur aus nicht sich selbst gehört, sondern einem anderen zu eigen ist, und doch ein Mensch ist, der ist von Natur ein Sklave“, schrieb der griechische Philosoph Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) über versklavte Menschen. Sklaverei war nach Aristoteles Teil der natürlichen Ordnung. Menschen teilte er in zwei Gruppen: jene, die zum Herrschen geboren waren, und jene, die zum Gehorchen geboren waren. Er sah die Seelen der Versklavten als unausgereift, daher war die Sklaverei etwas Gutes – ohne wüssten die als Sklav:innen geborenen gar nicht, wie man lebt. Zwar stimmte sein Lehrer, Platon (428 v. Chr. - 348 v. Chr.), nicht überein, dass Sklaverei „natürlich“ ist, jedoch akzeptierte auch er sie als einen integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung und sprach sich lediglich für eine bessere Behandlung aus.

Metallhalsband eines versklavten Menschen, 4.-6. Jahrhundert vor Christus, mit der Inschrift: „Fugi tene me. Cum revocuveris me d(o)m(ini) Zonino accipis solidum“, dt.: „Ich bin entkommen! Halte mich fest! Wenn du mich zu meinem Herrn Zoninus zurückbringst, wirst du eine Goldmünze erhalten.“ (ServusCollare.jpg, ©Wikimedia Commons contributors, https://commons.wikimedia.org/wiki/user:Rabax63)
Ein weiterer Appell für eine bessere Behandlung erfolgte einige hundert Jahre später durch den römischen Philosophen und Stoiker Seneca (1 n. Christus – 65 n. Christus) in seinem Text über die Sklaverei, „Sie sind Sklaven, sagen die Leute. Nein, sie sind Menschen.“ - er forderte Mitgefühl für Versklavte. Gleichzeitig hielt er selbst versklavte Menschen und nutzte sie für seinen Komfort. Seiner Meinung nach gibt es zwischen freien Menschen und Versklavten keine grundlegenden Unterschiede, die Institution der Sklaverei bezweifelte er jedoch mit keinem Wort.
Eine Tendenz zur besseren Behandlung von Sklav:innen, geschweige denn eine Annäherung an die Abschaffung der Sklaverei, löste Senecas Appell an das Mitgefühl jedoch nicht aus. Über die Jahrhunderte hinweg, bis in die frühe Neuzeit, wurde die Sklaverei weiterhin geduldet – moralisch gestützt von Philosoph:innen. Der italienische Dominikanermönch und einer der bedeutendsten Theologen der römisch-katholischen Kirche, Thomas von Aquin (1225-1247) akzeptierte sie ebenfalls als gottgegeben. Er übernahm Aristoteles Konzept einer „natürlichen Sklaverei“ und erweiterte sie mit dem Argument, dass die Sklaverei zwar nicht ursprünglich von Gott geplant war, jedoch durch die Erbsünde entstand.
Dass auch ein anderes Denkmuster möglich war, zeigte die Republik Ragusa (heute Dubrovnik, im Süden Kroatiens). Der Stadtstaat verbot Sklaverei ein für alle Mal bereits 1416, einerseits aus moralischer Überzeugung, andererseits um soziale Spannungen in der internationalen Handelsstadt zuvorzukommen. Ganz nach dem Motto der Stadt: „Non bene pro toto libertas venditur auro“, „Für alles Gold in dieser Welt werden wir unsere Freiheit nicht verkaufen“. Zum Vergleich: Großbritannien verbot den Sklavenhandel 391 Jahre, die USA erst 450 Jahre später.
Manche sind gleicher als andere
Die bigotte Denkschule der antiken Philosophen setzte sich auch Jahrhunderte später in den Vereinigten Staaten durch: Deren Gründerväter diskutierten über Freiheit, schrieben in der Unabhängigkeitserklärung 1776 davon, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“ und hielten gleichzeitig versklavte Menschen auf ihren Grundstücken. Thomas Jefferson (1743-1826) schrieb, dass Sklaverei eine moralische Sünde sei, hielt aber selbst 600 Sklav:innen. Auch der erste Präsident der USA, George Washington (1723-1799) realisierte erst spät in seinem Leben, dass Sklaverei nicht mit seinen Idealen von Freiheit vereinbar war und ließ in seinem Testament die Freilassung der versklavten Menschen in seinem Besitz verfügen.

