menschenrechte auf Papierrolle

Dieser Artikel ist Teil des Themenschwerpunkts "Menschlichkeit", in dem sich die alexandria-Redaktion fragt, was uns menschlich macht und was wir als menschlich wahrnehmen.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) bildet das Fundament unseres Menschenrechtsverständnisses. Die Resolution wurde vor 77 Jahren als Reaktion auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs von der UN-Generalversammlung verabschiedet, ohne rechtliche Bindung, jedoch mit dem Anspruch, als moralischer Leitfaden für alle Staaten der Welt zu gelten. Die Idee, dass alle Menschen gleich sind und daher für alle die gleichen Grundrechte gelten sollen, bildet die Grundlage vieler Verfassungen, internationaler Verträge und Gesetze weltweit.

In unserer Zeit, die von einer Vielzahl an Krisen geprägt ist, stehen universelle Menschenrechte jedoch auf der Probe: Das sich rasch verändernde Klima zerstört Lebensräume und nötigt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen; auch unzählige Kriege zwingen die Zivilbevölkerung zur Flucht und der wachsende globale Einfluss autokratischer Gewalthaber:innen bedroht die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in deren Heimatstaaten.

Hat jede:r ein Recht auf Asyl?

Besonders im rechten politischen Spektrum werden das Menschenrecht auf Asyl und die Gleichstellung von Migrant:innen und Nicht-Staatsbürger:innen gezielt hinterfragt. Die Ablehnung von Schutzsuchenden wird häufig mit Bedrohung für die nationale Sicherheit, wirtschaftlichen Kosten und kulturellen Differenzen begründet: Menschen anderer Kulturkreise hätten schlichtweg andere Werte, die mit den eigenen unvereinbar seien. Das stelle eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Vor allem die westliche Auffassung von Frauenrechten und die Meinungsfreiheit würden Zuziehende aus dem arabischen oder subsaharischen Kulturraum nicht verstehen und respektieren, so das Argument.

Auch im linken politischen Spektrum und in den Sozialwissenschaften hat die Frage nach kulturellen Wertunterschieden bereits Eingang in die Menschenrechtsphilosophie gefunden. Denn unterschiedliche Kulturen haben ja tatsächlich ihre jeweils eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Moral. Können also Menschenrechte, die ihren Ursprung im globalen Westen, in Europa und den USA haben, überhaupt einen adäquaten Schutz für Menschen aus anderen Teilen der Welt bieten? Ist das westliche Konzept des „vernunftgeleiteten Individuums“ in anderen Kulturen geeignet, oder zwingt man diesen damit Ideale auf, die für nicht-westliche Personen fremdartig und unangemessen sein könnten? Und: Wie weit darf im Namen der Menschenrechte in eine Kultur von außen eingegriffen werden, ohne damit die Selbstbestimmtheit der Menschen zu verletzen? Dieses Spannungsfeld zwischen Eingriff in die Kultur im Namen der Menschenrechte einerseits und kultureller Integrität andererseits ist Teil einer umfassenden philosophischen Menschenrechtsdiskussion zwischen Menschenrechtsuniversalist:innen und Kulturrelativist:innen (Müller, 2021).

Faktencheck: Sind Menschenrechte etwas Westliches?

Die Idee, dass alle Menschen gleich sind und daraus gleiche Rechte erwachsen, ist tatsächlich weder neu noch ausschließlich europäisch. Die uns bekannten westlichen Menschenrechtskodifikationen, wie die AEMR oder die EMRK (Europäische Menschenrechtskommission), gründen allesamt in der Annahme einer menschlichen Vernunftbegabung und einer „allen Menschen innewohnenden [Menschen-]Würde“ (Protokoll Nr. 13, EMRK). Diese beiden Konzepte gehen auf die stoizistische Philosophie (um 300 v. Chr.) der griechischen Antike zurück: Die Vernunft, also die Fähigkeit durch Nachdenken und Überlegung zwischen richtig und falsch und Recht und Unrecht zu unterscheiden, sei die Eigenschaft, die uns menschlich mache und uns Würde verleihe. Während das Menschenbild im mittelalterlichen Europa vorwiegend vom Glauben an eine menschliche Gottesebenbildlichkeit geprägt war, ermöglichte der Rückgriff auf diesen antiken Vernunftbegriff im Humanismus der Frühen Neuzeit erstmals ein weltliches Verständnis der Menschenrechte (Haratsch, 2006).

Die Ursprünge moderner Menschenrechte gehen jedoch über den westlichen Vernunftbegriff hinaus und sind über den gesamten Globus und durch die Menschheitsgeschichte verteilt. Schon lange vor dem Stoizismus, vertrat der chinesische Philosoph Konfuzius (ca. 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.) die Auffassung einer Natur des Menschen (Xìng), die ihnen ihre Menschlichkeit (Rén) verleiht und so die Grundlage aller moralischen und gesellschaftlichen Prinzipien bilde. Auch der chinesische Daoismus erachtet alle Menschen als in ihrer persönlichen Freiheit und Entwicklung gleichberechtigt, weil sie alle von Mutter Erde abstammen (Luh, 2013).

