Der Märzhase aus Alice im Wunderland im Vordergrund, dahinter eine Uhr

Der Hausverstand weiß: Die Zeit fließt stets gleichförmig der Zukunft zu. In der modernen Physik dagegen gerät der Fluss der Zeit mitunter in Wallungen – und scheint manchmal sogar seine Richtung umzukehren. alexandria mit fünf Fakten zum erstaunlichen Gesicht der Zeit in der Physik.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts "Wie die Zeit vergeht", in dem sich die alexandria-Redaktion aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven mit der Wahrnehmung und dem Verständnis von Zeit auseinandersetzt.

Das Verständnis der Zeit von Newton bis zur modernen Physik

Wir alle glauben zu wissen, wie die Zeit vergeht. Immerhin steht uns der Lauf der Welt als gigantisches Metronom vor Augen: Abend folgt auf Morgen, Herbst auf Sommer, Alter auf Jugend. Kein Wunder also, dass uns dieses Verständnis einer monolithisch vor sich hin fließenden Zeit, an der wir alle gleich teilhaben, bis in das zwanzigste Jahrhundert begleitet hat.

Damals beherrschte noch die Kosmologie Isaac Newtons die Köpfe, wo Raum und Zeit gleichsam der unverrückbare Rahmen sind, innerhalb dessen sich alles abspielt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts mehrten sich aber die Ungereimtheiten, die immer stärker an diesem Paradigma rüttelten. Boltzmann, Einstein, Schrödinger – so hießen einige der Forscher, die mit dem Newtonschen Weltbild aufräumten, und mit dessen Zeitbegriff.

Bevor wir den modernen Zeitbegriff der Physik umreißen, noch eine Bemerkung: Freilich gibt es keine eigene Zeit der Physik. Es ist stets unsere Zeit, wie sie eben für mich vergeht, der ich diese Worte schreibe, oder für dich, geschätzte:r Leser:in. Doch werfen die Erkenntnisse der modernen Physik ein neues Licht auf das uns doch anscheinend so vertraute Phänomen. alexandria lädt daher dazu ein, die Zeit nochmal neu kennenzulernen.

1. Zeit vergeht nicht für alle gleich schnell

Es waren die Gesetze des Elektromagnetismus, die Ende des 19. Jahrhunderts die entscheidenden Hinweise lieferten: Wollte man die Welt aus der Sicht eines dahinflitzenden Elektrons beschreiben oder sich mental auf einen Lichtstrahl setzen, so kamen Physiker:innen zu scheinbar widersinnigen Ergebnissen. Doch was vereinzelt bereits an die Oberfläche trat, fasste erst Albert Einstein zusammen und gebar mit seiner Relativitätstheorie die moderne Physik.

Kernerkenntnis dieser Theorie ist, dass Messungen von Raum und Zeit nicht absolut sind: Menschen in verschiedenen Situationen werden sich nicht einig, wie viel Zeit verflossen ist, wie groß räumliche Abstände sind und welche Ereignisse gleichzeitig stattfinden. Dabei kommt es in Einsteins erster Theorie vor allem auf die Geschwindigkeit an, mit der ein Beobachter sich bezüglich eines ruhenden anderen bewegt. Je höher diese Relativgeschwindigkeit ist, desto langsamer scheint die Uhr des Rasers zu laufen.

Wohlgemerkt würde umgekehrt der Raser den ruhenden Beobachter als bewegt wahrnehmen – und dessen Uhr relativ zu seiner nachgehen sehen. Damit zerschlug Einstein die Vorstellung, wir alle hätten an einer universellen Zeit teil. Im Gegenteil: Zeit ist eine Privatangelegenheit, die sich von Beobachter zu Beobachter dehnt und staucht.

Wie viel Zeit vergeht, hängt vom Bezugssystem ab, das besagt Einsteins Relativitätstheorie

2. Unordnung gibt die Zeitrichtung vor

Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die beiden großen Theorien, auf denen die moderne Physik ruht, haben eine überraschende Gemeinsamkeit: Ihre Gesetze sind symmetrisch in der Zeit. Damit drücken Physiker:innen die Tatsache aus, dass nichts in den Formeln und Gleichungen beider Theorien die Richtung des Zeitpfeils festlegt.