Sklav:innen auf einer Baumwollplantage in Georgia (USA) um 1850 (Family of slaves in Georgia, circa1850.jpg, @Wikimedia Commons contributors, https://w.wiki/DbKK)
„Diese Widersprüchlichkeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Politik: Auch die christliche Kirche spielte eine zentrale Rolle bei der Legitimation der Sklaverei. Während die Gründerväter der USA von universellen Menschenrechten sprachen, fanden kirchliche Institutionen in der Bibel Rechtfertigungen für das System der Versklavung – und profitierten selbst wirtschaftlich davon. Zitate wie ‚Diener, gehorcht euren Herren‘ (Epheser 6,5) wurden herangezogen, um die Sklaverei als gottgewollte Ordnung darzustellen. Der Reichtum der Kirche basierte teilweise direkt auf Sklavenarbeit: Kirchen besaßen Plantagen und nutzten die Arbeit versklavter Menschen, um Einnahmen zu erzielen. Mitglieder des Klerus waren selbst Sklavenhalter und profitierten wirtschaftlich von dem System.
Das Menschliche an der Sklaverei: Der Kampf dagegen
Die wahre Menschlichkeit zeigte sich im Widerstand gegen die Sklaverei. Abolitionist:innen wie Frederick Douglass (1818-1895), der in die Sklaverei geboren wurde und in Freiheit zum US-Botschafter für Haiti aufstieg, spielten eine zentrale Rolle im Kampf gegen die Sklaverei. In Haiti führte 1791 ein erfolgreicher Sklav:innenaufstand gegen die französische Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit des Landes. Frankreich forderte daraufhin eine Entschädigung von 150 Millionen Francs, die Haiti von 1825 bis 1947 abbezahlen musste, was das Land über Jahrzehnte wirtschaftlich belastete. In den Vereinigten Staaten leisteten die ehemaligen Sklavinnen Harriet Tubman (1822-1913) und Sojourner Truth (1792-1883) erbitterten Widerstand. Sie setzten ihr Leben aufs Spiel, um Sklav:innen zu befreien in dem sie, angetrieben von ihrem tiefen Glauben, hunderte Versklavte durch die sogenannte „Underground Railroad“ in die Freiheit schmuggelten.
Über dem Atlantischen Ozean, erhoben sich ebenfalls Stimmen gegen die Sklaverei. Olaudah Equiano (1745-1797), ein ehemaliger Sklave, der als Elfjähriger aus seiner Heimat in Nigeria entführt und in die Sklaverei verkauft wurde, kämpfte in Großbritannien für die Abschaffung. 1789 veröffentlichte er seine Autobiografie „The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African“, die maßgeblich zur Sensibilisierung der britischen Öffentlichkeit für die Grausamkeiten der Sklaverei beitrug.
Ein Kampf, der weitergeht
Sklaverei ist keine historische Fußnote, sondern noch immer Realität, die heute noch etwa 50 Millionen Menschen unmittelbar betrifft. Ob Zwangsarbeit in asiatischen Fabriken, Menschenhandel in Europa oder Schuldknechtschaft in Afrika – moderne Sklaverei existiert in vielen Formen.
Die Frage nach der „Menschlichkeit“ von Sklaverei bleibt daher auch heute bestehen: Wenn wir die Unmenschlichkeit der transatlantischen Sklaverei verurteilen, müssen wir uns fragen, warum moderne Formen der Ausbeutung oft weniger Empörung hervorrufen. Organisationen wie Anti-Slavery International, oder International Justice Mission unterstützen die Befreiung von Betroffenen und die Verhinderung von Menschenhandel. Doch es erfordert mehr als Spenden – nämlich auch bewusste Konsumentscheidungen, die Hinterfragung unethischer Lieferketten und die Forderung politischer Maßnahmen, um Ausbeutung zu verhindern. Schließlich stellt sich die Frage der antiken Philosoph:innen auch heute noch: Welche Art von Gesellschaft wollen wir sein?