Die älteste bekannte Menschenrechtskodifikation, also verschriftlichte Gesetzessammlung, der Welt ist die afrikanische Manden-Charta (auch: Kurukan Fuga), die im frühen 13. Jahrhundert vom malischen König Sundiata Keita erlassen wurde. Sie beinhaltete nicht nur einen Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf Leben, sondern normierte auch Frauen-, Eigentums- und Arbeitsrechte. Heute ist sie UNESCO Weltkulturerbe (Hrzán, 2013; Kourouma, 2017).

Dies sind nur einige von vielen historischen Beispielen für Menschenrechtsideen. Die meisten blieben philosophischer oder religiöser Natur und bildeten keinen klagbaren Anspruch für die Menschen. Es zeigt jedoch, dass der Menschenrechtsuniversalismus, die Idee einer allgemeinen Menschlichkeit und daraus erwachsenden Rechten definitiv keine westliche ist.

Die Debatte um allgemeingültige Menschenrechte

Die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs brachen in grausamster Weise mit dem westlich-humanistischen Grundsatz einer universalen Menschenwürde. So entstand in der Nachkriegszeit die Idee einer vertraglichen Festlegung gewisser Grundrechte, zu denen sich Nationalstaaten bekennen sollten. Als sich dann die sogenannte Pax Americana, ein Friede nach US-amerikanischen Vorstellungen und die damit einhergehende Vorherrschaft der USA in der Weltpolitik und am Weltmarkt, herausbildete, spielten die Vereinigten Staaten eine Schlüsselrolle bei der Gründung der UNO und der Definition derer Menschenrechtscharta, die eine unantastbare Menschenwürde festsetzte. Die AEMR war damit die erste universelle Menschenrechtskodifikation, also die erste Menschenrechtsgesetzsammlung, die für alle Menschen der Welt, über nationale Grenzen hinaus gleichermaßen gelten sollte (Brand, 2010).

Kulturrelativist:innen und Kritiker:innen der Charta, wie der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty, wiesen allerdings darauf hin, dass alle Begründungen einer gemeinsamen Menschlichkeit in philosophischen oder religiösen Prinzipien wurzeln – wie beispielsweise der Vernunft oder der Gottesebenbildlichkeit –und somit kulturabhängig sind. Durch die Pax Americana habe die UN-Charta ein westlich-philosophisches Menschenverständnis in den Status der Allgemeingültigkeit erhoben und somit anderen Kulturkreisen die eigenen Werte aufgezwungen (Menke und Pollmann, 2007).

Die Menschenrechte seien also nur Ausdruck einer fortgeführten amerikanisch-europäischen Kolonialherrschaft, bei der mit Rückgriff auf vermeintlich allgemeingültige Werte die kultureigene Moral und verbundene Praktiken der anderen zurückgedrängt würden – falls notwendig sogar mittels Gewalt. In vielen Fällen sei die AEMR bevormundend und ihre westlichen Werte nicht mit denen anderen Kulturen vereinbar. So würde man mit dem Aufzwingen westlicher Moral die Integrität anderer, vom Westen abweichender Kulturen verletzen (Deinhammer, 2010; Menke und Pollmann, 2007; Müller, 2021).

pax americana meme flugzeug

Dieses und ähnliche virale Memes kritisieren das aufzwängen von Demokratie und Freiheit durch Gewalt als 'Scheinheiligkeit' der USA.

Demgegenüber führen Universalist:innen die Vergleichbarkeit aller Menschen an, um einen Mindeststandard an globalen Menschenrechten zu rechtfertigen und zeigen auf, dass hinter dem Vorwand der kulturellen Integrität das Interesse autoritärer Regime stehen kann. Das kulturrelativistische Argument der kulturellen Unvereinbarkeit soll zwar nicht-westliche Nationalstaaten vor Eingriffen und Zwängen bewahren und ihre Selbstbestimmung fördern, es spielt jedoch auch Autokrat:innen in die Hände. Die Unterdrückung von Frauen und ihre Verbannung aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan rechtfertigen die Taliban beispielsweise mit den Werten der islamischen Kultur, die mit dem Bild der ‚modernen westlichen Frau‘ nicht vereinbar seien. Auch im Westen selbst stützt die Idee kultureller Unvereinbarkeit Autoritäre im rechten Spektrum, wie Alice Weidel (AfD) oder Herbert Kickl (FPÖ), bei der Rechtfertigung ihrer Hetze gegen Nicht-Staatsbürger:innen

Eine mögliche Lösung: der pragmatische Menschenrechtsuniversalismus

Um kulturelle Selbstbestimmtheit zu wahren und trotzdem ein Mindestmaß an Schutz für alle Menschen zu gewährleisten, schlägt der Rechtsphilosoph und Theologe Robert Deinhammer den Zugang des pragmatischen Menschenrechtsuniversalismus vor (2010).