Der Quantenmechanik ist es etwa egal, ob ein Atom Photonen absorbiert oder emittiert, ähnlich wie es bereits der herkömmlichen Mechanik egal war, ob die Tasse vom Tisch fällt und zerschellt oder sich die Scherben spontan zusammensetzen und auf den Tisch zurückschweben. Kurz gesagt, der Physik ist egal, ob der Film der Welt vorwärts oder rückwärts abläuft. Wieso aber gibt es dann einen Zeitpfeil, dem wir alle ausgeliefert sind, den selbst die Relativitätstheorie respektiert, auch wenn laut dieser Theorie die Geschwindigkeit unseres Dahingleitens in der Zeit variiert?

Die Antwort liegt überraschenderweise in der Wärmelehre: Dessen erster Hauptsatz ist allen als Energieerhaltung bekannt. Doch auch hier ist die Zeitumkehr möglich. Erst der zweite Hauptsatz macht mit solchem Firlefanz Schluss. Er besagt, dass die Unordnung, oder Entropie, in der Welt immer ansteigen muss. Mit Unordnung ist hier aber nicht das Chaos unter dem Bett gemeint.

Entropie hängt mit der Anzahl möglicher Anordnungen zusammen, die ein System einnehmen kann. Diese Anzahl ist bei Scherben größer als bei der Tasse, und bei Staub wiederum größer als bei Scherben. Der zweite Hauptsatz besagt also, dass sich das Chaos unter dem Bett ausbreitet und wir alle von selbst zu Staub zerfallen, während sich zerbrochene Tassen nie spontan zusammensetzen.

Dieser Hauptsatz ist aber ein Axiom, er ist nicht zwingend von anderen Gesetzen abgeleitet. Daher spekulieren Physiker:innen, ob die Richtung der Zeit nicht reiner Zufall ist, ja, ob in anderen Regionen des Alls, die von uns abgeschnitten sind, die Zeit genau andersrum vergeht.

3. Zeit scheint für Quantensysteme paradox

Bereits Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fiel dem Physiker John Archibald Wheeler auf, dass die Zeit bei der Interpretation mancher Quanteneffekte Schwierigkeiten macht. Wheeler stellte sich vor, wir könnten ein gigantisches Doppelspaltexperiment durchführen.

Bei seinem Versuch durchwandern einzelne Lichtteilchen als Welle zwei Spalten, um anschließend mit sich selbst zu interagieren. Dadurch entsteht ein charakteristisches Streifenmuster auf einem Schirm, der hinter dem Doppelspalt platziert wird. Misst man jedoch, durch welchen Spalt die Teilchen geflogen sind, zerstört man das Muster. Wie kann das sein? Entscheidet sich Licht, wenn beide Spalten unbeobachtet sind, zu einem Wellenverhalten und andernfalls zum Teilchenverhalten?

In Wheelers Gedankenexperiment werden die Spalten durch zwei Wege ersetzt, die um eine ferne Galaxie führen. Licht, das von hinter der Galaxie kommt, kann die Erde wie beim Doppelspalt auf zwei Weisen erreichen und wir müssten ein Streifenmuster beobachten, wenn wir die Pfade überlappen. Messen wir dagegen den Einfallswinkel der Lichtteilchen, könnten wir bestimmen, welchen Weg die Teilchen um die Galaxie genommen haben.

Nur, wie kann unsere Entscheidung, welche Messung wir durchführen, die Entscheidung des Lichts beeinflussen, entweder als Teilchen nur einen Weg oder als Welle beide Wege um die Galaxie zu nehmen? Immerhin hätte diese Entscheidung vor vielen Milliarden Jahren gefällt werden müssen, als es noch keine Physik, mitunter noch keine Erde gab. Die Auflösung dieses Paradoxes ist nach wie vor umstritten.

4. Zeit scheint manchmal vorwärts und rückwärts gleichzeitig zu gehen

Die Quantenmechanik sorgt nicht nur für Entscheidungen der Gegenwart, die scheinbar die Vergangenheit beeinflussen können, sondern führt die Zeitordnung gänzlich ad absurdum. Nun ist schon seit Einstein bekannt, dass Gleichzeitigkeit relativ ist. Das bedeutet, dass sich verschiedene Beobachter nicht über die Abfolge von Ereignissen einig werden, sofern die beiden Ereignisse nicht kausal verknüpft sind.

Quantensysteme dagegen müssen sich nicht zwischen möglichen Abfolgen entscheiden. Genau wie Licht als Welle zwei Spalten gleichzeitig durchwandern kann, lassen sich Quantensysteme in Überlagerungszustände zweier Zeitordnungen – und Kausalordnung – bringen: Für ein Quantensystem startet zuerst die Feuerwerksrakete und explodiert danach – und umgekehrt. Es erlebt also den Film der Welt in Vorwärtsrichtung und Rückwärtsrichtung simultan.

Richtung in der sich die Zeit bewegt, illustriert durch eine Filmrolle

Was passiert zuerst? Der Start der Rakete, oder ihre Explosion?

Zumindest werden die experimentellen Ergebnisse so interpretiert. Schreibt man über Quantensysteme, ist aber stets große Zurückhaltung angebracht, denn was wir letztlich haben, sind Messwerte. Viele Physiker:innen und Philosoph:innen disqualifizieren Behauptungen, wie die Welt mikroskopisch abläuft, also aus Sicht der Quantensysteme, als unüberprüfbar und damit als unwissenschaftlich. Dennoch regen die Phänomene dazu an, mit neuen Augen auf die Zeit zu blicken.

5. Antimaterie als rückwärts in der Zeit reisend

Als Forscher:innen versuchten, Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu verheiraten, stießen sie auf etwas Seltsames: Die Teilchenphysik, das Ergebnis dieser Hochzeit, kannte zu jedem Partikel einen Zwilling, dessen Zeitentwicklung ein negatives Vorzeichen hatte. Doch das konnte nicht sein, rückwärts fließende Zeit war doch höchstens in verstiegenen Interpretationen verzeihlich.

Der Erste, der in den Gleichungen auf diese Ungeheuerlichkeit stieß, war Paul Dirac, britischer Physiker und einer der Gründerväter der Quantentheorie. Kaum entdeckt, tat Dirac die Zwillingspartikel aber als unphysikalisch und bloßes mathematisches Artefakt ab: In der Realität konnte nichts diesen Antiteilchen genannten Partikeln entsprechen.

Dirac irrte sich: In Bläschenkammern, wo die Bahnen von Teilchen aus Kollisionen zwischen Atomkernen und komischen Strahlen sichtbar gemacht werden, zeigten sich Spuren von Partikeln, die sich wie Elektronen verhielten, deren Bahnen sich im angelegten Magnetfeld aber genau entgegengesetzt krümmten. Diese Anti-Elektronen, oder Positronen, waren die ersten Antiteilchen, doch viele weitere wurden bald entdeckt.

Darüber hinaus gab das Verhalten der Teilchen in der Blasenkammer einen entscheidenden Hinweis, wie das negative Vorzeichen physikalisch zu verstehen ist: Geladene Antiteilchen haben die gegenteilige Ladung zu ihrem herkömmlichen Gegenüber. Elektronen sind negativ geladen, Positronen müssen also positiv geladen sein.

Die rätselhafte Antimaterie ist bei Weitem nicht das letzte Phänomen der modernen Physik, das unseren alltäglichen Zeitbegriff vor Herausforderungen stellt. Doch bereits unsere fünf Fakten verdeutlichen, dass es in der Wissenschaft nicht immer geboten ist, sich auf Hausverstand und Intuition zu verlassen: Will man die Welt wirklich verstehen, muss man sich manchmal von ihr den Kopf verbiegen lassen.

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