Für dessen Verständnis muss zuerst festgehalten werden, dass Kulturen im Gegensatz zur kulturrelativistischen Auffassung, keine streng in sich geschlossenen und voneinander scharf abgrenzbaren Pakete oder Einheiten sind. Solch eine Paketansicht (engl. package picture) übersieht, dass sich jede Kultur aus den vielen unterschiedlichen Menschen, die sie ausüben, zusammensetzt. Sie verschwimmt mit anderen kulturellen Strömungen, verändert sich über die Zeit und wird von allen angehörigen Individuen unterschiedlich praktiziert. Daher gebe es auch, entgegen der Auffassung mancher Politiker:innen, keine klar-definierbare ‚westliche Kultur‘, die ‚der arabischen‘ oder anderen Kulturen gegenüberstehen (Deinhammer, 2010; Narayan, 2000).

Auch das Argument autoritärer Herrscher:innen, nachdem die gängigen Menschenrechte ihrer Kultur widersprächen, lässt sich so widerlegen. Während die Taliban in Afghanistan eine ‚islamisch-traditionelle‘ Frauenrolle verteidigen, klagen die Betroffenen selbst jedoch über die Qualen der Herrschaft. Sie bekämpfen die Unterdrückung und hoffen auf einen Wandel. Das Argument hält nicht stand, denn eine Kultur kann nicht gegen einen Teil ihrer Angehörigen definiert werden, schließlich sind es ja sie selbst, die diese Kultur ausmachen und erzeugen. (Forst, 2007).

frau taliban

Seit der Machtübernahme der Taliban haben Frauen in Afghanistan so gut wie keine Rechte. Sie dürfen ihr Gesicht nicht zeigen, nicht zur Schule gehen und nicht alleine das Haus verlassen. Die Taliban rechtfertigen das mit einer gemeinsamen islamischen Kultur.

Das Argument für Respekt der Kultur von außen, setzt also Akzeptanz der Kultur von innen voraus. Der pragmatische Menschenrechtsuniversalismus steht deshalb für einen kulturinternen Konsens, der im Kern auf Selbstbestimmung und persönlicher Integrität beruht. Die Mitglieder einer Gemeinschaft müssen selbstbestimmt die gemeinsamen Werte beschließen, die ihre Kultur ausmachen. Schädigungen der individuellen Integrität sind nur gerechtfertigt, um damit größere Schäden der Integrität aller abzuwenden: Wird ein Massenmörder ins Gefängnis gesperrt und ihm damit seine Freiheit genommen, so ist das mit dem Schutz der körperlichen Integrität und damit der Selbstbestimmtheit aller anderen Menschen gerechtfertigt (Deinhammer, 2010; Knauer, 2003).

Dieser pragmatische Menschenrechtsuniversalismus kann je nach Kultur anders ausgelebt werden, gilt aber für alle Menschen gleichermaßen. So orientiert sich zum Beispiel das Recht in den USA weitgehend an dem Wert der individuellen Freiheit und dem Streben, sich eigenständig ohne Fremdbestimmung Wohlstand zu erarbeiten - der sogenannte American Dream. In Ecuador und Bolivien hingegen praktizieren die Menschen überwiegend ein Leben in Nachhaltigkeit im Einklang mit Natur und Gemeinschaft (Vivir Bien). Beide kulturellen Vorstellungen eines würdigen Lebens werden weitgehend durch die Angehörigen der Kulturen gelebt und vertreten.

Selbstbestimmung ist kulturunabhängig

Selbst wenn ihre Formulierungen vielleicht westlicher Natur sind, auch die uns bekannten kodifizierten Menschenrechte können mit dem pragmatischen Menschenrechtsuniversalismus gerechtfertigt werden: Der Schutz vor Sklaverei verhindert beispielsweise einen gravierenden Eingriff in die Selbstbestimmung. Die Schädigung der Integrität einer versklavten Person kann durch den Zweck, das Anhäufen von Wohlstand durch den Ausbeuter, nicht gerechtfertigt werden.

Ebenso ist das Abschieben einer schutzsuchenden Person in ein Land, wo deren persönliche Integrität und Selbstbestimmung gefährdet ist, zu beurteilen: In den meisten Fällen wird der Schaden für eine aufnehmende Gesellschaft kleiner sein als der Schaden für die Integrität des abgeschobenen Schutzsuchenden.

Ob Menschenwürde, Rén oder Kinder der Mutter Erde – uns alle vereint neben unserer biologischen Zusammensetzung die „Menschlichkeit“, eine Eigenschaft, die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich interpretiert wird. Sie macht uns alle zu selbstbestimmten Wesen, deren Integrität respektiert werden muss.

Brand, U. (2010). Internationale Politik. In R. Sieder & E. Langthaler (Hrsg.),
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    immatériel de l'humanité ou un texte juridique qui devrait inspirer? https://hal.archives-
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